Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

"Fälle" nachweisen können, in denen die Pflichten, die das Reich mit der Ein¬
verleibung Elsaß und Lothringens in der doppelten Eigenschaft als Glacis und
als "Reichsland" übernommen hatte, aufs gröblichste verletzt wurden. Während
die Mehrheitsparteien von 1870 als Organe des nationalen Gewissens im Reichs-
land das unitarische Symbol des Kaisers sahen, sank sein Begriff etwa in den
achtziger Jahren immer mehr zur Ausdeutung eines "Staatsfragments" herab.
Das Schlagwort vom "autonomen Bundesstaat", das einst Graf Beust als Gegner
der kleindeutschen Einheit in den internationalen Formelschatz aufgenommen hatte,
gewann neues Leben. Fast mit Stolz und Bewunderung begrüßte man in "Alt¬
deutschland" -- schon der Name zeigt noch nach fünf Jahrzehnten gemeinsamer
Geschichte die Entfremdung I -- die üppig emporwuchernde Ersatzfrucht der "Doppel-
kultur". Überschwenglich pries die neu einsetzende Friedensströmung Elsaß und
Lothringen als das natürliche Bindeglied zweier weltgebietender Kulturvölker. Die
Vorkämpfer und Anhänger der Völkerrechts- und Schiedsgerichtsbewegung, die
Nachfolger der für europäisches Gleichgewicht schwärmenden Diplomaten des
anLien r6Zinc, behandelten Elsaß und Lothringen bereits als ein "Niemands¬
land" zwischen feindlichen Schützengräben. Der Gedankengang vom Herbst 1870,
der vom internationalen Pufferstaat zum nationalen Reichsland geführt halte,
ward aufs neue lebendig -- nur daß er diesmal mit umgekehrten Vorzeichen ein¬
setzte und in der deutschen "Mentalität" bloß bis zum "autonomen Bundesstaat"
gedieh. In unverbesserlicher Oberflächlichkeit gab man sich im Reichstag zufrieden,
als die verschiedenen Interessengruppen in Elsaß und Lothringen zum Teil
wenigstens Bezeichnungen annahmen, die rein äußerlich eine nahe Verwandtschaft
mit den geschichtlich aus Weltanschauungskämpfen erwachsenen Parteien des
Reiches anzudeuten scheinen. Im Stimmenkampf um die arg umstrittene Mehr¬
heit und damit um die politische Macht glaubte man auch offenen Protestlern
nicht die Türe weisen zu dürfen. Mutzten doch gut deutsch gesinnte Kreise im
Lande selbst willig oder gezwungen dem Nationalismus Zugeständnisse machen,
wollten sie nicht von vornherein auf jeden Einfluß verzichten. Mittelbar und
unmittelbar wurde durch diese ganze Entwicklung nur der Protest selbst gestärkt,
der sich jetzt unter den Schutz der "Autonomie" zurückzog und diesen Begriff, der
ursprünglich von wohlmeinenden Elsässern wie Graf Dürkheim und August
Schneegans als eine Art deutschen Partikularismus aufgenommen worden war,
von innen heraus umgestaltete.

Wie sich diese Entwicklung im einzelnen vollzog, bis sie mit der sogenannten
"Verfassungsreform" von 1911, an der Schwelle des Weltkrieges, ihre letzte Stufe
erreichte -- eine solche Darstellung ist zurzeit noch nicht möglich. Das eine
aber darf und muß schon heute betont werden, daß sich in diesem letzten Viertel-
lahrhundert des neuen Deutschen Reiches wie in den siebziger und achtziger Jahren
Nationale und internationale Rücksichten und Interessen in der Behandlung des
"Reichslandes" schneiden. Auch in der preußischen Polenpolitik wird eine ord¬
nende, unparteiisch abwägende Hand immer wieder den tiefen Einfluß der aus¬
wärtigen Politik des Reiches entdecken können. Aber die Versöhnungspolitik
gegenüber dem Zaren zog doch wenigstens keine unmittelbaren nationalen Verluste
nach sich i In Elsaß und Lothringen aber, das ist das unsagbar Tragische in der
neueren deutschen Geschichte dieser Länder, bedeutete ein Nachgeben gegenüber
Frankreich zugleich ein Nachlassen der nationalen Spannkraft. Während die
Friedenspolitik Bismarcks selbst und seiner Nachfolger die wirtschaftlichen Kräfte
des Reiches zu erhalten und zu stärken suchte, gab sie gleichzeitig im Westen
fruchtbares Land preis, das mit dem Blute des ganzen deutschen Volkes als
Symbol seiner Einheit erkauft war. Und mittelbar reizten diese Versöhnunys-
versuche doch immer gerade aufs neue die Begehrlichkeit des Gegners. Seit die
Wege vom "Reichsland" zur Neichsprovinz oder zur Angliederung an einen der
alten Bundesstaaten verlassen waren, schien Deutschland Elsaß und Lothringen,
wenn auch zögernd, frei geben zu wollen. Wohl sank nach dem Zusammensturz
des "Boulanger-Rummels" der "Protest" zunächst in sich zusammen. Aber sehr


Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

„Fälle" nachweisen können, in denen die Pflichten, die das Reich mit der Ein¬
verleibung Elsaß und Lothringens in der doppelten Eigenschaft als Glacis und
als „Reichsland" übernommen hatte, aufs gröblichste verletzt wurden. Während
die Mehrheitsparteien von 1870 als Organe des nationalen Gewissens im Reichs-
land das unitarische Symbol des Kaisers sahen, sank sein Begriff etwa in den
achtziger Jahren immer mehr zur Ausdeutung eines „Staatsfragments" herab.
Das Schlagwort vom „autonomen Bundesstaat", das einst Graf Beust als Gegner
der kleindeutschen Einheit in den internationalen Formelschatz aufgenommen hatte,
gewann neues Leben. Fast mit Stolz und Bewunderung begrüßte man in „Alt¬
deutschland" — schon der Name zeigt noch nach fünf Jahrzehnten gemeinsamer
Geschichte die Entfremdung I — die üppig emporwuchernde Ersatzfrucht der „Doppel-
kultur". Überschwenglich pries die neu einsetzende Friedensströmung Elsaß und
Lothringen als das natürliche Bindeglied zweier weltgebietender Kulturvölker. Die
Vorkämpfer und Anhänger der Völkerrechts- und Schiedsgerichtsbewegung, die
Nachfolger der für europäisches Gleichgewicht schwärmenden Diplomaten des
anLien r6Zinc, behandelten Elsaß und Lothringen bereits als ein „Niemands¬
land" zwischen feindlichen Schützengräben. Der Gedankengang vom Herbst 1870,
der vom internationalen Pufferstaat zum nationalen Reichsland geführt halte,
ward aufs neue lebendig — nur daß er diesmal mit umgekehrten Vorzeichen ein¬
setzte und in der deutschen „Mentalität" bloß bis zum „autonomen Bundesstaat"
gedieh. In unverbesserlicher Oberflächlichkeit gab man sich im Reichstag zufrieden,
als die verschiedenen Interessengruppen in Elsaß und Lothringen zum Teil
wenigstens Bezeichnungen annahmen, die rein äußerlich eine nahe Verwandtschaft
mit den geschichtlich aus Weltanschauungskämpfen erwachsenen Parteien des
Reiches anzudeuten scheinen. Im Stimmenkampf um die arg umstrittene Mehr¬
heit und damit um die politische Macht glaubte man auch offenen Protestlern
nicht die Türe weisen zu dürfen. Mutzten doch gut deutsch gesinnte Kreise im
Lande selbst willig oder gezwungen dem Nationalismus Zugeständnisse machen,
wollten sie nicht von vornherein auf jeden Einfluß verzichten. Mittelbar und
unmittelbar wurde durch diese ganze Entwicklung nur der Protest selbst gestärkt,
der sich jetzt unter den Schutz der „Autonomie" zurückzog und diesen Begriff, der
ursprünglich von wohlmeinenden Elsässern wie Graf Dürkheim und August
Schneegans als eine Art deutschen Partikularismus aufgenommen worden war,
von innen heraus umgestaltete.

Wie sich diese Entwicklung im einzelnen vollzog, bis sie mit der sogenannten
„Verfassungsreform" von 1911, an der Schwelle des Weltkrieges, ihre letzte Stufe
erreichte — eine solche Darstellung ist zurzeit noch nicht möglich. Das eine
aber darf und muß schon heute betont werden, daß sich in diesem letzten Viertel-
lahrhundert des neuen Deutschen Reiches wie in den siebziger und achtziger Jahren
Nationale und internationale Rücksichten und Interessen in der Behandlung des
»Reichslandes" schneiden. Auch in der preußischen Polenpolitik wird eine ord¬
nende, unparteiisch abwägende Hand immer wieder den tiefen Einfluß der aus¬
wärtigen Politik des Reiches entdecken können. Aber die Versöhnungspolitik
gegenüber dem Zaren zog doch wenigstens keine unmittelbaren nationalen Verluste
nach sich i In Elsaß und Lothringen aber, das ist das unsagbar Tragische in der
neueren deutschen Geschichte dieser Länder, bedeutete ein Nachgeben gegenüber
Frankreich zugleich ein Nachlassen der nationalen Spannkraft. Während die
Friedenspolitik Bismarcks selbst und seiner Nachfolger die wirtschaftlichen Kräfte
des Reiches zu erhalten und zu stärken suchte, gab sie gleichzeitig im Westen
fruchtbares Land preis, das mit dem Blute des ganzen deutschen Volkes als
Symbol seiner Einheit erkauft war. Und mittelbar reizten diese Versöhnunys-
versuche doch immer gerade aufs neue die Begehrlichkeit des Gegners. Seit die
Wege vom „Reichsland" zur Neichsprovinz oder zur Angliederung an einen der
alten Bundesstaaten verlassen waren, schien Deutschland Elsaß und Lothringen,
wenn auch zögernd, frei geben zu wollen. Wohl sank nach dem Zusammensturz
des „Boulanger-Rummels" der „Protest" zunächst in sich zusammen. Aber sehr


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0073" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333918"/>
          <fw type="header" place="top"> Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_260" prev="#ID_259"> &#x201E;Fälle" nachweisen können, in denen die Pflichten, die das Reich mit der Ein¬<lb/>
verleibung Elsaß und Lothringens in der doppelten Eigenschaft als Glacis und<lb/>
als &#x201E;Reichsland" übernommen hatte, aufs gröblichste verletzt wurden. Während<lb/>
die Mehrheitsparteien von 1870 als Organe des nationalen Gewissens im Reichs-<lb/>
land das unitarische Symbol des Kaisers sahen, sank sein Begriff etwa in den<lb/>
achtziger Jahren immer mehr zur Ausdeutung eines &#x201E;Staatsfragments" herab.<lb/>
Das Schlagwort vom &#x201E;autonomen Bundesstaat", das einst Graf Beust als Gegner<lb/>
der kleindeutschen Einheit in den internationalen Formelschatz aufgenommen hatte,<lb/>
gewann neues Leben. Fast mit Stolz und Bewunderung begrüßte man in &#x201E;Alt¬<lb/>
deutschland" &#x2014; schon der Name zeigt noch nach fünf Jahrzehnten gemeinsamer<lb/>
Geschichte die Entfremdung I &#x2014; die üppig emporwuchernde Ersatzfrucht der &#x201E;Doppel-<lb/>
kultur". Überschwenglich pries die neu einsetzende Friedensströmung Elsaß und<lb/>
Lothringen als das natürliche Bindeglied zweier weltgebietender Kulturvölker. Die<lb/>
Vorkämpfer und Anhänger der Völkerrechts- und Schiedsgerichtsbewegung, die<lb/>
Nachfolger der für europäisches Gleichgewicht schwärmenden Diplomaten des<lb/>
anLien r6Zinc, behandelten Elsaß und Lothringen bereits als ein &#x201E;Niemands¬<lb/>
land" zwischen feindlichen Schützengräben. Der Gedankengang vom Herbst 1870,<lb/>
der vom internationalen Pufferstaat zum nationalen Reichsland geführt halte,<lb/>
ward aufs neue lebendig &#x2014; nur daß er diesmal mit umgekehrten Vorzeichen ein¬<lb/>
setzte und in der deutschen &#x201E;Mentalität" bloß bis zum &#x201E;autonomen Bundesstaat"<lb/>
gedieh. In unverbesserlicher Oberflächlichkeit gab man sich im Reichstag zufrieden,<lb/>
als die verschiedenen Interessengruppen in Elsaß und Lothringen zum Teil<lb/>
wenigstens Bezeichnungen annahmen, die rein äußerlich eine nahe Verwandtschaft<lb/>
mit den geschichtlich aus Weltanschauungskämpfen erwachsenen Parteien des<lb/>
Reiches anzudeuten scheinen. Im Stimmenkampf um die arg umstrittene Mehr¬<lb/>
heit und damit um die politische Macht glaubte man auch offenen Protestlern<lb/>
nicht die Türe weisen zu dürfen. Mutzten doch gut deutsch gesinnte Kreise im<lb/>
Lande selbst willig oder gezwungen dem Nationalismus Zugeständnisse machen,<lb/>
wollten sie nicht von vornherein auf jeden Einfluß verzichten. Mittelbar und<lb/>
unmittelbar wurde durch diese ganze Entwicklung nur der Protest selbst gestärkt,<lb/>
der sich jetzt unter den Schutz der &#x201E;Autonomie" zurückzog und diesen Begriff, der<lb/>
ursprünglich von wohlmeinenden Elsässern wie Graf Dürkheim und August<lb/>
Schneegans als eine Art deutschen Partikularismus aufgenommen worden war,<lb/>
von innen heraus umgestaltete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_261" next="#ID_262"> Wie sich diese Entwicklung im einzelnen vollzog, bis sie mit der sogenannten<lb/>
&#x201E;Verfassungsreform" von 1911, an der Schwelle des Weltkrieges, ihre letzte Stufe<lb/>
erreichte &#x2014; eine solche Darstellung ist zurzeit noch nicht möglich. Das eine<lb/>
aber darf und muß schon heute betont werden, daß sich in diesem letzten Viertel-<lb/>
lahrhundert des neuen Deutschen Reiches wie in den siebziger und achtziger Jahren<lb/>
Nationale und internationale Rücksichten und Interessen in der Behandlung des<lb/>
»Reichslandes" schneiden. Auch in der preußischen Polenpolitik wird eine ord¬<lb/>
nende, unparteiisch abwägende Hand immer wieder den tiefen Einfluß der aus¬<lb/>
wärtigen Politik des Reiches entdecken können. Aber die Versöhnungspolitik<lb/>
gegenüber dem Zaren zog doch wenigstens keine unmittelbaren nationalen Verluste<lb/>
nach sich i In Elsaß und Lothringen aber, das ist das unsagbar Tragische in der<lb/>
neueren deutschen Geschichte dieser Länder, bedeutete ein Nachgeben gegenüber<lb/>
Frankreich zugleich ein Nachlassen der nationalen Spannkraft. Während die<lb/>
Friedenspolitik Bismarcks selbst und seiner Nachfolger die wirtschaftlichen Kräfte<lb/>
des Reiches zu erhalten und zu stärken suchte, gab sie gleichzeitig im Westen<lb/>
fruchtbares Land preis, das mit dem Blute des ganzen deutschen Volkes als<lb/>
Symbol seiner Einheit erkauft war. Und mittelbar reizten diese Versöhnunys-<lb/>
versuche doch immer gerade aufs neue die Begehrlichkeit des Gegners. Seit die<lb/>
Wege vom &#x201E;Reichsland" zur Neichsprovinz oder zur Angliederung an einen der<lb/>
alten Bundesstaaten verlassen waren, schien Deutschland Elsaß und Lothringen,<lb/>
wenn auch zögernd, frei geben zu wollen. Wohl sank nach dem Zusammensturz<lb/>
des &#x201E;Boulanger-Rummels" der &#x201E;Protest" zunächst in sich zusammen. Aber sehr</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0073] Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage „Fälle" nachweisen können, in denen die Pflichten, die das Reich mit der Ein¬ verleibung Elsaß und Lothringens in der doppelten Eigenschaft als Glacis und als „Reichsland" übernommen hatte, aufs gröblichste verletzt wurden. Während die Mehrheitsparteien von 1870 als Organe des nationalen Gewissens im Reichs- land das unitarische Symbol des Kaisers sahen, sank sein Begriff etwa in den achtziger Jahren immer mehr zur Ausdeutung eines „Staatsfragments" herab. Das Schlagwort vom „autonomen Bundesstaat", das einst Graf Beust als Gegner der kleindeutschen Einheit in den internationalen Formelschatz aufgenommen hatte, gewann neues Leben. Fast mit Stolz und Bewunderung begrüßte man in „Alt¬ deutschland" — schon der Name zeigt noch nach fünf Jahrzehnten gemeinsamer Geschichte die Entfremdung I — die üppig emporwuchernde Ersatzfrucht der „Doppel- kultur". Überschwenglich pries die neu einsetzende Friedensströmung Elsaß und Lothringen als das natürliche Bindeglied zweier weltgebietender Kulturvölker. Die Vorkämpfer und Anhänger der Völkerrechts- und Schiedsgerichtsbewegung, die Nachfolger der für europäisches Gleichgewicht schwärmenden Diplomaten des anLien r6Zinc, behandelten Elsaß und Lothringen bereits als ein „Niemands¬ land" zwischen feindlichen Schützengräben. Der Gedankengang vom Herbst 1870, der vom internationalen Pufferstaat zum nationalen Reichsland geführt halte, ward aufs neue lebendig — nur daß er diesmal mit umgekehrten Vorzeichen ein¬ setzte und in der deutschen „Mentalität" bloß bis zum „autonomen Bundesstaat" gedieh. In unverbesserlicher Oberflächlichkeit gab man sich im Reichstag zufrieden, als die verschiedenen Interessengruppen in Elsaß und Lothringen zum Teil wenigstens Bezeichnungen annahmen, die rein äußerlich eine nahe Verwandtschaft mit den geschichtlich aus Weltanschauungskämpfen erwachsenen Parteien des Reiches anzudeuten scheinen. Im Stimmenkampf um die arg umstrittene Mehr¬ heit und damit um die politische Macht glaubte man auch offenen Protestlern nicht die Türe weisen zu dürfen. Mutzten doch gut deutsch gesinnte Kreise im Lande selbst willig oder gezwungen dem Nationalismus Zugeständnisse machen, wollten sie nicht von vornherein auf jeden Einfluß verzichten. Mittelbar und unmittelbar wurde durch diese ganze Entwicklung nur der Protest selbst gestärkt, der sich jetzt unter den Schutz der „Autonomie" zurückzog und diesen Begriff, der ursprünglich von wohlmeinenden Elsässern wie Graf Dürkheim und August Schneegans als eine Art deutschen Partikularismus aufgenommen worden war, von innen heraus umgestaltete. Wie sich diese Entwicklung im einzelnen vollzog, bis sie mit der sogenannten „Verfassungsreform" von 1911, an der Schwelle des Weltkrieges, ihre letzte Stufe erreichte — eine solche Darstellung ist zurzeit noch nicht möglich. Das eine aber darf und muß schon heute betont werden, daß sich in diesem letzten Viertel- lahrhundert des neuen Deutschen Reiches wie in den siebziger und achtziger Jahren Nationale und internationale Rücksichten und Interessen in der Behandlung des »Reichslandes" schneiden. Auch in der preußischen Polenpolitik wird eine ord¬ nende, unparteiisch abwägende Hand immer wieder den tiefen Einfluß der aus¬ wärtigen Politik des Reiches entdecken können. Aber die Versöhnungspolitik gegenüber dem Zaren zog doch wenigstens keine unmittelbaren nationalen Verluste nach sich i In Elsaß und Lothringen aber, das ist das unsagbar Tragische in der neueren deutschen Geschichte dieser Länder, bedeutete ein Nachgeben gegenüber Frankreich zugleich ein Nachlassen der nationalen Spannkraft. Während die Friedenspolitik Bismarcks selbst und seiner Nachfolger die wirtschaftlichen Kräfte des Reiches zu erhalten und zu stärken suchte, gab sie gleichzeitig im Westen fruchtbares Land preis, das mit dem Blute des ganzen deutschen Volkes als Symbol seiner Einheit erkauft war. Und mittelbar reizten diese Versöhnunys- versuche doch immer gerade aufs neue die Begehrlichkeit des Gegners. Seit die Wege vom „Reichsland" zur Neichsprovinz oder zur Angliederung an einen der alten Bundesstaaten verlassen waren, schien Deutschland Elsaß und Lothringen, wenn auch zögernd, frei geben zu wollen. Wohl sank nach dem Zusammensturz des „Boulanger-Rummels" der „Protest" zunächst in sich zusammen. Aber sehr

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/73
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/73>, abgerufen am 22.07.2024.