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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Volkscharakter und Individuum

dürfte auch er seine Wandlungen und Schwankungen durchgemacht haben und
doch mußte er als ein relativ dauernder Kern inmitten alles Wechsels beharren.
Der französische Nationalcharakter zum Beispiel hat viele Wandlungen durch¬
gemacht; dennoch weisen die in Frankreich wurzelnde "höfische" Kultur des
Mittelalters, die Gesellschaft des Versailles der Bourbonen, das mondäne Leben
des modernen Paris gewisse gemeinsame Kennzeichen aus, die sie wesentlich etwa
von englischen oder italienischen Erscheinungen gleicher Art unterscheiden. Diese
Gleichheit führen wir auf einen gemeinsamen Volkscharakter zurück, und aus
eben dieser, wenn auch nur relativen Gleichheit seiner Äußerungen läßt sich
immerhin ein gewisses Recht ableiten, von einem Volkscharakter zu sprechen.

Ich behaupte also, es gibt relativ konstante Volkscharaktere, das heißt
nationale Besonderheiten, die den Völkern als Ganzen eignen, die aber keines¬
wegs in jedem Individuum wiederzukehren brauchen und' auch uicht durch eine
einfache Durchschnittsrechnung aus individuellen Charakteristiken gewonnen
werden können.




Ich verweile zunächst bei letzterem Punkte. Man darf, wenn man eine
eingehende Charakteristik (die moderne Psychologie sagt: ein Psychogramm) eines
ganzen Volkes aufstellt, nicht erwarten, damit etwa etwas zu gewinnen, das sich
den naturwissenschaftlichen "Klassenbegriffen" vergleichen ließe. Niemals wird
man die Seele "d e s Franzosen" oder "d e s Deutschen" so definieren können, wie
man etwa in der Zoologie den Begriff "des Hundes" definieren kann. In diesem
Falle lassen sich bestimmte Tatsachen, etwa hinsichtlich des Gebisses, der Fu߬
bildung, der Nahrung festlegen, die allen "Hunden" mit verschwindenden Aus¬
nahmen zukommen. Man kann nach solchen Definitionen jedes Individuum mit
fast absoluter Sicherheit als "Hund" oder "NichtHund" bestimmen. Derartiges
ist bei Völkern niemals möglich. Es gibt in jedem Volkskreise zahllose Indi¬
viduen, die man nach ihrer physischen wie nach ihrer psychischen Besonderheit ge¬
trost für Angehörige ganz fremder Raffen halten könnte.

Daneben aber gibt es nun ohne Zweifel Tatsachen, die unbestreitbar
typisch national sind, selbst wenn sie keineswegs in jedem Individuum nachzu¬
weisen sind. Man hat zum Beispiel und fraglos mit Recht gesagt, daß Goethes
"Faust" eine typisch nationale Schöpfung sei, daß im Charakter dieser Gestalt
etwas Wesentliches des deutschen Volkscharakters festgehalten wäre. Man hat
dargelegt, daß dasjenige, was man als "faustische" Stimmung, als "faustisches
Streben und Ringen" bezeichnet, in der großen Dichtung der Deutschen aller
Zeiten wiederkehrt, von Wolframs Parzival an über Grimmeishausens Simpli-
zissimus hinweg bis zu Hauptmanns Glockengießer Heinrich und Dehmels Lyrik
hin. Man kann dies faustische Wesen in aller großen deutschen Kunst wieder¬
finden, in Dürers Melancholie, in Bachs Matthäus-Passion, in Beethovens
Neunter, in Klingers Radierungen. Kein Zweifel, in "Faust" offenbaren sich
typische Züge des deutschen Volksgeistes. Aber darum ist man keineswegs im¬
stande, in jedem deutschen Krämer oder Fabrikarbeiter dieses faustische Wesen zu
entdecken. Möglich, daß man mit bisher noch nicht erfundenen, imaginären
"psychologischen Mikroskopen" in jedem deutschen Kinde den Keim zum Faust
nachweisen könnte: derartiges bleibt phantastische Konstruktion. Mit unseren
psychologischen Methoden oder mit allen Mitteln unserer praktischen Menschen¬
kenntnis ist ein solches typisch deutsches, allen Individuen gemeinsames Kenn¬
zeichen nicht zu ermitteln. Es bleibt also dabei, daß es einen Volksgeist, einen
Volkscharakter geben muß, der eine Wirklichkeit ist auch jenseits aller individuellen
Abweichungen.

Wir haben hier von einer künstlerischen Ausprägung des von uns gesuchten
Volksgeistes gesprochen. Auch auf anderen Gebieten besteht ein solcher Volks¬
geist, der nicht identisch ist mit jeder der ihn tragenden Volksindividualitäten
oder auch einem Durchschnitt dieser. Jeder, der England und die Engländer
kennt, wird die Beobachtung gemacht haben, daß der einzelne Engländer oder


Volkscharakter und Individuum

dürfte auch er seine Wandlungen und Schwankungen durchgemacht haben und
doch mußte er als ein relativ dauernder Kern inmitten alles Wechsels beharren.
Der französische Nationalcharakter zum Beispiel hat viele Wandlungen durch¬
gemacht; dennoch weisen die in Frankreich wurzelnde „höfische" Kultur des
Mittelalters, die Gesellschaft des Versailles der Bourbonen, das mondäne Leben
des modernen Paris gewisse gemeinsame Kennzeichen aus, die sie wesentlich etwa
von englischen oder italienischen Erscheinungen gleicher Art unterscheiden. Diese
Gleichheit führen wir auf einen gemeinsamen Volkscharakter zurück, und aus
eben dieser, wenn auch nur relativen Gleichheit seiner Äußerungen läßt sich
immerhin ein gewisses Recht ableiten, von einem Volkscharakter zu sprechen.

Ich behaupte also, es gibt relativ konstante Volkscharaktere, das heißt
nationale Besonderheiten, die den Völkern als Ganzen eignen, die aber keines¬
wegs in jedem Individuum wiederzukehren brauchen und' auch uicht durch eine
einfache Durchschnittsrechnung aus individuellen Charakteristiken gewonnen
werden können.




Ich verweile zunächst bei letzterem Punkte. Man darf, wenn man eine
eingehende Charakteristik (die moderne Psychologie sagt: ein Psychogramm) eines
ganzen Volkes aufstellt, nicht erwarten, damit etwa etwas zu gewinnen, das sich
den naturwissenschaftlichen „Klassenbegriffen" vergleichen ließe. Niemals wird
man die Seele „d e s Franzosen" oder „d e s Deutschen" so definieren können, wie
man etwa in der Zoologie den Begriff „des Hundes" definieren kann. In diesem
Falle lassen sich bestimmte Tatsachen, etwa hinsichtlich des Gebisses, der Fu߬
bildung, der Nahrung festlegen, die allen „Hunden" mit verschwindenden Aus¬
nahmen zukommen. Man kann nach solchen Definitionen jedes Individuum mit
fast absoluter Sicherheit als „Hund" oder „NichtHund" bestimmen. Derartiges
ist bei Völkern niemals möglich. Es gibt in jedem Volkskreise zahllose Indi¬
viduen, die man nach ihrer physischen wie nach ihrer psychischen Besonderheit ge¬
trost für Angehörige ganz fremder Raffen halten könnte.

Daneben aber gibt es nun ohne Zweifel Tatsachen, die unbestreitbar
typisch national sind, selbst wenn sie keineswegs in jedem Individuum nachzu¬
weisen sind. Man hat zum Beispiel und fraglos mit Recht gesagt, daß Goethes
„Faust" eine typisch nationale Schöpfung sei, daß im Charakter dieser Gestalt
etwas Wesentliches des deutschen Volkscharakters festgehalten wäre. Man hat
dargelegt, daß dasjenige, was man als „faustische" Stimmung, als „faustisches
Streben und Ringen" bezeichnet, in der großen Dichtung der Deutschen aller
Zeiten wiederkehrt, von Wolframs Parzival an über Grimmeishausens Simpli-
zissimus hinweg bis zu Hauptmanns Glockengießer Heinrich und Dehmels Lyrik
hin. Man kann dies faustische Wesen in aller großen deutschen Kunst wieder¬
finden, in Dürers Melancholie, in Bachs Matthäus-Passion, in Beethovens
Neunter, in Klingers Radierungen. Kein Zweifel, in „Faust" offenbaren sich
typische Züge des deutschen Volksgeistes. Aber darum ist man keineswegs im¬
stande, in jedem deutschen Krämer oder Fabrikarbeiter dieses faustische Wesen zu
entdecken. Möglich, daß man mit bisher noch nicht erfundenen, imaginären
„psychologischen Mikroskopen" in jedem deutschen Kinde den Keim zum Faust
nachweisen könnte: derartiges bleibt phantastische Konstruktion. Mit unseren
psychologischen Methoden oder mit allen Mitteln unserer praktischen Menschen¬
kenntnis ist ein solches typisch deutsches, allen Individuen gemeinsames Kenn¬
zeichen nicht zu ermitteln. Es bleibt also dabei, daß es einen Volksgeist, einen
Volkscharakter geben muß, der eine Wirklichkeit ist auch jenseits aller individuellen
Abweichungen.

Wir haben hier von einer künstlerischen Ausprägung des von uns gesuchten
Volksgeistes gesprochen. Auch auf anderen Gebieten besteht ein solcher Volks¬
geist, der nicht identisch ist mit jeder der ihn tragenden Volksindividualitäten
oder auch einem Durchschnitt dieser. Jeder, der England und die Engländer
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[0123] Volkscharakter und Individuum dürfte auch er seine Wandlungen und Schwankungen durchgemacht haben und doch mußte er als ein relativ dauernder Kern inmitten alles Wechsels beharren. Der französische Nationalcharakter zum Beispiel hat viele Wandlungen durch¬ gemacht; dennoch weisen die in Frankreich wurzelnde „höfische" Kultur des Mittelalters, die Gesellschaft des Versailles der Bourbonen, das mondäne Leben des modernen Paris gewisse gemeinsame Kennzeichen aus, die sie wesentlich etwa von englischen oder italienischen Erscheinungen gleicher Art unterscheiden. Diese Gleichheit führen wir auf einen gemeinsamen Volkscharakter zurück, und aus eben dieser, wenn auch nur relativen Gleichheit seiner Äußerungen läßt sich immerhin ein gewisses Recht ableiten, von einem Volkscharakter zu sprechen. Ich behaupte also, es gibt relativ konstante Volkscharaktere, das heißt nationale Besonderheiten, die den Völkern als Ganzen eignen, die aber keines¬ wegs in jedem Individuum wiederzukehren brauchen und' auch uicht durch eine einfache Durchschnittsrechnung aus individuellen Charakteristiken gewonnen werden können. Ich verweile zunächst bei letzterem Punkte. Man darf, wenn man eine eingehende Charakteristik (die moderne Psychologie sagt: ein Psychogramm) eines ganzen Volkes aufstellt, nicht erwarten, damit etwa etwas zu gewinnen, das sich den naturwissenschaftlichen „Klassenbegriffen" vergleichen ließe. Niemals wird man die Seele „d e s Franzosen" oder „d e s Deutschen" so definieren können, wie man etwa in der Zoologie den Begriff „des Hundes" definieren kann. In diesem Falle lassen sich bestimmte Tatsachen, etwa hinsichtlich des Gebisses, der Fu߬ bildung, der Nahrung festlegen, die allen „Hunden" mit verschwindenden Aus¬ nahmen zukommen. Man kann nach solchen Definitionen jedes Individuum mit fast absoluter Sicherheit als „Hund" oder „NichtHund" bestimmen. Derartiges ist bei Völkern niemals möglich. Es gibt in jedem Volkskreise zahllose Indi¬ viduen, die man nach ihrer physischen wie nach ihrer psychischen Besonderheit ge¬ trost für Angehörige ganz fremder Raffen halten könnte. Daneben aber gibt es nun ohne Zweifel Tatsachen, die unbestreitbar typisch national sind, selbst wenn sie keineswegs in jedem Individuum nachzu¬ weisen sind. Man hat zum Beispiel und fraglos mit Recht gesagt, daß Goethes „Faust" eine typisch nationale Schöpfung sei, daß im Charakter dieser Gestalt etwas Wesentliches des deutschen Volkscharakters festgehalten wäre. Man hat dargelegt, daß dasjenige, was man als „faustische" Stimmung, als „faustisches Streben und Ringen" bezeichnet, in der großen Dichtung der Deutschen aller Zeiten wiederkehrt, von Wolframs Parzival an über Grimmeishausens Simpli- zissimus hinweg bis zu Hauptmanns Glockengießer Heinrich und Dehmels Lyrik hin. Man kann dies faustische Wesen in aller großen deutschen Kunst wieder¬ finden, in Dürers Melancholie, in Bachs Matthäus-Passion, in Beethovens Neunter, in Klingers Radierungen. Kein Zweifel, in „Faust" offenbaren sich typische Züge des deutschen Volksgeistes. Aber darum ist man keineswegs im¬ stande, in jedem deutschen Krämer oder Fabrikarbeiter dieses faustische Wesen zu entdecken. Möglich, daß man mit bisher noch nicht erfundenen, imaginären „psychologischen Mikroskopen" in jedem deutschen Kinde den Keim zum Faust nachweisen könnte: derartiges bleibt phantastische Konstruktion. Mit unseren psychologischen Methoden oder mit allen Mitteln unserer praktischen Menschen¬ kenntnis ist ein solches typisch deutsches, allen Individuen gemeinsames Kenn¬ zeichen nicht zu ermitteln. Es bleibt also dabei, daß es einen Volksgeist, einen Volkscharakter geben muß, der eine Wirklichkeit ist auch jenseits aller individuellen Abweichungen. Wir haben hier von einer künstlerischen Ausprägung des von uns gesuchten Volksgeistes gesprochen. Auch auf anderen Gebieten besteht ein solcher Volks¬ geist, der nicht identisch ist mit jeder der ihn tragenden Volksindividualitäten oder auch einem Durchschnitt dieser. Jeder, der England und die Engländer kennt, wird die Beobachtung gemacht haben, daß der einzelne Engländer oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/123>, abgerufen am 24.11.2024.