Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.Um Rußland kommen, da es uns weder Lebensmittel noch Rohmaterial in irgend nennens¬ Die Ermordung unseres Gesandten, des Grafen Mirbach, führte aller Welt Die Frage, die uns angesichts dieser Tatsachen zu beschäftigen hat, ist, was Um Rußland kommen, da es uns weder Lebensmittel noch Rohmaterial in irgend nennens¬ Die Ermordung unseres Gesandten, des Grafen Mirbach, führte aller Welt Die Frage, die uns angesichts dieser Tatsachen zu beschäftigen hat, ist, was <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0086" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333931"/> <fw type="header" place="top"> Um Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_353" prev="#ID_352"> kommen, da es uns weder Lebensmittel noch Rohmaterial in irgend nennens¬<lb/> werter Menge liefern kann. Theoretisch könnten wir, genügend an anderer Stelle<lb/> beschäftigt, das Land sich selbst und seinen Vernichtern überlassen, wenn nicht<lb/> einige sehr wichtige Gründe dagegen sprächen. Rußland birgt einen uns höchst<lb/> kostbaren Schatz: die deutschen Kriegsgefangenen; sie müssen befreit werden. Dann<lb/> aber wäre Rußland als neutraler Staat vollständig und zu unserem Schaden den<lb/> Einwirkungen unserer Gegner ausgeliefert, wenn wir uns daraus politisch zurück¬<lb/> zögen, und der im Osten mühsam zertrümmerte Ring unserer Feinde könnte sich<lb/> wieder schließen, ehe wir ihn auch im Westen in Trümmer legten. Ferner birgt<lb/> Nußland in viel höherem Maße wie die Ukraina alte deutsche Anlagen in In¬<lb/> dustrie und Handel, nämlich Werte von etwa 8 bis 9 Milliarden Rubel. — nicht<lb/> zu reden von den deutschen Kolonisten längs der Wolga. Alle diese Umstände<lb/> zwangen die Reichsleitung, die Wiedereröffnung friedlicher Beziehungen zunächst<lb/> von Regierung zu Regierung nach Möglichkeit zu beschleunigen. Ob alle Ma߬<lb/> nahmen, die zu diesem Zweck in Moskau und Se. Petersburg — so und nicht<lb/> mehr Petrograd heißt die Newastadt wieder seit Lenins Regierungsantritt — ge¬<lb/> troffen wurden, zweckmäßig sind, mag unerörtert bleiben. Genug, wir haben eine<lb/> Gesandtschaft eingerichtet, die bei aller Zurückhaltung dem innerrevolutionären<lb/> Prozeß gegenüber eben diesen Prozeß und die Tätigkeit der Ententevertreter<lb/> aufmerksam verfolgt.</p><lb/> <p xml:id="ID_354"> Die Ermordung unseres Gesandten, des Grafen Mirbach, führte aller Welt<lb/> deutlich vor Augen, daß in Rußland durchaus nicht alles in Ordnung ist: Ruß-,<lb/> land steht im Anfang eines neuen Umsturzes und ist außenpolitisch bedroht durch<lb/> das Eingreifen der Entente an der Murmanküste und Archangelsk, sowie durch<lb/> Japan und die Vereinigten Staaten von Amerika in Sibirien, als deren Vor¬<lb/> truppen die tschecho-slowakische Armee ebenso, wie die Regimenter einiger gegen¬<lb/> revolutionärer Generale, wie Krasnow und Kornilow, anzusprechen sind. Starke<lb/> Kräfte scheinen sich von allen Seiten gegen die Macht der Räteregierung zusammen¬<lb/> zuziehen, um diese zu stürzen. Mit dieser Räteregierung aber hat Deutschland<lb/> den Frieden von Brest-Litowsk geschlossen, der uns einen Arm freimachte.</p><lb/> <p xml:id="ID_355" next="#ID_356"> Die Frage, die uns angesichts dieser Tatsachen zu beschäftigen hat, ist, was<lb/> hat Deutschland zu tun, um seine Interessen im Osten während des Krieges und<lb/> über den Krieg hinaus sicherzustellen? Wie erhalten wir uns die durch die mili¬<lb/> tärischen Siege errungenen Früchte? Sie sind zum wenigsten auf das äußerste<lb/> gefährdet, sobald der Moskaner Kontrahent des Vertrages von der politischen<lb/> Bühne abtritt. Die Frage nach der Sicherung unserer russischen Interessen umschließt<lb/> also auch die Frage, ob wir die Räteregierung unterstützen und halten wollen<lb/> oder ob wir mit verschränkten Armen ihrem Zusammenbruch zusehen oder schlie߬<lb/> lich, ob wir selbst an der Schaffung einer uns genehmen Regierung mitwirken<lb/> müssen. Die bisherige Haltung der deutschen Regierung hat Herr von Kühlmann<lb/> in seiner Rede vom 24. Juni unfrohen Andenken? also gekennzeichnet: scharfe<lb/> Beobachtung, Nichteinmischung und weise Zurückhaltung! Demgegenüber hat die<lb/> Entente nichts versäumt, um die gegen uns gerichteten Kräfte in Rußland zu<lb/> sammeln und alle Verhältnisse dahin zuzuspitzen, daß wir gezwungen werden, in<lb/> Rußland einzugreifen. Diesem edlen Ziele dient die Besetzung der Murmanküste<lb/> durch die Engländer, dient die Tätigkeit der tschecho-slowakischen Armee unter</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0086]
Um Rußland
kommen, da es uns weder Lebensmittel noch Rohmaterial in irgend nennens¬
werter Menge liefern kann. Theoretisch könnten wir, genügend an anderer Stelle
beschäftigt, das Land sich selbst und seinen Vernichtern überlassen, wenn nicht
einige sehr wichtige Gründe dagegen sprächen. Rußland birgt einen uns höchst
kostbaren Schatz: die deutschen Kriegsgefangenen; sie müssen befreit werden. Dann
aber wäre Rußland als neutraler Staat vollständig und zu unserem Schaden den
Einwirkungen unserer Gegner ausgeliefert, wenn wir uns daraus politisch zurück¬
zögen, und der im Osten mühsam zertrümmerte Ring unserer Feinde könnte sich
wieder schließen, ehe wir ihn auch im Westen in Trümmer legten. Ferner birgt
Nußland in viel höherem Maße wie die Ukraina alte deutsche Anlagen in In¬
dustrie und Handel, nämlich Werte von etwa 8 bis 9 Milliarden Rubel. — nicht
zu reden von den deutschen Kolonisten längs der Wolga. Alle diese Umstände
zwangen die Reichsleitung, die Wiedereröffnung friedlicher Beziehungen zunächst
von Regierung zu Regierung nach Möglichkeit zu beschleunigen. Ob alle Ma߬
nahmen, die zu diesem Zweck in Moskau und Se. Petersburg — so und nicht
mehr Petrograd heißt die Newastadt wieder seit Lenins Regierungsantritt — ge¬
troffen wurden, zweckmäßig sind, mag unerörtert bleiben. Genug, wir haben eine
Gesandtschaft eingerichtet, die bei aller Zurückhaltung dem innerrevolutionären
Prozeß gegenüber eben diesen Prozeß und die Tätigkeit der Ententevertreter
aufmerksam verfolgt.
Die Ermordung unseres Gesandten, des Grafen Mirbach, führte aller Welt
deutlich vor Augen, daß in Rußland durchaus nicht alles in Ordnung ist: Ruß-,
land steht im Anfang eines neuen Umsturzes und ist außenpolitisch bedroht durch
das Eingreifen der Entente an der Murmanküste und Archangelsk, sowie durch
Japan und die Vereinigten Staaten von Amerika in Sibirien, als deren Vor¬
truppen die tschecho-slowakische Armee ebenso, wie die Regimenter einiger gegen¬
revolutionärer Generale, wie Krasnow und Kornilow, anzusprechen sind. Starke
Kräfte scheinen sich von allen Seiten gegen die Macht der Räteregierung zusammen¬
zuziehen, um diese zu stürzen. Mit dieser Räteregierung aber hat Deutschland
den Frieden von Brest-Litowsk geschlossen, der uns einen Arm freimachte.
Die Frage, die uns angesichts dieser Tatsachen zu beschäftigen hat, ist, was
hat Deutschland zu tun, um seine Interessen im Osten während des Krieges und
über den Krieg hinaus sicherzustellen? Wie erhalten wir uns die durch die mili¬
tärischen Siege errungenen Früchte? Sie sind zum wenigsten auf das äußerste
gefährdet, sobald der Moskaner Kontrahent des Vertrages von der politischen
Bühne abtritt. Die Frage nach der Sicherung unserer russischen Interessen umschließt
also auch die Frage, ob wir die Räteregierung unterstützen und halten wollen
oder ob wir mit verschränkten Armen ihrem Zusammenbruch zusehen oder schlie߬
lich, ob wir selbst an der Schaffung einer uns genehmen Regierung mitwirken
müssen. Die bisherige Haltung der deutschen Regierung hat Herr von Kühlmann
in seiner Rede vom 24. Juni unfrohen Andenken? also gekennzeichnet: scharfe
Beobachtung, Nichteinmischung und weise Zurückhaltung! Demgegenüber hat die
Entente nichts versäumt, um die gegen uns gerichteten Kräfte in Rußland zu
sammeln und alle Verhältnisse dahin zuzuspitzen, daß wir gezwungen werden, in
Rußland einzugreifen. Diesem edlen Ziele dient die Besetzung der Murmanküste
durch die Engländer, dient die Tätigkeit der tschecho-slowakischen Armee unter
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |