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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Ideale uno Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

Papst Leos des Dreizehnter Anregung vom März 1887 freilich, durch
Neutralisierung von Elsaß und Lothringen kriegerische Verwicklungen zwischen
Deutschland und Frankreich zu verhüten, mußte bei Bismarck auf unfruchtbaren
Boden fallen. Die Mehrheit der nationalen Presse aber betonte unter dem Druck
der neuen Kriegsaussichten im Westen und Osten jetzt nachdrücklich die unbedingte
Notwendigkeit einer durchgreifenden Änderung im staatsrechtlichen Charakter des
Reichslandes. Man fühlte das Bedürfnis, die nationalen Interessen in der West¬
mark gegenüber den überwuchernden internationalen Rücksichten endlich nachhaltig
und dauernd zu stärken. Wie Fürst Hohenlohe berichtet, wurde im Bundesrat und
Reichstag wiederum ernsthaft von einer Teilung zwischen Preußen, Bayern
und Baden und von einer Rückkehr zum Oberpräsidium gesprochen. Der Gedanke
an ein "Kronprinzenland" mußte angesichts der Krankheit des Thronfolgers bald
fallen gelassen werden. Die Schöpfung einer neuen Dauphinöe im deutschen
Vundesstaat erwies sich von vornherein als staatsrechtlich und politisch unfruchtbar.
Treue Freunde des Landes empfahlen vielmehr aufs neue dringend die Einverleibung
Elsaß-Lothringens in Preußen. Wohl unbewußt knüpftedabei die Berliner "National¬
zeitung" fast unmittelbar an die Gedankengänge an, die uns aus der Zeit der Reichs¬
gründung bekannt sind. In einer Reihe von Aufsätzen, denen Lujo Brentano, damals
Professor in Straßburg, nahestand, empfahl sie dringend den Ausbau Elsaß-
Lothringens als Provinz des Reiches, in der der Landesausschuß lediglich die
Rechte und Pflichten eines Provinziallandtages erhalten solle. Nach einer offiziösen
Nachricht scheint das preußische Staatsministerium damals in ber Tat beschlossen
zu haben, diese Überleitung des "Reichslandes" zur "Reichsprovinz" in Angriff
zu nehmen. Die Anregung soll jedoch nie vor den Bundesrat gekommen sein:
angeblich, weil Kaiser Wilhelm der Erste seinen Statthalter, den getreuen Fürsten
Chlodwig Hohenlohe, nicht verletzen wollte. In Wahrheit wird die Meinung
Bismarcks den Ausschlag gegeben haben, der um der elsaß-lothringischen Frage
willen sicherlich weder zwischen den Parteien im Reich und in Preußen, noch nach
außen einen entscheidungsschweren Streit entfesseln wollte.

Bereits im März 1888 wurde Boulanger gestürzt. Die noch schwebenden
Grenzstreitigkeiten mit Frankreich legte der Reichskanzler mit weitgehendem Ent¬
gegenkommen bei. Die gleichzeitig im nahen Osten zwischen Rußland und Österreich-
Ungarn aufsteigenden Kriegswolken wurden durch Vermittlung Deutschlands zer¬
streut, das jetzt in Gemeinschaft mit Frankreich und Rußland den Sultan zur
Absetzung Fürst Ferdinands von Bulgarien veranlaßte. Wenn sich auch trotz all
dieser Bemühungen schon Ende 1888 das entscheidende Band zwischen dem
Kapitalismus der französischen Republik und der russischen Autokratie knüpfen
sollte: der Weltfrieden blieb auch in dieser schwersten Krisis, die Europa seit der
Gründung des Deutschen Reiches zu bestehen hatte, gesichert. Und ebenso brachte
in der Innenpolitik Deutschlands das Wahlkartell, das damals auch die National-
liberalen wieder zur Mehrheitsbildung und zur Unterstützung der Reichsregierung
heranzog, den unitarischen Gedanken nur einen Pyrrhussieg. Überraschend schnell
verebbte die kurze Einheitswelle, die in diesen Tagen durch das deutsche Volk
ging, als Bismarck selbst zur alten Versöhnungspolitik im Innern und nach außen
zurückkehrte. Besaß doch nach der Ansicht des Kanzlers nur die konservative und
föderative Mehrheit die Kraft, dauernd die ungeheure Wucht der Rechte und
Pflichten zu tragen, mit denen seine Sozial- und Wirtschaftspolitik seit einem
Jahrzehnt den Staat belastet hatte. Nur sie schien das Verständnis für die vor¬
sichtig abwägende Staatskunst zu bewahren, die das Gesetz unseres Daseins in
Mitteleuropa ist. Fester denn je suchte Bismarck in der Folge Halt und Stütze
an den Einzelregierungen und Dynastien, deren Bedeutung als Bindemittel der
Nation er bald darauf fast überschwenglich pries.

Auch in der Behandlung der elsaß-lothringischen Frage kehrte unter diesen
doppelten Auspizien der deutschen Gesamtpolitik schon im Dreikaiserjahr die alte
nationale Gleichgültigkeit zurück. Wer Land und Volk kennt, würde immer neue


Ideale uno Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

Papst Leos des Dreizehnter Anregung vom März 1887 freilich, durch
Neutralisierung von Elsaß und Lothringen kriegerische Verwicklungen zwischen
Deutschland und Frankreich zu verhüten, mußte bei Bismarck auf unfruchtbaren
Boden fallen. Die Mehrheit der nationalen Presse aber betonte unter dem Druck
der neuen Kriegsaussichten im Westen und Osten jetzt nachdrücklich die unbedingte
Notwendigkeit einer durchgreifenden Änderung im staatsrechtlichen Charakter des
Reichslandes. Man fühlte das Bedürfnis, die nationalen Interessen in der West¬
mark gegenüber den überwuchernden internationalen Rücksichten endlich nachhaltig
und dauernd zu stärken. Wie Fürst Hohenlohe berichtet, wurde im Bundesrat und
Reichstag wiederum ernsthaft von einer Teilung zwischen Preußen, Bayern
und Baden und von einer Rückkehr zum Oberpräsidium gesprochen. Der Gedanke
an ein „Kronprinzenland" mußte angesichts der Krankheit des Thronfolgers bald
fallen gelassen werden. Die Schöpfung einer neuen Dauphinöe im deutschen
Vundesstaat erwies sich von vornherein als staatsrechtlich und politisch unfruchtbar.
Treue Freunde des Landes empfahlen vielmehr aufs neue dringend die Einverleibung
Elsaß-Lothringens in Preußen. Wohl unbewußt knüpftedabei die Berliner „National¬
zeitung" fast unmittelbar an die Gedankengänge an, die uns aus der Zeit der Reichs¬
gründung bekannt sind. In einer Reihe von Aufsätzen, denen Lujo Brentano, damals
Professor in Straßburg, nahestand, empfahl sie dringend den Ausbau Elsaß-
Lothringens als Provinz des Reiches, in der der Landesausschuß lediglich die
Rechte und Pflichten eines Provinziallandtages erhalten solle. Nach einer offiziösen
Nachricht scheint das preußische Staatsministerium damals in ber Tat beschlossen
zu haben, diese Überleitung des „Reichslandes" zur „Reichsprovinz" in Angriff
zu nehmen. Die Anregung soll jedoch nie vor den Bundesrat gekommen sein:
angeblich, weil Kaiser Wilhelm der Erste seinen Statthalter, den getreuen Fürsten
Chlodwig Hohenlohe, nicht verletzen wollte. In Wahrheit wird die Meinung
Bismarcks den Ausschlag gegeben haben, der um der elsaß-lothringischen Frage
willen sicherlich weder zwischen den Parteien im Reich und in Preußen, noch nach
außen einen entscheidungsschweren Streit entfesseln wollte.

Bereits im März 1888 wurde Boulanger gestürzt. Die noch schwebenden
Grenzstreitigkeiten mit Frankreich legte der Reichskanzler mit weitgehendem Ent¬
gegenkommen bei. Die gleichzeitig im nahen Osten zwischen Rußland und Österreich-
Ungarn aufsteigenden Kriegswolken wurden durch Vermittlung Deutschlands zer¬
streut, das jetzt in Gemeinschaft mit Frankreich und Rußland den Sultan zur
Absetzung Fürst Ferdinands von Bulgarien veranlaßte. Wenn sich auch trotz all
dieser Bemühungen schon Ende 1888 das entscheidende Band zwischen dem
Kapitalismus der französischen Republik und der russischen Autokratie knüpfen
sollte: der Weltfrieden blieb auch in dieser schwersten Krisis, die Europa seit der
Gründung des Deutschen Reiches zu bestehen hatte, gesichert. Und ebenso brachte
in der Innenpolitik Deutschlands das Wahlkartell, das damals auch die National-
liberalen wieder zur Mehrheitsbildung und zur Unterstützung der Reichsregierung
heranzog, den unitarischen Gedanken nur einen Pyrrhussieg. Überraschend schnell
verebbte die kurze Einheitswelle, die in diesen Tagen durch das deutsche Volk
ging, als Bismarck selbst zur alten Versöhnungspolitik im Innern und nach außen
zurückkehrte. Besaß doch nach der Ansicht des Kanzlers nur die konservative und
föderative Mehrheit die Kraft, dauernd die ungeheure Wucht der Rechte und
Pflichten zu tragen, mit denen seine Sozial- und Wirtschaftspolitik seit einem
Jahrzehnt den Staat belastet hatte. Nur sie schien das Verständnis für die vor¬
sichtig abwägende Staatskunst zu bewahren, die das Gesetz unseres Daseins in
Mitteleuropa ist. Fester denn je suchte Bismarck in der Folge Halt und Stütze
an den Einzelregierungen und Dynastien, deren Bedeutung als Bindemittel der
Nation er bald darauf fast überschwenglich pries.

Auch in der Behandlung der elsaß-lothringischen Frage kehrte unter diesen
doppelten Auspizien der deutschen Gesamtpolitik schon im Dreikaiserjahr die alte
nationale Gleichgültigkeit zurück. Wer Land und Volk kennt, würde immer neue


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[0072] Ideale uno Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage Papst Leos des Dreizehnter Anregung vom März 1887 freilich, durch Neutralisierung von Elsaß und Lothringen kriegerische Verwicklungen zwischen Deutschland und Frankreich zu verhüten, mußte bei Bismarck auf unfruchtbaren Boden fallen. Die Mehrheit der nationalen Presse aber betonte unter dem Druck der neuen Kriegsaussichten im Westen und Osten jetzt nachdrücklich die unbedingte Notwendigkeit einer durchgreifenden Änderung im staatsrechtlichen Charakter des Reichslandes. Man fühlte das Bedürfnis, die nationalen Interessen in der West¬ mark gegenüber den überwuchernden internationalen Rücksichten endlich nachhaltig und dauernd zu stärken. Wie Fürst Hohenlohe berichtet, wurde im Bundesrat und Reichstag wiederum ernsthaft von einer Teilung zwischen Preußen, Bayern und Baden und von einer Rückkehr zum Oberpräsidium gesprochen. Der Gedanke an ein „Kronprinzenland" mußte angesichts der Krankheit des Thronfolgers bald fallen gelassen werden. Die Schöpfung einer neuen Dauphinöe im deutschen Vundesstaat erwies sich von vornherein als staatsrechtlich und politisch unfruchtbar. Treue Freunde des Landes empfahlen vielmehr aufs neue dringend die Einverleibung Elsaß-Lothringens in Preußen. Wohl unbewußt knüpftedabei die Berliner „National¬ zeitung" fast unmittelbar an die Gedankengänge an, die uns aus der Zeit der Reichs¬ gründung bekannt sind. In einer Reihe von Aufsätzen, denen Lujo Brentano, damals Professor in Straßburg, nahestand, empfahl sie dringend den Ausbau Elsaß- Lothringens als Provinz des Reiches, in der der Landesausschuß lediglich die Rechte und Pflichten eines Provinziallandtages erhalten solle. Nach einer offiziösen Nachricht scheint das preußische Staatsministerium damals in ber Tat beschlossen zu haben, diese Überleitung des „Reichslandes" zur „Reichsprovinz" in Angriff zu nehmen. Die Anregung soll jedoch nie vor den Bundesrat gekommen sein: angeblich, weil Kaiser Wilhelm der Erste seinen Statthalter, den getreuen Fürsten Chlodwig Hohenlohe, nicht verletzen wollte. In Wahrheit wird die Meinung Bismarcks den Ausschlag gegeben haben, der um der elsaß-lothringischen Frage willen sicherlich weder zwischen den Parteien im Reich und in Preußen, noch nach außen einen entscheidungsschweren Streit entfesseln wollte. Bereits im März 1888 wurde Boulanger gestürzt. Die noch schwebenden Grenzstreitigkeiten mit Frankreich legte der Reichskanzler mit weitgehendem Ent¬ gegenkommen bei. Die gleichzeitig im nahen Osten zwischen Rußland und Österreich- Ungarn aufsteigenden Kriegswolken wurden durch Vermittlung Deutschlands zer¬ streut, das jetzt in Gemeinschaft mit Frankreich und Rußland den Sultan zur Absetzung Fürst Ferdinands von Bulgarien veranlaßte. Wenn sich auch trotz all dieser Bemühungen schon Ende 1888 das entscheidende Band zwischen dem Kapitalismus der französischen Republik und der russischen Autokratie knüpfen sollte: der Weltfrieden blieb auch in dieser schwersten Krisis, die Europa seit der Gründung des Deutschen Reiches zu bestehen hatte, gesichert. Und ebenso brachte in der Innenpolitik Deutschlands das Wahlkartell, das damals auch die National- liberalen wieder zur Mehrheitsbildung und zur Unterstützung der Reichsregierung heranzog, den unitarischen Gedanken nur einen Pyrrhussieg. Überraschend schnell verebbte die kurze Einheitswelle, die in diesen Tagen durch das deutsche Volk ging, als Bismarck selbst zur alten Versöhnungspolitik im Innern und nach außen zurückkehrte. Besaß doch nach der Ansicht des Kanzlers nur die konservative und föderative Mehrheit die Kraft, dauernd die ungeheure Wucht der Rechte und Pflichten zu tragen, mit denen seine Sozial- und Wirtschaftspolitik seit einem Jahrzehnt den Staat belastet hatte. Nur sie schien das Verständnis für die vor¬ sichtig abwägende Staatskunst zu bewahren, die das Gesetz unseres Daseins in Mitteleuropa ist. Fester denn je suchte Bismarck in der Folge Halt und Stütze an den Einzelregierungen und Dynastien, deren Bedeutung als Bindemittel der Nation er bald darauf fast überschwenglich pries. Auch in der Behandlung der elsaß-lothringischen Frage kehrte unter diesen doppelten Auspizien der deutschen Gesamtpolitik schon im Dreikaiserjahr die alte nationale Gleichgültigkeit zurück. Wer Land und Volk kennt, würde immer neue

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/72>, abgerufen am 24.07.2024.