Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frag"

und 1870 es je erhofft hatten. Als Edwin von Manteuffel am 1. Oktober 1879
sein neues Amt in Straßburg antrat, schien die Aufgabe, die die Nation und ihr
Kanzler dem "Reichslande" im diplomatischen und politischen Kampfe um die
Reichsverfassung zugewiesen hatten, gelöst. Ihre Weiterführung hatten andere,
modernere Kräfte übernommen, die das staatliche Wesen des Reiches mit neuem
Leben und Inhalt erfüllten. Seitdem erst ist das vereinigte Elsaß und Lothringen
das Zwittergebilde zwischen Provinz und Staat geworden, dessen innere und
äußere Entwicklung weit abführte von den idealen Anschauungen, die die unitarischen
und liberalen Parteien Deutschlands noch im Jahre 1870 vom "Reichsland" hegen
durften.

Nicht der wechselnden Landesverwaltung, Statthaltern und Ministerien, wird
man daher die größte Schuld an allen Mißgriffen und Versäumnissen zuschreiben
dürfen, an denen die neueste Geschichte Elsaß und Lothringens so überreich ist.
In erster Reihe tragen Volksvertretung und Regierung im Reiche die ungeheuer
große Verantwortung. Als Bismarck den Föderalismus zum Kampfgenossen gegen
den unitarisch gerichteten Parlamentarismus erkor, entsagte er jeder Teilnahme
am folgerichtigen staatsrechtlichen Ausbau Elsaß-Lothringens. Sein Gegenspieler
gar. der Reichstag, hat fast seit der Erwerbung der oberrheinischen Grenzmark
das Recht und die Zukunft des "Reichslandes" sowie die politischen Überzeugungen
seiner Bevölkerung zum Spielball der eigenen inneren Parteikämpfe gemacht. Wie
in der Vorgeschichte der Reichsgründung verbanden sich Partikularismus und
Demokratie zu unheilvollen Bunde. An Stelle des Partikularismus der Dynastien
trat der der Parteien, von denen sich das deutsche Volk selbst auch in nationalen
Fragen leiten ließ. Langsam aber stetig gewannen im Kampf der nationalen und
internationalen Kräfte, die wir bereits 1870 und 1879 in Begründung und Aus¬
gestaltung des "Neichslandes" lebendig sahen, außenpolitischeNücksichten dieOberhand.

Nur einmal ist. soviel wir heute wissen, der Gedanke ernsthaft erwogen
worden, die unitarischen Ideale, die sich 1870 mit dem "Reichsland" verbanden,
wenigstens zum Teil durchzuführen. Der längst drohende Zweifrontenkrieg um
das Dasein des Reiches schien zur Wahrheit zu werden, als die aufflammende
Revanchelust Frankreichs im Februar 1887 auch die öffentliche Meinung in Rußland
zu Taten rief. "Nußland werde jetzt die Orientfrage an die zweite Stelle rücken",
hieß es in Petersburg, "und die Vorgänge am Rhein überwachen; sein eigener Vorteil
verbiete ihm, einem möglichen deutsch-französischen Krieg mit der gleichen wohl¬
wollenden Unparteilichkeit wie im Jahre 1870 zuzusehen". Die beiden schlimmsten
Gegner des jungen Reiches, Panslawismus und französischer Revanchegedanke,
reichten sich über Mitteleuropa hinweg die Hand. In dieser Gefahr suchte Bismarck
den Zaren bekanntlich zunächst durch eine scharfe Polenpolitik gefügig zu machen.
1885 begannen große Ausweisungen in Posen, wo man plötzlich "slawische Sym¬
pathien" entdeckt hatte. Ein Jahr später erschien das erste Ansiedlungsgesetz als
"Maßregel zur Germanisierung der Provinz". Als dies Entgegenkommen in
Petersburg nicht, wie bisher so oft, genügte, zeigte der Reichskanzler nacheinander
Zuckerbrod und Peitsche: der RückVersicherungsvertrag vom Juni 1887 rief noch
einmal die gute Überlieferung der Dreikaisertage wach; die Veröffentlichung des
deutsch-österreichischen Bündnisvertrages im Februar 1888 sollte als Warnungsschuß
das russische Schlachtschiff zum Beidrehen zwingen. Nach Westen hin, wo Boulanger
offen zum Rachekrieg rüstete, richtete der Kanzler gleichzeitig das Mahnwort:
"Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt", nachdem er bereits
im Jahre zuvor mit ganz ungewohnter Schärfe gegen Hoch- und Landesverrat
auf dem elsaß-lothringischen Glacis des Reiches eingeschritten war. Als gleichzeitig
die Reichstagswahlen im Reichslande selbst der schärfsten, unversöhnlichen Richtung
der Protestier auf der ganzen Linie den offenen Sieg brachten, wurden An
Reiche aufs neue Bestrebungen wach, die in den schweren Tagen des Kultur¬
kampfes und der wirtschaftspolitischen Neuorientierung fast völlig vergessen zu
sein schienen.


Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frag«

und 1870 es je erhofft hatten. Als Edwin von Manteuffel am 1. Oktober 1879
sein neues Amt in Straßburg antrat, schien die Aufgabe, die die Nation und ihr
Kanzler dem „Reichslande" im diplomatischen und politischen Kampfe um die
Reichsverfassung zugewiesen hatten, gelöst. Ihre Weiterführung hatten andere,
modernere Kräfte übernommen, die das staatliche Wesen des Reiches mit neuem
Leben und Inhalt erfüllten. Seitdem erst ist das vereinigte Elsaß und Lothringen
das Zwittergebilde zwischen Provinz und Staat geworden, dessen innere und
äußere Entwicklung weit abführte von den idealen Anschauungen, die die unitarischen
und liberalen Parteien Deutschlands noch im Jahre 1870 vom „Reichsland" hegen
durften.

Nicht der wechselnden Landesverwaltung, Statthaltern und Ministerien, wird
man daher die größte Schuld an allen Mißgriffen und Versäumnissen zuschreiben
dürfen, an denen die neueste Geschichte Elsaß und Lothringens so überreich ist.
In erster Reihe tragen Volksvertretung und Regierung im Reiche die ungeheuer
große Verantwortung. Als Bismarck den Föderalismus zum Kampfgenossen gegen
den unitarisch gerichteten Parlamentarismus erkor, entsagte er jeder Teilnahme
am folgerichtigen staatsrechtlichen Ausbau Elsaß-Lothringens. Sein Gegenspieler
gar. der Reichstag, hat fast seit der Erwerbung der oberrheinischen Grenzmark
das Recht und die Zukunft des „Reichslandes" sowie die politischen Überzeugungen
seiner Bevölkerung zum Spielball der eigenen inneren Parteikämpfe gemacht. Wie
in der Vorgeschichte der Reichsgründung verbanden sich Partikularismus und
Demokratie zu unheilvollen Bunde. An Stelle des Partikularismus der Dynastien
trat der der Parteien, von denen sich das deutsche Volk selbst auch in nationalen
Fragen leiten ließ. Langsam aber stetig gewannen im Kampf der nationalen und
internationalen Kräfte, die wir bereits 1870 und 1879 in Begründung und Aus¬
gestaltung des „Neichslandes" lebendig sahen, außenpolitischeNücksichten dieOberhand.

Nur einmal ist. soviel wir heute wissen, der Gedanke ernsthaft erwogen
worden, die unitarischen Ideale, die sich 1870 mit dem „Reichsland" verbanden,
wenigstens zum Teil durchzuführen. Der längst drohende Zweifrontenkrieg um
das Dasein des Reiches schien zur Wahrheit zu werden, als die aufflammende
Revanchelust Frankreichs im Februar 1887 auch die öffentliche Meinung in Rußland
zu Taten rief. „Nußland werde jetzt die Orientfrage an die zweite Stelle rücken",
hieß es in Petersburg, „und die Vorgänge am Rhein überwachen; sein eigener Vorteil
verbiete ihm, einem möglichen deutsch-französischen Krieg mit der gleichen wohl¬
wollenden Unparteilichkeit wie im Jahre 1870 zuzusehen". Die beiden schlimmsten
Gegner des jungen Reiches, Panslawismus und französischer Revanchegedanke,
reichten sich über Mitteleuropa hinweg die Hand. In dieser Gefahr suchte Bismarck
den Zaren bekanntlich zunächst durch eine scharfe Polenpolitik gefügig zu machen.
1885 begannen große Ausweisungen in Posen, wo man plötzlich „slawische Sym¬
pathien" entdeckt hatte. Ein Jahr später erschien das erste Ansiedlungsgesetz als
»Maßregel zur Germanisierung der Provinz". Als dies Entgegenkommen in
Petersburg nicht, wie bisher so oft, genügte, zeigte der Reichskanzler nacheinander
Zuckerbrod und Peitsche: der RückVersicherungsvertrag vom Juni 1887 rief noch
einmal die gute Überlieferung der Dreikaisertage wach; die Veröffentlichung des
deutsch-österreichischen Bündnisvertrages im Februar 1888 sollte als Warnungsschuß
das russische Schlachtschiff zum Beidrehen zwingen. Nach Westen hin, wo Boulanger
offen zum Rachekrieg rüstete, richtete der Kanzler gleichzeitig das Mahnwort:
„Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt", nachdem er bereits
im Jahre zuvor mit ganz ungewohnter Schärfe gegen Hoch- und Landesverrat
auf dem elsaß-lothringischen Glacis des Reiches eingeschritten war. Als gleichzeitig
die Reichstagswahlen im Reichslande selbst der schärfsten, unversöhnlichen Richtung
der Protestier auf der ganzen Linie den offenen Sieg brachten, wurden An
Reiche aufs neue Bestrebungen wach, die in den schweren Tagen des Kultur¬
kampfes und der wirtschaftspolitischen Neuorientierung fast völlig vergessen zu
sein schienen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0071" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333916"/>
          <fw type="header" place="top"> Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frag«</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_254" prev="#ID_253"> und 1870 es je erhofft hatten. Als Edwin von Manteuffel am 1. Oktober 1879<lb/>
sein neues Amt in Straßburg antrat, schien die Aufgabe, die die Nation und ihr<lb/>
Kanzler dem &#x201E;Reichslande" im diplomatischen und politischen Kampfe um die<lb/>
Reichsverfassung zugewiesen hatten, gelöst. Ihre Weiterführung hatten andere,<lb/>
modernere Kräfte übernommen, die das staatliche Wesen des Reiches mit neuem<lb/>
Leben und Inhalt erfüllten. Seitdem erst ist das vereinigte Elsaß und Lothringen<lb/>
das Zwittergebilde zwischen Provinz und Staat geworden, dessen innere und<lb/>
äußere Entwicklung weit abführte von den idealen Anschauungen, die die unitarischen<lb/>
und liberalen Parteien Deutschlands noch im Jahre 1870 vom &#x201E;Reichsland" hegen<lb/>
durften.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_255"> Nicht der wechselnden Landesverwaltung, Statthaltern und Ministerien, wird<lb/>
man daher die größte Schuld an allen Mißgriffen und Versäumnissen zuschreiben<lb/>
dürfen, an denen die neueste Geschichte Elsaß und Lothringens so überreich ist.<lb/>
In erster Reihe tragen Volksvertretung und Regierung im Reiche die ungeheuer<lb/>
große Verantwortung. Als Bismarck den Föderalismus zum Kampfgenossen gegen<lb/>
den unitarisch gerichteten Parlamentarismus erkor, entsagte er jeder Teilnahme<lb/>
am folgerichtigen staatsrechtlichen Ausbau Elsaß-Lothringens. Sein Gegenspieler<lb/>
gar. der Reichstag, hat fast seit der Erwerbung der oberrheinischen Grenzmark<lb/>
das Recht und die Zukunft des &#x201E;Reichslandes" sowie die politischen Überzeugungen<lb/>
seiner Bevölkerung zum Spielball der eigenen inneren Parteikämpfe gemacht. Wie<lb/>
in der Vorgeschichte der Reichsgründung verbanden sich Partikularismus und<lb/>
Demokratie zu unheilvollen Bunde. An Stelle des Partikularismus der Dynastien<lb/>
trat der der Parteien, von denen sich das deutsche Volk selbst auch in nationalen<lb/>
Fragen leiten ließ. Langsam aber stetig gewannen im Kampf der nationalen und<lb/>
internationalen Kräfte, die wir bereits 1870 und 1879 in Begründung und Aus¬<lb/>
gestaltung des &#x201E;Neichslandes" lebendig sahen, außenpolitischeNücksichten dieOberhand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_256"> Nur einmal ist. soviel wir heute wissen, der Gedanke ernsthaft erwogen<lb/>
worden, die unitarischen Ideale, die sich 1870 mit dem &#x201E;Reichsland" verbanden,<lb/>
wenigstens zum Teil durchzuführen. Der längst drohende Zweifrontenkrieg um<lb/>
das Dasein des Reiches schien zur Wahrheit zu werden, als die aufflammende<lb/>
Revanchelust Frankreichs im Februar 1887 auch die öffentliche Meinung in Rußland<lb/>
zu Taten rief. &#x201E;Nußland werde jetzt die Orientfrage an die zweite Stelle rücken",<lb/>
hieß es in Petersburg, &#x201E;und die Vorgänge am Rhein überwachen; sein eigener Vorteil<lb/>
verbiete ihm, einem möglichen deutsch-französischen Krieg mit der gleichen wohl¬<lb/>
wollenden Unparteilichkeit wie im Jahre 1870 zuzusehen". Die beiden schlimmsten<lb/>
Gegner des jungen Reiches, Panslawismus und französischer Revanchegedanke,<lb/>
reichten sich über Mitteleuropa hinweg die Hand. In dieser Gefahr suchte Bismarck<lb/>
den Zaren bekanntlich zunächst durch eine scharfe Polenpolitik gefügig zu machen.<lb/>
1885 begannen große Ausweisungen in Posen, wo man plötzlich &#x201E;slawische Sym¬<lb/>
pathien" entdeckt hatte. Ein Jahr später erschien das erste Ansiedlungsgesetz als<lb/>
»Maßregel zur Germanisierung der Provinz". Als dies Entgegenkommen in<lb/>
Petersburg nicht, wie bisher so oft, genügte, zeigte der Reichskanzler nacheinander<lb/>
Zuckerbrod und Peitsche: der RückVersicherungsvertrag vom Juni 1887 rief noch<lb/>
einmal die gute Überlieferung der Dreikaisertage wach; die Veröffentlichung des<lb/>
deutsch-österreichischen Bündnisvertrages im Februar 1888 sollte als Warnungsschuß<lb/>
das russische Schlachtschiff zum Beidrehen zwingen. Nach Westen hin, wo Boulanger<lb/>
offen zum Rachekrieg rüstete, richtete der Kanzler gleichzeitig das Mahnwort:<lb/>
&#x201E;Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt", nachdem er bereits<lb/>
im Jahre zuvor mit ganz ungewohnter Schärfe gegen Hoch- und Landesverrat<lb/>
auf dem elsaß-lothringischen Glacis des Reiches eingeschritten war. Als gleichzeitig<lb/>
die Reichstagswahlen im Reichslande selbst der schärfsten, unversöhnlichen Richtung<lb/>
der Protestier auf der ganzen Linie den offenen Sieg brachten, wurden An<lb/>
Reiche aufs neue Bestrebungen wach, die in den schweren Tagen des Kultur¬<lb/>
kampfes und der wirtschaftspolitischen Neuorientierung fast völlig vergessen zu<lb/>
sein schienen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0071] Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frag« und 1870 es je erhofft hatten. Als Edwin von Manteuffel am 1. Oktober 1879 sein neues Amt in Straßburg antrat, schien die Aufgabe, die die Nation und ihr Kanzler dem „Reichslande" im diplomatischen und politischen Kampfe um die Reichsverfassung zugewiesen hatten, gelöst. Ihre Weiterführung hatten andere, modernere Kräfte übernommen, die das staatliche Wesen des Reiches mit neuem Leben und Inhalt erfüllten. Seitdem erst ist das vereinigte Elsaß und Lothringen das Zwittergebilde zwischen Provinz und Staat geworden, dessen innere und äußere Entwicklung weit abführte von den idealen Anschauungen, die die unitarischen und liberalen Parteien Deutschlands noch im Jahre 1870 vom „Reichsland" hegen durften. Nicht der wechselnden Landesverwaltung, Statthaltern und Ministerien, wird man daher die größte Schuld an allen Mißgriffen und Versäumnissen zuschreiben dürfen, an denen die neueste Geschichte Elsaß und Lothringens so überreich ist. In erster Reihe tragen Volksvertretung und Regierung im Reiche die ungeheuer große Verantwortung. Als Bismarck den Föderalismus zum Kampfgenossen gegen den unitarisch gerichteten Parlamentarismus erkor, entsagte er jeder Teilnahme am folgerichtigen staatsrechtlichen Ausbau Elsaß-Lothringens. Sein Gegenspieler gar. der Reichstag, hat fast seit der Erwerbung der oberrheinischen Grenzmark das Recht und die Zukunft des „Reichslandes" sowie die politischen Überzeugungen seiner Bevölkerung zum Spielball der eigenen inneren Parteikämpfe gemacht. Wie in der Vorgeschichte der Reichsgründung verbanden sich Partikularismus und Demokratie zu unheilvollen Bunde. An Stelle des Partikularismus der Dynastien trat der der Parteien, von denen sich das deutsche Volk selbst auch in nationalen Fragen leiten ließ. Langsam aber stetig gewannen im Kampf der nationalen und internationalen Kräfte, die wir bereits 1870 und 1879 in Begründung und Aus¬ gestaltung des „Neichslandes" lebendig sahen, außenpolitischeNücksichten dieOberhand. Nur einmal ist. soviel wir heute wissen, der Gedanke ernsthaft erwogen worden, die unitarischen Ideale, die sich 1870 mit dem „Reichsland" verbanden, wenigstens zum Teil durchzuführen. Der längst drohende Zweifrontenkrieg um das Dasein des Reiches schien zur Wahrheit zu werden, als die aufflammende Revanchelust Frankreichs im Februar 1887 auch die öffentliche Meinung in Rußland zu Taten rief. „Nußland werde jetzt die Orientfrage an die zweite Stelle rücken", hieß es in Petersburg, „und die Vorgänge am Rhein überwachen; sein eigener Vorteil verbiete ihm, einem möglichen deutsch-französischen Krieg mit der gleichen wohl¬ wollenden Unparteilichkeit wie im Jahre 1870 zuzusehen". Die beiden schlimmsten Gegner des jungen Reiches, Panslawismus und französischer Revanchegedanke, reichten sich über Mitteleuropa hinweg die Hand. In dieser Gefahr suchte Bismarck den Zaren bekanntlich zunächst durch eine scharfe Polenpolitik gefügig zu machen. 1885 begannen große Ausweisungen in Posen, wo man plötzlich „slawische Sym¬ pathien" entdeckt hatte. Ein Jahr später erschien das erste Ansiedlungsgesetz als »Maßregel zur Germanisierung der Provinz". Als dies Entgegenkommen in Petersburg nicht, wie bisher so oft, genügte, zeigte der Reichskanzler nacheinander Zuckerbrod und Peitsche: der RückVersicherungsvertrag vom Juni 1887 rief noch einmal die gute Überlieferung der Dreikaisertage wach; die Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Bündnisvertrages im Februar 1888 sollte als Warnungsschuß das russische Schlachtschiff zum Beidrehen zwingen. Nach Westen hin, wo Boulanger offen zum Rachekrieg rüstete, richtete der Kanzler gleichzeitig das Mahnwort: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt", nachdem er bereits im Jahre zuvor mit ganz ungewohnter Schärfe gegen Hoch- und Landesverrat auf dem elsaß-lothringischen Glacis des Reiches eingeschritten war. Als gleichzeitig die Reichstagswahlen im Reichslande selbst der schärfsten, unversöhnlichen Richtung der Protestier auf der ganzen Linie den offenen Sieg brachten, wurden An Reiche aufs neue Bestrebungen wach, die in den schweren Tagen des Kultur¬ kampfes und der wirtschaftspolitischen Neuorientierung fast völlig vergessen zu sein schienen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/71
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/71>, abgerufen am 04.07.2024.