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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

bald schon führten ihm die Patriotenliga und verwandte Körperschaften neues
Blut zu. Im Kampf um die "Gleichberechtigung" der französischen Sprache im
gelobten Lande der "Doppelkultur" konnten solche unzuverlässige Männer wie der
Altertumsfälscher Dr. Bucher in Straßburg ihren Minenkrieg selbst unter die
Grundmauern der bodenständigen Verwaltung tragen. Mit bewundernswerter
Geschicklichkeit deuteten die Vorkämpfer der Revancheidee in Paris die Halt¬
losigkeit der strafrechtlichen Stellung des "Reichslandes" "als Reizmittel für die
schlaffe Stimmung in Frankreich" aus. Für Frankreichs Welt- und Rechts-
anschauung war spätestens im Jahrzehnt vor dem Kriege die künftige Entwick¬
lungsreihe klar vorgezeichnet, die vom deutschen Bundesstaat über die Brücke des
Völkerrechts zum französischen Einheitsstaat führen mußte. Vom autonomen
Bundesstaat Elsaß-Lothringen wiesen die Wegzeichen über den neutralen Puffer¬
staat und über das Protektorat der Republik hinweg zur Desannexion und zur
Aufnahme in den Mutterschoß Frankreichs, dessen Kultur die geraubten Provinzen
ja nie entsagt hatten!

Aufs deutlichste zeigte diese Mittelstellung des elsaß-lothringischen Problems
die große Weltkrisis von 1909 bis 1911, die wie die EntscheidungSjahre von
1878/79 und von 1887/88 auch äußerlich wieder die staatsrechtliche Entwicklung
des "Reichslandes" in den Vordergrund nationalen und internationalen Interesses
rückte. Während die Einkreisungspolitik König Eduards des Siebenten Faden
für Faden um die Mittemächte schlang, suchte sich der verantwortliche Leiter der
Reichspolitik immer aufs neue durch Nachgeben nach allen Seiten der leben-
bedrohenden Umstrickung zu erwehren. Vielleicht darf schon der neue Gesetzent¬
wurf vom Jahre 1907 zur Stärkung des Deutschtums in Ostpreußen und Posen,
der sich mittelbar gegen den Neoslawismus richtete, hier eingestellt werden. Auf
alle Fälle begannen dann 1909 bewußt Verständigungsverhandlungen mit England
als letztes Mittel, "einer Panik und einem kampfartigen Weltrüsten" vorzubeugen.
Gleichzeitig sollte der Besuch des Zaren auch nach außen eine weitgehende deutsch¬
russische Annäherung bezeugen. Wieder betonte der Reichskanzler dabei, "daß
das alte vertrauensvolle Verhältnis der beiden Staaten bekräftigt und Sicherheit
geschaffen sei, daß kein Staat sich in etwas einlasse, was eine aggressive Spitze
gegen den anderen kehren würde." Dem dritten Genossen endlich im Dreiver¬
band galt -- das wird auch in der neuesten Erörterung über die Vorgeschichte
des Weltkrieges ganz übersehenl -- das Versöhnungszeichen der elsaß-lothrin-
gischen "Verfassungsreform" von 1911. Wohl war diese selbst längst innerpolitisch
vorbereitet. Linksliberaler Doktrinarismus und der wohlbegründete deutsche Ge¬
danke vom Wert der Selbstverwaltung trafen hier zusammen mit der klaren Er-
kenntnis, daß die Zustände im "Reichsland" unhaltbar seien. Alle Versuche,
Elsaß und Lothringen wirtschaftlich unlösbar an die übrigen Bundesstaaten zu
ketten, wurden durchkreuzt und vereitelt von dem unseligen politischen und staats¬
rechtlichen Provisorium, das seit mehr als einem Menschenalter aus dem Lande
lastete. Aber diese nationalen Erwägungen führten doch nur in die Reform¬
gedanken selbst ein: die Tat an sich löste erst die internationale Lage aus. Es
ist nicht anders: weltpolitisch steht die Verfassungsreform Elsaß-Lothringens in
der Reihe der Zugeständnisse, mit denen das Deutsche Reich unmittelbar vor der
Marokkokrisis noch einmal den Frieden vom Dreiverband erkaufte. Fast restlos
unterbrach das Verfassungsgesetz vom Mai 1911 in der Tat die Entwicklung, die
dem "Reichsland" noch immer trotz der einschneidenden staatsrechtlichen Änderungen
von 1879 den Charakter als Reichsprovinz wahrten. "Die Mitwirkung des Bundes¬
rath bei der Gesetzgebung", daran hat Laband noch vor kurzem erinnert, "und die
subsidiäre Zuständigkeit des Reichstags wurden beseitigt." In seinen äußeren
Verfassungsformen sieht Elsaß-Lothringen seitdem "ganz wie ein Bundesstaat
aus, ist ganz ebenso eingerichtet und scheint dem Reiche ganz ebenso wie ein
Bundesstaat, wie ein Mitglied des Reichsverbandes gegenüberzustehen". Nur
drei wichtige Zusammenhänge bleiben zwischen den alten Begriffen "Reich" und
"Reichsland" bestehenI Als Organ des Reiches, nicht als Landesherr, übt der


Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

bald schon führten ihm die Patriotenliga und verwandte Körperschaften neues
Blut zu. Im Kampf um die „Gleichberechtigung" der französischen Sprache im
gelobten Lande der „Doppelkultur" konnten solche unzuverlässige Männer wie der
Altertumsfälscher Dr. Bucher in Straßburg ihren Minenkrieg selbst unter die
Grundmauern der bodenständigen Verwaltung tragen. Mit bewundernswerter
Geschicklichkeit deuteten die Vorkämpfer der Revancheidee in Paris die Halt¬
losigkeit der strafrechtlichen Stellung des „Reichslandes" „als Reizmittel für die
schlaffe Stimmung in Frankreich" aus. Für Frankreichs Welt- und Rechts-
anschauung war spätestens im Jahrzehnt vor dem Kriege die künftige Entwick¬
lungsreihe klar vorgezeichnet, die vom deutschen Bundesstaat über die Brücke des
Völkerrechts zum französischen Einheitsstaat führen mußte. Vom autonomen
Bundesstaat Elsaß-Lothringen wiesen die Wegzeichen über den neutralen Puffer¬
staat und über das Protektorat der Republik hinweg zur Desannexion und zur
Aufnahme in den Mutterschoß Frankreichs, dessen Kultur die geraubten Provinzen
ja nie entsagt hatten!

Aufs deutlichste zeigte diese Mittelstellung des elsaß-lothringischen Problems
die große Weltkrisis von 1909 bis 1911, die wie die EntscheidungSjahre von
1878/79 und von 1887/88 auch äußerlich wieder die staatsrechtliche Entwicklung
des „Reichslandes" in den Vordergrund nationalen und internationalen Interesses
rückte. Während die Einkreisungspolitik König Eduards des Siebenten Faden
für Faden um die Mittemächte schlang, suchte sich der verantwortliche Leiter der
Reichspolitik immer aufs neue durch Nachgeben nach allen Seiten der leben-
bedrohenden Umstrickung zu erwehren. Vielleicht darf schon der neue Gesetzent¬
wurf vom Jahre 1907 zur Stärkung des Deutschtums in Ostpreußen und Posen,
der sich mittelbar gegen den Neoslawismus richtete, hier eingestellt werden. Auf
alle Fälle begannen dann 1909 bewußt Verständigungsverhandlungen mit England
als letztes Mittel, „einer Panik und einem kampfartigen Weltrüsten" vorzubeugen.
Gleichzeitig sollte der Besuch des Zaren auch nach außen eine weitgehende deutsch¬
russische Annäherung bezeugen. Wieder betonte der Reichskanzler dabei, „daß
das alte vertrauensvolle Verhältnis der beiden Staaten bekräftigt und Sicherheit
geschaffen sei, daß kein Staat sich in etwas einlasse, was eine aggressive Spitze
gegen den anderen kehren würde." Dem dritten Genossen endlich im Dreiver¬
band galt — das wird auch in der neuesten Erörterung über die Vorgeschichte
des Weltkrieges ganz übersehenl — das Versöhnungszeichen der elsaß-lothrin-
gischen „Verfassungsreform" von 1911. Wohl war diese selbst längst innerpolitisch
vorbereitet. Linksliberaler Doktrinarismus und der wohlbegründete deutsche Ge¬
danke vom Wert der Selbstverwaltung trafen hier zusammen mit der klaren Er-
kenntnis, daß die Zustände im „Reichsland" unhaltbar seien. Alle Versuche,
Elsaß und Lothringen wirtschaftlich unlösbar an die übrigen Bundesstaaten zu
ketten, wurden durchkreuzt und vereitelt von dem unseligen politischen und staats¬
rechtlichen Provisorium, das seit mehr als einem Menschenalter aus dem Lande
lastete. Aber diese nationalen Erwägungen führten doch nur in die Reform¬
gedanken selbst ein: die Tat an sich löste erst die internationale Lage aus. Es
ist nicht anders: weltpolitisch steht die Verfassungsreform Elsaß-Lothringens in
der Reihe der Zugeständnisse, mit denen das Deutsche Reich unmittelbar vor der
Marokkokrisis noch einmal den Frieden vom Dreiverband erkaufte. Fast restlos
unterbrach das Verfassungsgesetz vom Mai 1911 in der Tat die Entwicklung, die
dem „Reichsland" noch immer trotz der einschneidenden staatsrechtlichen Änderungen
von 1879 den Charakter als Reichsprovinz wahrten. „Die Mitwirkung des Bundes¬
rath bei der Gesetzgebung", daran hat Laband noch vor kurzem erinnert, „und die
subsidiäre Zuständigkeit des Reichstags wurden beseitigt." In seinen äußeren
Verfassungsformen sieht Elsaß-Lothringen seitdem „ganz wie ein Bundesstaat
aus, ist ganz ebenso eingerichtet und scheint dem Reiche ganz ebenso wie ein
Bundesstaat, wie ein Mitglied des Reichsverbandes gegenüberzustehen". Nur
drei wichtige Zusammenhänge bleiben zwischen den alten Begriffen „Reich" und
„Reichsland" bestehenI Als Organ des Reiches, nicht als Landesherr, übt der


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[0074] Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage bald schon führten ihm die Patriotenliga und verwandte Körperschaften neues Blut zu. Im Kampf um die „Gleichberechtigung" der französischen Sprache im gelobten Lande der „Doppelkultur" konnten solche unzuverlässige Männer wie der Altertumsfälscher Dr. Bucher in Straßburg ihren Minenkrieg selbst unter die Grundmauern der bodenständigen Verwaltung tragen. Mit bewundernswerter Geschicklichkeit deuteten die Vorkämpfer der Revancheidee in Paris die Halt¬ losigkeit der strafrechtlichen Stellung des „Reichslandes" „als Reizmittel für die schlaffe Stimmung in Frankreich" aus. Für Frankreichs Welt- und Rechts- anschauung war spätestens im Jahrzehnt vor dem Kriege die künftige Entwick¬ lungsreihe klar vorgezeichnet, die vom deutschen Bundesstaat über die Brücke des Völkerrechts zum französischen Einheitsstaat führen mußte. Vom autonomen Bundesstaat Elsaß-Lothringen wiesen die Wegzeichen über den neutralen Puffer¬ staat und über das Protektorat der Republik hinweg zur Desannexion und zur Aufnahme in den Mutterschoß Frankreichs, dessen Kultur die geraubten Provinzen ja nie entsagt hatten! Aufs deutlichste zeigte diese Mittelstellung des elsaß-lothringischen Problems die große Weltkrisis von 1909 bis 1911, die wie die EntscheidungSjahre von 1878/79 und von 1887/88 auch äußerlich wieder die staatsrechtliche Entwicklung des „Reichslandes" in den Vordergrund nationalen und internationalen Interesses rückte. Während die Einkreisungspolitik König Eduards des Siebenten Faden für Faden um die Mittemächte schlang, suchte sich der verantwortliche Leiter der Reichspolitik immer aufs neue durch Nachgeben nach allen Seiten der leben- bedrohenden Umstrickung zu erwehren. Vielleicht darf schon der neue Gesetzent¬ wurf vom Jahre 1907 zur Stärkung des Deutschtums in Ostpreußen und Posen, der sich mittelbar gegen den Neoslawismus richtete, hier eingestellt werden. Auf alle Fälle begannen dann 1909 bewußt Verständigungsverhandlungen mit England als letztes Mittel, „einer Panik und einem kampfartigen Weltrüsten" vorzubeugen. Gleichzeitig sollte der Besuch des Zaren auch nach außen eine weitgehende deutsch¬ russische Annäherung bezeugen. Wieder betonte der Reichskanzler dabei, „daß das alte vertrauensvolle Verhältnis der beiden Staaten bekräftigt und Sicherheit geschaffen sei, daß kein Staat sich in etwas einlasse, was eine aggressive Spitze gegen den anderen kehren würde." Dem dritten Genossen endlich im Dreiver¬ band galt — das wird auch in der neuesten Erörterung über die Vorgeschichte des Weltkrieges ganz übersehenl — das Versöhnungszeichen der elsaß-lothrin- gischen „Verfassungsreform" von 1911. Wohl war diese selbst längst innerpolitisch vorbereitet. Linksliberaler Doktrinarismus und der wohlbegründete deutsche Ge¬ danke vom Wert der Selbstverwaltung trafen hier zusammen mit der klaren Er- kenntnis, daß die Zustände im „Reichsland" unhaltbar seien. Alle Versuche, Elsaß und Lothringen wirtschaftlich unlösbar an die übrigen Bundesstaaten zu ketten, wurden durchkreuzt und vereitelt von dem unseligen politischen und staats¬ rechtlichen Provisorium, das seit mehr als einem Menschenalter aus dem Lande lastete. Aber diese nationalen Erwägungen führten doch nur in die Reform¬ gedanken selbst ein: die Tat an sich löste erst die internationale Lage aus. Es ist nicht anders: weltpolitisch steht die Verfassungsreform Elsaß-Lothringens in der Reihe der Zugeständnisse, mit denen das Deutsche Reich unmittelbar vor der Marokkokrisis noch einmal den Frieden vom Dreiverband erkaufte. Fast restlos unterbrach das Verfassungsgesetz vom Mai 1911 in der Tat die Entwicklung, die dem „Reichsland" noch immer trotz der einschneidenden staatsrechtlichen Änderungen von 1879 den Charakter als Reichsprovinz wahrten. „Die Mitwirkung des Bundes¬ rath bei der Gesetzgebung", daran hat Laband noch vor kurzem erinnert, „und die subsidiäre Zuständigkeit des Reichstags wurden beseitigt." In seinen äußeren Verfassungsformen sieht Elsaß-Lothringen seitdem „ganz wie ein Bundesstaat aus, ist ganz ebenso eingerichtet und scheint dem Reiche ganz ebenso wie ein Bundesstaat, wie ein Mitglied des Reichsverbandes gegenüberzustehen". Nur drei wichtige Zusammenhänge bleiben zwischen den alten Begriffen „Reich" und „Reichsland" bestehenI Als Organ des Reiches, nicht als Landesherr, übt der

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/74>, abgerufen am 22.07.2024.