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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Der preußische "Obrigkeitsstaat"

ein bekannter Lichteffekt dieser politischen Malerei -- der Glanz des "sich in be¬
rechtigter Empörung aufbäumenden freien Mannes", dessen Typus, obwohl das
nicht gesagt wird, natürlich jenseits der Grenzen zu finden ist. Um dergleichen
Tendenzreden zu widerlegen, brauchte man nur -- die Glocke des Herrn Parvus
zu zitieren, in deren Spalten wiederholt in sehr vernünftiger Weise der krankhaften
Kritiksucht an heimischer Art entgegengetreten wurde, sei es, daß ein französischer
Sozialist den wahren "Korporalismus" bei sich zu Hause entdeckte, sei es, daß
an Scheidemanns Stockholmer Warnung vor den maßlosen Übertreibungen der
Ohnmacht deutscher Demokratie und der Übermacht preußischer Obrigkeit erinnert
wird. Erst die unmittelbar vorhergehende Nummer (vom 10. August) hatte eine
"Zuschrift" veröffentlicht, die sich gegen "die in deutschen Köpfen spukende Vor¬
stellung von dem in Deutschland besonders anmaßenden Beamtentum und dem
vor ihm besonders würdelos kriechenden Volk" wendet, und das Urteil des Dänen
West anführt, daß unser Volk in seinem öffentlichen Leben in vielem weit demo¬
kratischer sei, als die mit Vorliebe die "freien" genannten Ententevölker. Wie
paßt übrigens bei Herrn Hirsch das fanatische Eifern gegen alles Bureaukratische
zu dem sozialistischen Programm, das naturnotwendig für einen starken Staats¬
zwang eintreten muß und dessen "angestrebte systematische Regelung der Güter¬
erzeugung und Güterverteilung gleichbedeutend wäre mit der Aufrichtung eines
ungeheuerlichen Systems von Bevormundung, Überwachung und Freiheits¬
beschränkung", wie der jetzige Kanzler als Professor eS einmal ausdrückte. Von
der Probe aufs Exempel durch den Verfassungsentwurf der föderativem Sowjet¬
republik*) ganz zu schweigen! Bei einem individualistischen Manchesterliberalen
könnte man eine solche Gesinnungsfeindschaft wohl verstehen, bei dem Sozialisten
Hirsch paßt sie wie die Faust aufs Auge. Oder sollte er die Trauben nur des-
halb sauer nennen, weil sie seiner Partei zu hoch hängen?

Es ist das gute Recht einer radikalen Partei, mit dem Bestehenden nicht
zufrieden zu sein und in Nie rastendem Fortschritt dem Ziele einer Vervollkomm¬
nung der staatlichen Zustände nachzustreben. Muß sie aber zu diesem Zwecke die
Vergangenheit mit Fußtritten bedenken, muß sie das in einer Zeit, wo auch dem
parteiverblendetsten Auge klar gemacht wird, welche moralischen Energien aus
dieser Vergangenheit quellen und in einem Riesenkampfe das Vaterland aufrecht
erhalten?! Oder ist es nicht das verächtliche "alte Preußen" gewesen, dessen
Kräfte uns über die Schwelle gehoben haben, die ins Reich der Bewährung und
der Erfolge führte? In England gestand man schon 1915, der eigene Staat
wäre an Deutschlands Stelle längst zusammengebrochen. Wir schätzen den natio¬
nalen Willen der sozialdemokratischen Massen wahrlich nicht gering ein, aber daß
diese Massen es allein gewesen sind, die unser Land gerettet haben, wird auch
Herr Hirsch schwerlich beweisen können, wenn auch das Berliner Zentralorgan
seiner Partei die kühne Behauptung wagt, daß deren Interessen ohne weiteres
mit denen des gesamten Vaterlandes gleichzusetzen seien.

Hirsch ist leider nur ein Beispiel für viele. Erst jüngst berief sich der
"Figaro" wieder auf die Klage der Fortschrittler. daß Preußen nach den Methoden
deS achtzehnten Jahrhunderts regiert werde, eine Ansicht, die sich Hirsch ja in
jeder Zeile seines Aufsatzes zu eigen macht. Ist man sich im Lager unserer Demo¬
kraten nicht klar, wie verhängnisvoll die verletzende Kritik an den heimischen Zu¬
ständen in den langen Jahren vor dem Kriege und nicht minder während des¬
selben gewirkt hat, wie jedes abfällige Wort im Acker unserer Feinde hundertfältig
Frucht trug und ihre Propagandarüstung verstärkte? Jene Leute klagen über
das verantwortungslose Treiben der Altdeutschen, die den Mühlen der Entente
das Wasser zutreiben: aber wenn diese dazu beigetragen haben, unser Staatswesen
in den Geruch des Welteroberers zu bringen, ist darum die Schuld ihrer sich so
Pharisäerhaft gebärdenden Gegner geringer, die demselben Staatswesen das Stigma
absolutistischer Willkür und obrigkeitlichen Zwanges an die Stirn schreiben? Viel-



*) Vgl. Heft 34 der "Grenzboten".
Der preußische „Obrigkeitsstaat"

ein bekannter Lichteffekt dieser politischen Malerei — der Glanz des „sich in be¬
rechtigter Empörung aufbäumenden freien Mannes", dessen Typus, obwohl das
nicht gesagt wird, natürlich jenseits der Grenzen zu finden ist. Um dergleichen
Tendenzreden zu widerlegen, brauchte man nur — die Glocke des Herrn Parvus
zu zitieren, in deren Spalten wiederholt in sehr vernünftiger Weise der krankhaften
Kritiksucht an heimischer Art entgegengetreten wurde, sei es, daß ein französischer
Sozialist den wahren „Korporalismus" bei sich zu Hause entdeckte, sei es, daß
an Scheidemanns Stockholmer Warnung vor den maßlosen Übertreibungen der
Ohnmacht deutscher Demokratie und der Übermacht preußischer Obrigkeit erinnert
wird. Erst die unmittelbar vorhergehende Nummer (vom 10. August) hatte eine
„Zuschrift" veröffentlicht, die sich gegen „die in deutschen Köpfen spukende Vor¬
stellung von dem in Deutschland besonders anmaßenden Beamtentum und dem
vor ihm besonders würdelos kriechenden Volk" wendet, und das Urteil des Dänen
West anführt, daß unser Volk in seinem öffentlichen Leben in vielem weit demo¬
kratischer sei, als die mit Vorliebe die „freien" genannten Ententevölker. Wie
paßt übrigens bei Herrn Hirsch das fanatische Eifern gegen alles Bureaukratische
zu dem sozialistischen Programm, das naturnotwendig für einen starken Staats¬
zwang eintreten muß und dessen „angestrebte systematische Regelung der Güter¬
erzeugung und Güterverteilung gleichbedeutend wäre mit der Aufrichtung eines
ungeheuerlichen Systems von Bevormundung, Überwachung und Freiheits¬
beschränkung", wie der jetzige Kanzler als Professor eS einmal ausdrückte. Von
der Probe aufs Exempel durch den Verfassungsentwurf der föderativem Sowjet¬
republik*) ganz zu schweigen! Bei einem individualistischen Manchesterliberalen
könnte man eine solche Gesinnungsfeindschaft wohl verstehen, bei dem Sozialisten
Hirsch paßt sie wie die Faust aufs Auge. Oder sollte er die Trauben nur des-
halb sauer nennen, weil sie seiner Partei zu hoch hängen?

Es ist das gute Recht einer radikalen Partei, mit dem Bestehenden nicht
zufrieden zu sein und in Nie rastendem Fortschritt dem Ziele einer Vervollkomm¬
nung der staatlichen Zustände nachzustreben. Muß sie aber zu diesem Zwecke die
Vergangenheit mit Fußtritten bedenken, muß sie das in einer Zeit, wo auch dem
parteiverblendetsten Auge klar gemacht wird, welche moralischen Energien aus
dieser Vergangenheit quellen und in einem Riesenkampfe das Vaterland aufrecht
erhalten?! Oder ist es nicht das verächtliche „alte Preußen" gewesen, dessen
Kräfte uns über die Schwelle gehoben haben, die ins Reich der Bewährung und
der Erfolge führte? In England gestand man schon 1915, der eigene Staat
wäre an Deutschlands Stelle längst zusammengebrochen. Wir schätzen den natio¬
nalen Willen der sozialdemokratischen Massen wahrlich nicht gering ein, aber daß
diese Massen es allein gewesen sind, die unser Land gerettet haben, wird auch
Herr Hirsch schwerlich beweisen können, wenn auch das Berliner Zentralorgan
seiner Partei die kühne Behauptung wagt, daß deren Interessen ohne weiteres
mit denen des gesamten Vaterlandes gleichzusetzen seien.

Hirsch ist leider nur ein Beispiel für viele. Erst jüngst berief sich der
„Figaro" wieder auf die Klage der Fortschrittler. daß Preußen nach den Methoden
deS achtzehnten Jahrhunderts regiert werde, eine Ansicht, die sich Hirsch ja in
jeder Zeile seines Aufsatzes zu eigen macht. Ist man sich im Lager unserer Demo¬
kraten nicht klar, wie verhängnisvoll die verletzende Kritik an den heimischen Zu¬
ständen in den langen Jahren vor dem Kriege und nicht minder während des¬
selben gewirkt hat, wie jedes abfällige Wort im Acker unserer Feinde hundertfältig
Frucht trug und ihre Propagandarüstung verstärkte? Jene Leute klagen über
das verantwortungslose Treiben der Altdeutschen, die den Mühlen der Entente
das Wasser zutreiben: aber wenn diese dazu beigetragen haben, unser Staatswesen
in den Geruch des Welteroberers zu bringen, ist darum die Schuld ihrer sich so
Pharisäerhaft gebärdenden Gegner geringer, die demselben Staatswesen das Stigma
absolutistischer Willkür und obrigkeitlichen Zwanges an die Stirn schreiben? Viel-



*) Vgl. Heft 34 der „Grenzboten".
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[0307] Der preußische „Obrigkeitsstaat" ein bekannter Lichteffekt dieser politischen Malerei — der Glanz des „sich in be¬ rechtigter Empörung aufbäumenden freien Mannes", dessen Typus, obwohl das nicht gesagt wird, natürlich jenseits der Grenzen zu finden ist. Um dergleichen Tendenzreden zu widerlegen, brauchte man nur — die Glocke des Herrn Parvus zu zitieren, in deren Spalten wiederholt in sehr vernünftiger Weise der krankhaften Kritiksucht an heimischer Art entgegengetreten wurde, sei es, daß ein französischer Sozialist den wahren „Korporalismus" bei sich zu Hause entdeckte, sei es, daß an Scheidemanns Stockholmer Warnung vor den maßlosen Übertreibungen der Ohnmacht deutscher Demokratie und der Übermacht preußischer Obrigkeit erinnert wird. Erst die unmittelbar vorhergehende Nummer (vom 10. August) hatte eine „Zuschrift" veröffentlicht, die sich gegen „die in deutschen Köpfen spukende Vor¬ stellung von dem in Deutschland besonders anmaßenden Beamtentum und dem vor ihm besonders würdelos kriechenden Volk" wendet, und das Urteil des Dänen West anführt, daß unser Volk in seinem öffentlichen Leben in vielem weit demo¬ kratischer sei, als die mit Vorliebe die „freien" genannten Ententevölker. Wie paßt übrigens bei Herrn Hirsch das fanatische Eifern gegen alles Bureaukratische zu dem sozialistischen Programm, das naturnotwendig für einen starken Staats¬ zwang eintreten muß und dessen „angestrebte systematische Regelung der Güter¬ erzeugung und Güterverteilung gleichbedeutend wäre mit der Aufrichtung eines ungeheuerlichen Systems von Bevormundung, Überwachung und Freiheits¬ beschränkung", wie der jetzige Kanzler als Professor eS einmal ausdrückte. Von der Probe aufs Exempel durch den Verfassungsentwurf der föderativem Sowjet¬ republik*) ganz zu schweigen! Bei einem individualistischen Manchesterliberalen könnte man eine solche Gesinnungsfeindschaft wohl verstehen, bei dem Sozialisten Hirsch paßt sie wie die Faust aufs Auge. Oder sollte er die Trauben nur des- halb sauer nennen, weil sie seiner Partei zu hoch hängen? Es ist das gute Recht einer radikalen Partei, mit dem Bestehenden nicht zufrieden zu sein und in Nie rastendem Fortschritt dem Ziele einer Vervollkomm¬ nung der staatlichen Zustände nachzustreben. Muß sie aber zu diesem Zwecke die Vergangenheit mit Fußtritten bedenken, muß sie das in einer Zeit, wo auch dem parteiverblendetsten Auge klar gemacht wird, welche moralischen Energien aus dieser Vergangenheit quellen und in einem Riesenkampfe das Vaterland aufrecht erhalten?! Oder ist es nicht das verächtliche „alte Preußen" gewesen, dessen Kräfte uns über die Schwelle gehoben haben, die ins Reich der Bewährung und der Erfolge führte? In England gestand man schon 1915, der eigene Staat wäre an Deutschlands Stelle längst zusammengebrochen. Wir schätzen den natio¬ nalen Willen der sozialdemokratischen Massen wahrlich nicht gering ein, aber daß diese Massen es allein gewesen sind, die unser Land gerettet haben, wird auch Herr Hirsch schwerlich beweisen können, wenn auch das Berliner Zentralorgan seiner Partei die kühne Behauptung wagt, daß deren Interessen ohne weiteres mit denen des gesamten Vaterlandes gleichzusetzen seien. Hirsch ist leider nur ein Beispiel für viele. Erst jüngst berief sich der „Figaro" wieder auf die Klage der Fortschrittler. daß Preußen nach den Methoden deS achtzehnten Jahrhunderts regiert werde, eine Ansicht, die sich Hirsch ja in jeder Zeile seines Aufsatzes zu eigen macht. Ist man sich im Lager unserer Demo¬ kraten nicht klar, wie verhängnisvoll die verletzende Kritik an den heimischen Zu¬ ständen in den langen Jahren vor dem Kriege und nicht minder während des¬ selben gewirkt hat, wie jedes abfällige Wort im Acker unserer Feinde hundertfältig Frucht trug und ihre Propagandarüstung verstärkte? Jene Leute klagen über das verantwortungslose Treiben der Altdeutschen, die den Mühlen der Entente das Wasser zutreiben: aber wenn diese dazu beigetragen haben, unser Staatswesen in den Geruch des Welteroberers zu bringen, ist darum die Schuld ihrer sich so Pharisäerhaft gebärdenden Gegner geringer, die demselben Staatswesen das Stigma absolutistischer Willkür und obrigkeitlichen Zwanges an die Stirn schreiben? Viel- *) Vgl. Heft 34 der „Grenzboten".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/307>, abgerufen am 22.07.2024.