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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Regierung und Parlament in Deutschland

oder "andere" Instanzen vorgeschlagen wurde. Das Ganze ist charakteristisch für
die völlig unfertigen und ungeklärten Formen unseres Regierungssystems. Wir
leben offensichtlich in einer Zeit des Übergangs, wo alte und neue Grundsätze noch
im Gemenge miteinander liegen, und die politische Flurbereinigung scheint noch
gute Weile zu haben. Unser Reichsparlament zeigt eine Mehrheit, die sich als
eine Art Regierungspartei betrachtet, aus deren Mitte der einzige verantwortliche
Minister und sein Stellvertreter hervorgegangen sind, nicht ohne sich an bestimmte
Richtlinien gebunden zu haben. Aber diese Mehrheit stellt nicht nur in sich eine
brüchige Masse dar, die alle Augenblicke durch sozialdemokratische Extratouren vor
dem Auseinandergehen steht, sondern sie hat auch gegenüber "ihrer" Regierung
nicht jenes sichere Zusammengehörigkeitsverhältnis, wie man es von den parla¬
mentarischen "Ins" gewohnt ist. Wir haben im Laufe des Winters zwischen den
neuen parlamentarisch gestützten Ministern und "ihren" Parteien des Absonder¬
lichem genug erlebt, worüber ein Anhänger des "part^ sMem" den Kopf schütteln
würde, die eigentümliche Verbindung der preußischen mit den deutschen Verhält-
nissen erhöhte die Schwierigkeiten und heiklen Situationen, und jetzt setzt der Fall
Kühlmann-Hintze an Stelle eines bestätigenden Schlußpunktes ein großes Frage¬
zeichen hinter den bisherigen Lauf der Entwicklung.

Auf feiten derer, die sich der munter gedeihenden Parlamentarisierung bei
uns miaute freuten -- mögen sie sich nun die entfaltete Blüte so oder so vor¬
stellen --, hat dieser unerwartete politische Kälterückfall begreiflicherweise unlieb¬
sames Aufsehen erregt. Die schärfsten Konsequenzen zieht man im parlamen-
taristisch-orthodoxen Lager des Linksliberalismus. Bereits am 10. Juli stellte die
Frankfurter Zeitung die Kabinettsfrage: Gras Hertling müsse eine Erklärung
abgeben, daß "der Reichstag nicht wieder in eine Lage wie die jetzige gebracht
werde". Anderenfalls "entspräche es den Forderungen einer realen Politik", wenn
die Mehrheitsparteien, in erster Reihe die Volkspartei, die Verantwortung für die
Weiterführung einer solchen Politik dadurch ablehnen, daß sie aufhören, sich hinter
die Regierung zu stellen. Auch der Rücktritt von Papers sei dann unvermeidlich.
Prompt sekundiert das Berliner Tageblatt der, Frankfurter Kollegin. In¬
wieweit diese Stimmung durch das Verhalten der amtlichen Stellen bedingt ist,
steht hier nicht zur Erörterung, jedenfalls ist es alles andere als im Sinne des
"Systems", wenn man resigniert und verärgert den Parlamentarismus gleichsam
durch Herausziehen der eigenen Aktien liquidiert und sich im übrigen den Teufel
drum schert, was aus den anderen Teilhabern wird. Auch dies eine deutsche
Eigentümlichkeit, die uns wiederum zeigt, daß wir bei der Sache die Kinderschuhe
noch nicht ausgezogen haben.

Von jenen anderen Teilnehmern spielte ja die Sozialdemokratie von jeher
die Rolle des wilden Pferdes, das zwischen dem gezähmten Fortschritt und
Zentrum den Parlamentswagen ziehen sollte. Eine Weile schien alles gut zu
gehen, besonders unter dem besänftigender Einfluß von rechts und links, doch schon
in den Tagen des Streiks gab es die erste gefährliche Erschütterung und schließlich,
verweigerte die Partei ihrer eigenen Regierung -- denn das war das Kabinet^
Hertling-Payer-Friedberg doch gewissermaßen immer noch -- den EtatI Ein
weiteres Kuriosum unseres Parlamentarismus. Für die Sozialdemokratie ist also
die Affäre Kühlmann keine Staatsaktion, denn das "Vertrauen" hat sie dem
Grafen Hertling schon durch Scheidemanns letzte Rede gekündigt (vgl. "Vorwärts"
vom 11. Juli). Nur das Zentrum, der Dritte im Bunde,, stellte das Fähnlein
der Aufrechten, wo es allenthalben zu wanken begann.. Ein mit -- r. gezeichneter
Artikel der Germania glaubte schon am 12. Juli feststellen zu können, daß sich
die "politischen Wogen wieder geglättet" hätten und bemerkte erleichtert, daß die
Fortschrittliche Volkspartei nicht daran dächte, sich "auf die von der Frankfurter
Zeitung empfohlene sehr gefährliche Bahn zu begeben". War hier für den Ab¬
geordneten Erzberger vielleicht noch der Wunsch Vater des Gedankens,, so scheint
die bisherige Entwicklung der Dinge seinem Optimismus recht zu geben, was ja
das Unfertige unserer Zustände erst recht bekräftigt.


Regierung und Parlament in Deutschland

oder „andere" Instanzen vorgeschlagen wurde. Das Ganze ist charakteristisch für
die völlig unfertigen und ungeklärten Formen unseres Regierungssystems. Wir
leben offensichtlich in einer Zeit des Übergangs, wo alte und neue Grundsätze noch
im Gemenge miteinander liegen, und die politische Flurbereinigung scheint noch
gute Weile zu haben. Unser Reichsparlament zeigt eine Mehrheit, die sich als
eine Art Regierungspartei betrachtet, aus deren Mitte der einzige verantwortliche
Minister und sein Stellvertreter hervorgegangen sind, nicht ohne sich an bestimmte
Richtlinien gebunden zu haben. Aber diese Mehrheit stellt nicht nur in sich eine
brüchige Masse dar, die alle Augenblicke durch sozialdemokratische Extratouren vor
dem Auseinandergehen steht, sondern sie hat auch gegenüber „ihrer" Regierung
nicht jenes sichere Zusammengehörigkeitsverhältnis, wie man es von den parla¬
mentarischen „Ins" gewohnt ist. Wir haben im Laufe des Winters zwischen den
neuen parlamentarisch gestützten Ministern und „ihren" Parteien des Absonder¬
lichem genug erlebt, worüber ein Anhänger des „part^ sMem" den Kopf schütteln
würde, die eigentümliche Verbindung der preußischen mit den deutschen Verhält-
nissen erhöhte die Schwierigkeiten und heiklen Situationen, und jetzt setzt der Fall
Kühlmann-Hintze an Stelle eines bestätigenden Schlußpunktes ein großes Frage¬
zeichen hinter den bisherigen Lauf der Entwicklung.

Auf feiten derer, die sich der munter gedeihenden Parlamentarisierung bei
uns miaute freuten — mögen sie sich nun die entfaltete Blüte so oder so vor¬
stellen —, hat dieser unerwartete politische Kälterückfall begreiflicherweise unlieb¬
sames Aufsehen erregt. Die schärfsten Konsequenzen zieht man im parlamen-
taristisch-orthodoxen Lager des Linksliberalismus. Bereits am 10. Juli stellte die
Frankfurter Zeitung die Kabinettsfrage: Gras Hertling müsse eine Erklärung
abgeben, daß „der Reichstag nicht wieder in eine Lage wie die jetzige gebracht
werde". Anderenfalls „entspräche es den Forderungen einer realen Politik", wenn
die Mehrheitsparteien, in erster Reihe die Volkspartei, die Verantwortung für die
Weiterführung einer solchen Politik dadurch ablehnen, daß sie aufhören, sich hinter
die Regierung zu stellen. Auch der Rücktritt von Papers sei dann unvermeidlich.
Prompt sekundiert das Berliner Tageblatt der, Frankfurter Kollegin. In¬
wieweit diese Stimmung durch das Verhalten der amtlichen Stellen bedingt ist,
steht hier nicht zur Erörterung, jedenfalls ist es alles andere als im Sinne des
„Systems", wenn man resigniert und verärgert den Parlamentarismus gleichsam
durch Herausziehen der eigenen Aktien liquidiert und sich im übrigen den Teufel
drum schert, was aus den anderen Teilhabern wird. Auch dies eine deutsche
Eigentümlichkeit, die uns wiederum zeigt, daß wir bei der Sache die Kinderschuhe
noch nicht ausgezogen haben.

Von jenen anderen Teilnehmern spielte ja die Sozialdemokratie von jeher
die Rolle des wilden Pferdes, das zwischen dem gezähmten Fortschritt und
Zentrum den Parlamentswagen ziehen sollte. Eine Weile schien alles gut zu
gehen, besonders unter dem besänftigender Einfluß von rechts und links, doch schon
in den Tagen des Streiks gab es die erste gefährliche Erschütterung und schließlich,
verweigerte die Partei ihrer eigenen Regierung — denn das war das Kabinet^
Hertling-Payer-Friedberg doch gewissermaßen immer noch — den EtatI Ein
weiteres Kuriosum unseres Parlamentarismus. Für die Sozialdemokratie ist also
die Affäre Kühlmann keine Staatsaktion, denn das „Vertrauen" hat sie dem
Grafen Hertling schon durch Scheidemanns letzte Rede gekündigt (vgl. „Vorwärts"
vom 11. Juli). Nur das Zentrum, der Dritte im Bunde,, stellte das Fähnlein
der Aufrechten, wo es allenthalben zu wanken begann.. Ein mit — r. gezeichneter
Artikel der Germania glaubte schon am 12. Juli feststellen zu können, daß sich
die „politischen Wogen wieder geglättet" hätten und bemerkte erleichtert, daß die
Fortschrittliche Volkspartei nicht daran dächte, sich „auf die von der Frankfurter
Zeitung empfohlene sehr gefährliche Bahn zu begeben". War hier für den Ab¬
geordneten Erzberger vielleicht noch der Wunsch Vater des Gedankens,, so scheint
die bisherige Entwicklung der Dinge seinem Optimismus recht zu geben, was ja
das Unfertige unserer Zustände erst recht bekräftigt.


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[0093] Regierung und Parlament in Deutschland oder „andere" Instanzen vorgeschlagen wurde. Das Ganze ist charakteristisch für die völlig unfertigen und ungeklärten Formen unseres Regierungssystems. Wir leben offensichtlich in einer Zeit des Übergangs, wo alte und neue Grundsätze noch im Gemenge miteinander liegen, und die politische Flurbereinigung scheint noch gute Weile zu haben. Unser Reichsparlament zeigt eine Mehrheit, die sich als eine Art Regierungspartei betrachtet, aus deren Mitte der einzige verantwortliche Minister und sein Stellvertreter hervorgegangen sind, nicht ohne sich an bestimmte Richtlinien gebunden zu haben. Aber diese Mehrheit stellt nicht nur in sich eine brüchige Masse dar, die alle Augenblicke durch sozialdemokratische Extratouren vor dem Auseinandergehen steht, sondern sie hat auch gegenüber „ihrer" Regierung nicht jenes sichere Zusammengehörigkeitsverhältnis, wie man es von den parla¬ mentarischen „Ins" gewohnt ist. Wir haben im Laufe des Winters zwischen den neuen parlamentarisch gestützten Ministern und „ihren" Parteien des Absonder¬ lichem genug erlebt, worüber ein Anhänger des „part^ sMem" den Kopf schütteln würde, die eigentümliche Verbindung der preußischen mit den deutschen Verhält- nissen erhöhte die Schwierigkeiten und heiklen Situationen, und jetzt setzt der Fall Kühlmann-Hintze an Stelle eines bestätigenden Schlußpunktes ein großes Frage¬ zeichen hinter den bisherigen Lauf der Entwicklung. Auf feiten derer, die sich der munter gedeihenden Parlamentarisierung bei uns miaute freuten — mögen sie sich nun die entfaltete Blüte so oder so vor¬ stellen —, hat dieser unerwartete politische Kälterückfall begreiflicherweise unlieb¬ sames Aufsehen erregt. Die schärfsten Konsequenzen zieht man im parlamen- taristisch-orthodoxen Lager des Linksliberalismus. Bereits am 10. Juli stellte die Frankfurter Zeitung die Kabinettsfrage: Gras Hertling müsse eine Erklärung abgeben, daß „der Reichstag nicht wieder in eine Lage wie die jetzige gebracht werde". Anderenfalls „entspräche es den Forderungen einer realen Politik", wenn die Mehrheitsparteien, in erster Reihe die Volkspartei, die Verantwortung für die Weiterführung einer solchen Politik dadurch ablehnen, daß sie aufhören, sich hinter die Regierung zu stellen. Auch der Rücktritt von Papers sei dann unvermeidlich. Prompt sekundiert das Berliner Tageblatt der, Frankfurter Kollegin. In¬ wieweit diese Stimmung durch das Verhalten der amtlichen Stellen bedingt ist, steht hier nicht zur Erörterung, jedenfalls ist es alles andere als im Sinne des „Systems", wenn man resigniert und verärgert den Parlamentarismus gleichsam durch Herausziehen der eigenen Aktien liquidiert und sich im übrigen den Teufel drum schert, was aus den anderen Teilhabern wird. Auch dies eine deutsche Eigentümlichkeit, die uns wiederum zeigt, daß wir bei der Sache die Kinderschuhe noch nicht ausgezogen haben. Von jenen anderen Teilnehmern spielte ja die Sozialdemokratie von jeher die Rolle des wilden Pferdes, das zwischen dem gezähmten Fortschritt und Zentrum den Parlamentswagen ziehen sollte. Eine Weile schien alles gut zu gehen, besonders unter dem besänftigender Einfluß von rechts und links, doch schon in den Tagen des Streiks gab es die erste gefährliche Erschütterung und schließlich, verweigerte die Partei ihrer eigenen Regierung — denn das war das Kabinet^ Hertling-Payer-Friedberg doch gewissermaßen immer noch — den EtatI Ein weiteres Kuriosum unseres Parlamentarismus. Für die Sozialdemokratie ist also die Affäre Kühlmann keine Staatsaktion, denn das „Vertrauen" hat sie dem Grafen Hertling schon durch Scheidemanns letzte Rede gekündigt (vgl. „Vorwärts" vom 11. Juli). Nur das Zentrum, der Dritte im Bunde,, stellte das Fähnlein der Aufrechten, wo es allenthalben zu wanken begann.. Ein mit — r. gezeichneter Artikel der Germania glaubte schon am 12. Juli feststellen zu können, daß sich die „politischen Wogen wieder geglättet" hätten und bemerkte erleichtert, daß die Fortschrittliche Volkspartei nicht daran dächte, sich „auf die von der Frankfurter Zeitung empfohlene sehr gefährliche Bahn zu begeben". War hier für den Ab¬ geordneten Erzberger vielleicht noch der Wunsch Vater des Gedankens,, so scheint die bisherige Entwicklung der Dinge seinem Optimismus recht zu geben, was ja das Unfertige unserer Zustände erst recht bekräftigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/93>, abgerufen am 22.07.2024.