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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Zwangswille trat. In der wirtschaftlichen Praxis entsprechen diesen beiden
theoretischen Entwicklungsstufen des Kapitals: die Ära des Freihandels mit dem
Grundsatz des "freien Spiels der Kräfte" und die des Schutzzolls, mit dessen
Hilfe erst jene angedeuteten Zusammenschlüsse in Form des sogenannten "Finanz¬
kapitals" und die Bildung von Kartellen in ihrer "geschichtlichen Bedeutung" sich
vollziehen konnte. Als Heimatländer dieser Wirtschaftsformen stellt Lensch das
England bis zum Weltkriege und das Deutschland seit der Rückkehr zum Schutzzoll
(1879) einander gegenüber.

Die höhere Form der zweiten kapitalistischen Entwicklungsstufe liegt nun
nach Lensch weniger in dem, was sie bisher schon darstellt, als was sie künftig
darstellen soll. Denn in der monopolistischen Cliquenherrschaft der Kartelle mit
ihrer rücksichtslosen Vergewaltigung des Kleinkapitalisten und Außenstehenden, mit
ihren Sonderprofiten der Unternehmer auf Kosten der Allgemeinheit kann er unmöglich
einen Fortschritt an sich erblicken. Soviele Vorzüge man auch für diese Wirt¬
schaftsform ins Treffen führen kann, deren Entstehung an sich ja nichts Un¬
normales darstellt, die Schattenseiten, um deren Willen auch das neue Aktions¬
programm des Zentrums gegen die monopolistischen Syndikate Front macht,
sind doch so deutlich erkennbar, daß schon noch etwas anderes hinzukommen muß,
um die Institution dem Sozialisten schmackhaft zu machen. Und dieses andere
ist die Tatsache, daß jene "unter dem Finanzkapital herangereifte Organisation
der Arbeit. . . vollkommen in der Linie des geschichtlichen Fortschritts zum
Sozialismus hin" gelegen ist, daß sie "die bewußte Vergesellschaftung aller in der
heutigen Gesellschaft vorhandenen wirtschaftlichen Kräfte" bedeutet. Noch verblieb
zwar die "Herrschaft über die gesellschaftliche Arbeit in den Händen einer Oligarchie",
der "Dreihundert Männer" Rathenaus. Um so mehr gilt es, "die gesellschaftliche
Kontrolle über die nationale Arbeit, die hier erreicht war, von ihrer widerspruchs¬
vollen Hülle zu befreien", was nur "durch Eroberung der Staatsgewalt" möglich
sei. M. a. W.: eine nochmalige Entpuppung ist erforderlich, eine dritte Stufe
des Kapitalismus gilt es zu erreichen, auf der die bereits durchgeführte Organi¬
sierung statt ihres noch unvollkommenen plutokratischen Charakters zu möglichster
sozialer Vollkommenheit gesteigert erscheint. Die Lösung des Problems liegt wie
gesagt in dem Machtverhältnis der sozialen Klassen im Staate. Hier aber wittertLensch
Morgenluft für die Ziele seiner Partei. Denn -- und damit gelangen wir zu einer
politischen Erscheinung von höchster Wichtigkeit -- dieser Sozialist beurteilt den
preußisch-deutschen Staat, dessen "obrigkeitliche" Schwächen er nicht entschuldigt,
trotzdem keineswegs nach den Maßstäben der landläufigen liberalen Parteischablone.
Ist doch der Individualismus der liberal-konstitutionellen Doktrin, des Manchester-
tums, des anarchischen Kapitalismus der Todfeind des Sozialismus auf dem
Gebiete der Verfassung und Verwaltung ebenso wie auf dem wirtschaftlichen, wenn
man die Dinge konsequent zu Ende denkt. Es besteht, was bisher wenig bemerkt
wurde, ein fundamentaler Gegensatz zwischen unseren Fortschrittlern und be¬
stimmten, geistig besonders hochstehenden sozialistischen Kreisen in der Frage des
"Obrigkeitsstaates" und der parlamentarischen Regierungsweise. Auch bet Lensch
finden wir eine unzweideutige Ablehnung der "Ideen von 1789", der einer "in¬
dividualistischen Weltauffassung" entstammenden liberalen Dogmen von Freiheit
und Bürgerrechten, Konstitution und Parlamentarismus. Ihr habt einen anderen
Geist als wir Sozialisten, so klingt es zwischen den Zeilen, und in betonten Ab¬
stände von dem Nörgelgeiste der Hugo Preuß und Genossen über ihr reaktionäres
Vaterland wird festgestellt, daß in diesem "reaktioriären Deutschland die arbeitenden
Klassen eine viel solidere Machtstellung im sozialen Leben sich haben erobern,
können, als in England oder gar in Frankreich". Wie weit die Sozialisierung
unseres Wirtschaftslebens nach dem Kriege gehen wird, ob der Staatssozialismus
in irgendeiner Form die Wirtschaftsverfassung der Zukunft ist, wie Lensch zuver-
sichtlich behauptet, bleibe dahingestellt. Seinen vor Jahresfrist niedergesehriebenen
Satz, daß die Erkenntnis obiger Wahrheit "mit jedem Monat, den der Krieg
länger dauert, tiefer in das Bewußtsein der weitesten Volkskreise gedrungen sei",


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Zwangswille trat. In der wirtschaftlichen Praxis entsprechen diesen beiden
theoretischen Entwicklungsstufen des Kapitals: die Ära des Freihandels mit dem
Grundsatz des „freien Spiels der Kräfte" und die des Schutzzolls, mit dessen
Hilfe erst jene angedeuteten Zusammenschlüsse in Form des sogenannten „Finanz¬
kapitals" und die Bildung von Kartellen in ihrer „geschichtlichen Bedeutung" sich
vollziehen konnte. Als Heimatländer dieser Wirtschaftsformen stellt Lensch das
England bis zum Weltkriege und das Deutschland seit der Rückkehr zum Schutzzoll
(1879) einander gegenüber.

Die höhere Form der zweiten kapitalistischen Entwicklungsstufe liegt nun
nach Lensch weniger in dem, was sie bisher schon darstellt, als was sie künftig
darstellen soll. Denn in der monopolistischen Cliquenherrschaft der Kartelle mit
ihrer rücksichtslosen Vergewaltigung des Kleinkapitalisten und Außenstehenden, mit
ihren Sonderprofiten der Unternehmer auf Kosten der Allgemeinheit kann er unmöglich
einen Fortschritt an sich erblicken. Soviele Vorzüge man auch für diese Wirt¬
schaftsform ins Treffen führen kann, deren Entstehung an sich ja nichts Un¬
normales darstellt, die Schattenseiten, um deren Willen auch das neue Aktions¬
programm des Zentrums gegen die monopolistischen Syndikate Front macht,
sind doch so deutlich erkennbar, daß schon noch etwas anderes hinzukommen muß,
um die Institution dem Sozialisten schmackhaft zu machen. Und dieses andere
ist die Tatsache, daß jene „unter dem Finanzkapital herangereifte Organisation
der Arbeit. . . vollkommen in der Linie des geschichtlichen Fortschritts zum
Sozialismus hin" gelegen ist, daß sie „die bewußte Vergesellschaftung aller in der
heutigen Gesellschaft vorhandenen wirtschaftlichen Kräfte" bedeutet. Noch verblieb
zwar die „Herrschaft über die gesellschaftliche Arbeit in den Händen einer Oligarchie",
der „Dreihundert Männer" Rathenaus. Um so mehr gilt es, „die gesellschaftliche
Kontrolle über die nationale Arbeit, die hier erreicht war, von ihrer widerspruchs¬
vollen Hülle zu befreien", was nur „durch Eroberung der Staatsgewalt" möglich
sei. M. a. W.: eine nochmalige Entpuppung ist erforderlich, eine dritte Stufe
des Kapitalismus gilt es zu erreichen, auf der die bereits durchgeführte Organi¬
sierung statt ihres noch unvollkommenen plutokratischen Charakters zu möglichster
sozialer Vollkommenheit gesteigert erscheint. Die Lösung des Problems liegt wie
gesagt in dem Machtverhältnis der sozialen Klassen im Staate. Hier aber wittertLensch
Morgenluft für die Ziele seiner Partei. Denn — und damit gelangen wir zu einer
politischen Erscheinung von höchster Wichtigkeit — dieser Sozialist beurteilt den
preußisch-deutschen Staat, dessen „obrigkeitliche" Schwächen er nicht entschuldigt,
trotzdem keineswegs nach den Maßstäben der landläufigen liberalen Parteischablone.
Ist doch der Individualismus der liberal-konstitutionellen Doktrin, des Manchester-
tums, des anarchischen Kapitalismus der Todfeind des Sozialismus auf dem
Gebiete der Verfassung und Verwaltung ebenso wie auf dem wirtschaftlichen, wenn
man die Dinge konsequent zu Ende denkt. Es besteht, was bisher wenig bemerkt
wurde, ein fundamentaler Gegensatz zwischen unseren Fortschrittlern und be¬
stimmten, geistig besonders hochstehenden sozialistischen Kreisen in der Frage des
„Obrigkeitsstaates" und der parlamentarischen Regierungsweise. Auch bet Lensch
finden wir eine unzweideutige Ablehnung der „Ideen von 1789", der einer „in¬
dividualistischen Weltauffassung" entstammenden liberalen Dogmen von Freiheit
und Bürgerrechten, Konstitution und Parlamentarismus. Ihr habt einen anderen
Geist als wir Sozialisten, so klingt es zwischen den Zeilen, und in betonten Ab¬
stände von dem Nörgelgeiste der Hugo Preuß und Genossen über ihr reaktionäres
Vaterland wird festgestellt, daß in diesem „reaktioriären Deutschland die arbeitenden
Klassen eine viel solidere Machtstellung im sozialen Leben sich haben erobern,
können, als in England oder gar in Frankreich". Wie weit die Sozialisierung
unseres Wirtschaftslebens nach dem Kriege gehen wird, ob der Staatssozialismus
in irgendeiner Form die Wirtschaftsverfassung der Zukunft ist, wie Lensch zuver-
sichtlich behauptet, bleibe dahingestellt. Seinen vor Jahresfrist niedergesehriebenen
Satz, daß die Erkenntnis obiger Wahrheit „mit jedem Monat, den der Krieg
länger dauert, tiefer in das Bewußtsein der weitesten Volkskreise gedrungen sei",


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[0111] Neue Bücher Zwangswille trat. In der wirtschaftlichen Praxis entsprechen diesen beiden theoretischen Entwicklungsstufen des Kapitals: die Ära des Freihandels mit dem Grundsatz des „freien Spiels der Kräfte" und die des Schutzzolls, mit dessen Hilfe erst jene angedeuteten Zusammenschlüsse in Form des sogenannten „Finanz¬ kapitals" und die Bildung von Kartellen in ihrer „geschichtlichen Bedeutung" sich vollziehen konnte. Als Heimatländer dieser Wirtschaftsformen stellt Lensch das England bis zum Weltkriege und das Deutschland seit der Rückkehr zum Schutzzoll (1879) einander gegenüber. Die höhere Form der zweiten kapitalistischen Entwicklungsstufe liegt nun nach Lensch weniger in dem, was sie bisher schon darstellt, als was sie künftig darstellen soll. Denn in der monopolistischen Cliquenherrschaft der Kartelle mit ihrer rücksichtslosen Vergewaltigung des Kleinkapitalisten und Außenstehenden, mit ihren Sonderprofiten der Unternehmer auf Kosten der Allgemeinheit kann er unmöglich einen Fortschritt an sich erblicken. Soviele Vorzüge man auch für diese Wirt¬ schaftsform ins Treffen führen kann, deren Entstehung an sich ja nichts Un¬ normales darstellt, die Schattenseiten, um deren Willen auch das neue Aktions¬ programm des Zentrums gegen die monopolistischen Syndikate Front macht, sind doch so deutlich erkennbar, daß schon noch etwas anderes hinzukommen muß, um die Institution dem Sozialisten schmackhaft zu machen. Und dieses andere ist die Tatsache, daß jene „unter dem Finanzkapital herangereifte Organisation der Arbeit. . . vollkommen in der Linie des geschichtlichen Fortschritts zum Sozialismus hin" gelegen ist, daß sie „die bewußte Vergesellschaftung aller in der heutigen Gesellschaft vorhandenen wirtschaftlichen Kräfte" bedeutet. Noch verblieb zwar die „Herrschaft über die gesellschaftliche Arbeit in den Händen einer Oligarchie", der „Dreihundert Männer" Rathenaus. Um so mehr gilt es, „die gesellschaftliche Kontrolle über die nationale Arbeit, die hier erreicht war, von ihrer widerspruchs¬ vollen Hülle zu befreien", was nur „durch Eroberung der Staatsgewalt" möglich sei. M. a. W.: eine nochmalige Entpuppung ist erforderlich, eine dritte Stufe des Kapitalismus gilt es zu erreichen, auf der die bereits durchgeführte Organi¬ sierung statt ihres noch unvollkommenen plutokratischen Charakters zu möglichster sozialer Vollkommenheit gesteigert erscheint. Die Lösung des Problems liegt wie gesagt in dem Machtverhältnis der sozialen Klassen im Staate. Hier aber wittertLensch Morgenluft für die Ziele seiner Partei. Denn — und damit gelangen wir zu einer politischen Erscheinung von höchster Wichtigkeit — dieser Sozialist beurteilt den preußisch-deutschen Staat, dessen „obrigkeitliche" Schwächen er nicht entschuldigt, trotzdem keineswegs nach den Maßstäben der landläufigen liberalen Parteischablone. Ist doch der Individualismus der liberal-konstitutionellen Doktrin, des Manchester- tums, des anarchischen Kapitalismus der Todfeind des Sozialismus auf dem Gebiete der Verfassung und Verwaltung ebenso wie auf dem wirtschaftlichen, wenn man die Dinge konsequent zu Ende denkt. Es besteht, was bisher wenig bemerkt wurde, ein fundamentaler Gegensatz zwischen unseren Fortschrittlern und be¬ stimmten, geistig besonders hochstehenden sozialistischen Kreisen in der Frage des „Obrigkeitsstaates" und der parlamentarischen Regierungsweise. Auch bet Lensch finden wir eine unzweideutige Ablehnung der „Ideen von 1789", der einer „in¬ dividualistischen Weltauffassung" entstammenden liberalen Dogmen von Freiheit und Bürgerrechten, Konstitution und Parlamentarismus. Ihr habt einen anderen Geist als wir Sozialisten, so klingt es zwischen den Zeilen, und in betonten Ab¬ stände von dem Nörgelgeiste der Hugo Preuß und Genossen über ihr reaktionäres Vaterland wird festgestellt, daß in diesem „reaktioriären Deutschland die arbeitenden Klassen eine viel solidere Machtstellung im sozialen Leben sich haben erobern, können, als in England oder gar in Frankreich". Wie weit die Sozialisierung unseres Wirtschaftslebens nach dem Kriege gehen wird, ob der Staatssozialismus in irgendeiner Form die Wirtschaftsverfassung der Zukunft ist, wie Lensch zuver- sichtlich behauptet, bleibe dahingestellt. Seinen vor Jahresfrist niedergesehriebenen Satz, daß die Erkenntnis obiger Wahrheit „mit jedem Monat, den der Krieg länger dauert, tiefer in das Bewußtsein der weitesten Volkskreise gedrungen sei", 3«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/111>, abgerufen am 22.07.2024.