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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr.

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Anne Bücher

Die Worte des Monarchen erinnern an die bekannte Formel Händler contra
Helden, die Werner Sombart zum Titel seiner "patriotischen Besinnungen" gewählt
hat. Gegen das feierliche Ethos dieser Betrachtungsweise gehalten, mutet die
Prophezeiung nüchtern an, daß man dereinst vielleicht diesen Krieg als eine
"unvermeidliche naturnotwendige Krise" begreifen werde, in der sich "das durch
die Veränderung der Weltverhältnisse gestörte Gleichgewicht unter den Mächten
der Erde nach heftigen Schwankungen wiederherzustellen sucht" (Otto Hintze) oder
als "die wirtschaftliche und soziale Revolution", wie Walther Rathenau mit nicht
mehr zu überbietender Kürze es jüngst ausdrückte. Und doch wird man über der
kulturpolitischen Seite der Sache die "sehr realen Lebensinteressen der Völker und
Staaten" nicht vergessen dürfen; die Gefahr einer Materialisierung des Problems
ist dabei nicht so groß wie es zunächst den Anschein hat. Paul Lensch beweist
die Richtigkeit dieser Behauptung.

Lensch, ehedem als Chefredakteur der "Leipziger Volkszeitung" der radikalsten
einer, heute alt Mitarbeiter der "Glocke" eine Hoffnung aller derer, die mit Sorge
und Spannung die Wandlung der Sozialdemokratie zur Staatsbejahung verfolgen.
Sein Bekenntnisbuch über den Sinn des Krieges und die Rolle des Deutschen
Staates ein Trost und um so stärkerer Halt, seitdem der offizielle Führer der
Partei es für richtig gehalten hat, zur alten, übrigens auch im Kriege unter
Bethmann schon befolgten Devise: "Diesem Staate keinen Groschen" zurück¬
zukehren und so die von Marx mit Recht gegeißelte Parteikrankheit des parla¬
mentarischen "Kretinismus" wieder aufleben zu lassen. Auch Lensch ist Marxist.
Schon der Titel seines neuen Buches verrät es, -- der Krieg erscheint ihm im
Bilde einer Revolution, der "größten, die es seit der Völkerwanderung und den
Hunnenstürmen gegeben hat", -- und im Mittelpunkte seiner Anschauung dieses
elementarsten Ereignisses steht einer der berühmten Sätze "ökonomischer Geschichts¬
auffassung": vom Widerstreit der gesellschaftlichen Produktivkräfte mit den vor¬
handenen Produktionsverhältnissen oder juristisch gesprochen Eigentumsverhält¬
nissen. Aber er geht über Marx hinaus durch die Erkenntnis, daß jener Konflikt
"sich keineswegs bloß innerhalb der einzelnen Völker vollzog, sondern auch zwischen
den Völkern selber". Die dank reiferer kapitalistischer Organisation gewaltig
gesteigerten Produktivkräfte des deutschen Volkes sahen ihre Wege versperrt
angesichts der planetarischen Produktionsverhältnisse, die mit einer Umwandlung
der Erdoberfläche in englisches, französisches oder russisches "Eigentum" verzweifelte
Ähnlichkeit besaßen. Nicht erkannt zu haben, daß jenem von Marx gezeigten
Konflikte im internationalen Rahmen eine "ganz neue" Bedeutung zukam, daß
hier der deutsche Kapitalismus der "Träger einer höheren Form der Produktions¬
weise" darstellte im Gegensatze zu den "reaktionären" Interessen bei unseren
Feinden, ist -- nach Lensch -- das Verhängnis der deutschen Sozialdemokratie
gewesen. Daß darin auch ein Bankerott marxistischer Gedanken lag, wird bei
Lensch mehr zwischen den Zeilen deutlich, der schwedische Genosse und akademische
Politiker Steffen hat es rückhaltlos zugegeben. (Demokratie und Weltkrieg,
Diederichs 1916).

An dieser Stelle bewahrheiten sich die von Lensch als Motto vorangestellten
Hegelschen Worte: Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig
an. Weil die Marxisten der alten Schule die weltwirtschaftlichen Verflechtungen
geflissentlich ignorierten, standen sie bei Beginn des Krieges vor einem Rätsel und
mußten sich mangels zureichender Begriffe mit leeren Worten wie "Unsinn der
Weltgeschichte" oder "Welt als Irrenhaus" behelfen.

Lensch stellt zwei auch sonst unterschiedene Stufen kapitalistischer Produktions¬
weise antithetisch gegenüber: auf der einen Seite die Periode des "anarchischen",
unorganisierten Kapitalismus, mit dem Kennzeichen des individualistisch arbeitenden
EinzelunternehmerS, andererseits die Periode des organisierten Kapitalismus,
dessen Merkmal die Konzentration von Industrie-, Handels- und Bankkapital und
die damit zusammenhängende Erscheinung der Syndikate und Kartelle darstellt,
in denen an Stelle individualistischer Anarchie ein oft nur zu fühlbarer, sozialistischer


Anne Bücher

Die Worte des Monarchen erinnern an die bekannte Formel Händler contra
Helden, die Werner Sombart zum Titel seiner „patriotischen Besinnungen" gewählt
hat. Gegen das feierliche Ethos dieser Betrachtungsweise gehalten, mutet die
Prophezeiung nüchtern an, daß man dereinst vielleicht diesen Krieg als eine
„unvermeidliche naturnotwendige Krise" begreifen werde, in der sich »das durch
die Veränderung der Weltverhältnisse gestörte Gleichgewicht unter den Mächten
der Erde nach heftigen Schwankungen wiederherzustellen sucht" (Otto Hintze) oder
als „die wirtschaftliche und soziale Revolution", wie Walther Rathenau mit nicht
mehr zu überbietender Kürze es jüngst ausdrückte. Und doch wird man über der
kulturpolitischen Seite der Sache die „sehr realen Lebensinteressen der Völker und
Staaten" nicht vergessen dürfen; die Gefahr einer Materialisierung des Problems
ist dabei nicht so groß wie es zunächst den Anschein hat. Paul Lensch beweist
die Richtigkeit dieser Behauptung.

Lensch, ehedem als Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung" der radikalsten
einer, heute alt Mitarbeiter der „Glocke" eine Hoffnung aller derer, die mit Sorge
und Spannung die Wandlung der Sozialdemokratie zur Staatsbejahung verfolgen.
Sein Bekenntnisbuch über den Sinn des Krieges und die Rolle des Deutschen
Staates ein Trost und um so stärkerer Halt, seitdem der offizielle Führer der
Partei es für richtig gehalten hat, zur alten, übrigens auch im Kriege unter
Bethmann schon befolgten Devise: „Diesem Staate keinen Groschen" zurück¬
zukehren und so die von Marx mit Recht gegeißelte Parteikrankheit des parla¬
mentarischen „Kretinismus" wieder aufleben zu lassen. Auch Lensch ist Marxist.
Schon der Titel seines neuen Buches verrät es, — der Krieg erscheint ihm im
Bilde einer Revolution, der „größten, die es seit der Völkerwanderung und den
Hunnenstürmen gegeben hat", — und im Mittelpunkte seiner Anschauung dieses
elementarsten Ereignisses steht einer der berühmten Sätze „ökonomischer Geschichts¬
auffassung": vom Widerstreit der gesellschaftlichen Produktivkräfte mit den vor¬
handenen Produktionsverhältnissen oder juristisch gesprochen Eigentumsverhält¬
nissen. Aber er geht über Marx hinaus durch die Erkenntnis, daß jener Konflikt
„sich keineswegs bloß innerhalb der einzelnen Völker vollzog, sondern auch zwischen
den Völkern selber". Die dank reiferer kapitalistischer Organisation gewaltig
gesteigerten Produktivkräfte des deutschen Volkes sahen ihre Wege versperrt
angesichts der planetarischen Produktionsverhältnisse, die mit einer Umwandlung
der Erdoberfläche in englisches, französisches oder russisches „Eigentum" verzweifelte
Ähnlichkeit besaßen. Nicht erkannt zu haben, daß jenem von Marx gezeigten
Konflikte im internationalen Rahmen eine „ganz neue" Bedeutung zukam, daß
hier der deutsche Kapitalismus der „Träger einer höheren Form der Produktions¬
weise" darstellte im Gegensatze zu den „reaktionären" Interessen bei unseren
Feinden, ist — nach Lensch — das Verhängnis der deutschen Sozialdemokratie
gewesen. Daß darin auch ein Bankerott marxistischer Gedanken lag, wird bei
Lensch mehr zwischen den Zeilen deutlich, der schwedische Genosse und akademische
Politiker Steffen hat es rückhaltlos zugegeben. (Demokratie und Weltkrieg,
Diederichs 1916).

An dieser Stelle bewahrheiten sich die von Lensch als Motto vorangestellten
Hegelschen Worte: Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig
an. Weil die Marxisten der alten Schule die weltwirtschaftlichen Verflechtungen
geflissentlich ignorierten, standen sie bei Beginn des Krieges vor einem Rätsel und
mußten sich mangels zureichender Begriffe mit leeren Worten wie „Unsinn der
Weltgeschichte" oder „Welt als Irrenhaus" behelfen.

Lensch stellt zwei auch sonst unterschiedene Stufen kapitalistischer Produktions¬
weise antithetisch gegenüber: auf der einen Seite die Periode des „anarchischen",
unorganisierten Kapitalismus, mit dem Kennzeichen des individualistisch arbeitenden
EinzelunternehmerS, andererseits die Periode des organisierten Kapitalismus,
dessen Merkmal die Konzentration von Industrie-, Handels- und Bankkapital und
die damit zusammenhängende Erscheinung der Syndikate und Kartelle darstellt,
in denen an Stelle individualistischer Anarchie ein oft nur zu fühlbarer, sozialistischer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_88238/110>, abgerufen am 22.07.2024.