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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Bevölkerungspolitik oder Geburtenpolitik?

der Geburtenzahl aufzuhalten, positiv ausgedrückt: die Zahl der Geburten in
unserem Volke zu vermehren. Dies und nichts anderes war der ursprüngliche
Sinn der "Bevölkerungspolitik"; und nur eine solche Bevölkerungspolitik, d. h.
eine Bevölkerungspolitik, die eine Vermehrung der Geburtenzahl anstrebt, kann
geeignet erscheinen, unser Volk vor dem Rassenselbstmord des Geburtenrückganges
zu behüten.

Nun kann man allerdings sagen, daß es auf die Geburtenzahl an sich
eigentlich gar nicht ankomme, sondern auf den Geburtenüberschuß, und daß dieser
ebensogut durch eine Verminderung der Sterblichkeit wie durch eine Vermehrung der
Geburten erreicht werden könne. Eine derartige Ausdrucksweise würde aber, trotz-
dem sie theoretisch nicht unrichtig ist, zu einer gänzlich schiefen Auffassung der
tatsächlichen Verhältnisse führen. Sie würde dazu verleiten, den fortschreitenden
Charakter des Geburtenrückganges zu übersehen. In diesem fortschreitenden Cha¬
rakter liegt es aber begründet, daß eine weitere Verminderung der Sterblichkeit
den eigentlichen Geburtenrückgang zwar noch eine Weile vertuschen aber niemals
das dauernde Anwachsen der Gefahr, die der Geburtenrückgang bedingt, aufhalten
könnte. Durch solche Vertuschung würden also wohl oberflächliche Köpfe eine Zeit¬
lang beruhigt werden, das eigentliche Verhängnis müßte aber, sobald die Ver¬
minderung der Sterblichkeit ihre natürliche Grenze erreicht hat, nur um so
katastrophaler zum Ausbruch kommen. Selbstverständlich muß auch weiterhin alles,
was möglich ist, getan werden, um die Sterblichkeitsverhältnisse unseres Volkes
möglichst günstig zu gestalten. Wer es wäre eine verhängsnisvolle Selbst¬
täuschung zu glauben, daß man damit das Fortschreiten des Geburtenrückganges
verhindern könnte. Seit Jahrzehnten hat ja bei uns die Sterblichkeit in
überraschender Weise abgenommen. Ist aber denn nicht trotzdem der Geburten¬
rückgang unaufhaltsam fortgeschritten, ja, hat er nicht trotzdem eine Höhe er¬
reicht, die schon die weitesten Kreise mit Sorge um die Zukunft unseres Volkes
erfüllt?

In einem Geschäftsbetrieb würde es gegen eine fortschreitende, auf den
Nullpunkt zusteuernde Verminderung des Umsatzes nur ein Heilmittel geben: die
Vermehrung des Umsatzes. Ebenso kann eS gegen eine fortschreitende Verminde¬
rung der Geburten nur ein Heilmittel geben: die Vermehrung der Geburten.
Insofern die Bevölkerungspolitik ursprünglich zur Bekämpfung des Geburtenrück¬
ganges begründet worden ist, war sie deshalb eine Politik der Vermehrung der
Geburten. Sie konnte nichts anderes sein. Was aber hat man unterdessen alles
unter den Begriff der Bevölkerungspolitik zusammengeworfen und in ihn hinein¬
gepfropft I Ich möchte ganz absehen von "bevölkerungspolitischen" Bestrebungen,
den Dienstmädchen freie Zeit zur Erledigung ihrer Korrespondenz einzuräumen,
billige Brunnenanlagen zu schaffen, und von ähnlichen Vorschlägen, wie sie tat¬
sächlich von bevölkerungspolitischer Seite gemacht worden sind, und ich möchte
nur als noch verhältnismäßig vernünftiges Beispiel auf die Bekämpfung der
Säuglingssterblichkeit hinweisen. Natürlich ist die Bekämpfung der Säuglings¬
sterblichkeit eine "bevölkerungspolitische Angelegenheit, denn die Säuglinge sind
unbestreitbar ein Teil unserer Bevölkerung; aber mit dem ursprünglichen Sinn
der Bevölkerungspolitik hat die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit nichts zu
tuu. Das Fortschreiten des Geburtenrückganges beruht nicht darauf, daß immer
mehr Säuglinge sterben, sondern daß immer weniger geboren werden. Die Säug¬
lingssterblichkeit steht sogar in einem notwendigen parallelen Verhältnis zur Ge¬
burtenzahl: je höher die Geburtenzahl einer Bevölkerung ist, desto größer nutz
auch ihre Säuglingssterblichkeit werden, weil die höheren Geburtennummern er¬
fahrungsgemäß eine größere Sterblichkeit haben. Umgekehrt ist die Verminderung
unserer Säuglingssterblichkeit in den letzten Jahrzehnten zu einem guten Teil
gerade dem Geburtenrückgang zu verdanken.

Bekanntlich ist nämlich aus sozialen Gründen die Säuglingssterblichkeit bei
den ersten Kindern am geringsten und nimmt dann mit steigender Geburtennummer
zu. Der Geburtenrückgang mit seinem Ein- und Zweikindersystem läßt nun die


Bevölkerungspolitik oder Geburtenpolitik?

der Geburtenzahl aufzuhalten, positiv ausgedrückt: die Zahl der Geburten in
unserem Volke zu vermehren. Dies und nichts anderes war der ursprüngliche
Sinn der „Bevölkerungspolitik"; und nur eine solche Bevölkerungspolitik, d. h.
eine Bevölkerungspolitik, die eine Vermehrung der Geburtenzahl anstrebt, kann
geeignet erscheinen, unser Volk vor dem Rassenselbstmord des Geburtenrückganges
zu behüten.

Nun kann man allerdings sagen, daß es auf die Geburtenzahl an sich
eigentlich gar nicht ankomme, sondern auf den Geburtenüberschuß, und daß dieser
ebensogut durch eine Verminderung der Sterblichkeit wie durch eine Vermehrung der
Geburten erreicht werden könne. Eine derartige Ausdrucksweise würde aber, trotz-
dem sie theoretisch nicht unrichtig ist, zu einer gänzlich schiefen Auffassung der
tatsächlichen Verhältnisse führen. Sie würde dazu verleiten, den fortschreitenden
Charakter des Geburtenrückganges zu übersehen. In diesem fortschreitenden Cha¬
rakter liegt es aber begründet, daß eine weitere Verminderung der Sterblichkeit
den eigentlichen Geburtenrückgang zwar noch eine Weile vertuschen aber niemals
das dauernde Anwachsen der Gefahr, die der Geburtenrückgang bedingt, aufhalten
könnte. Durch solche Vertuschung würden also wohl oberflächliche Köpfe eine Zeit¬
lang beruhigt werden, das eigentliche Verhängnis müßte aber, sobald die Ver¬
minderung der Sterblichkeit ihre natürliche Grenze erreicht hat, nur um so
katastrophaler zum Ausbruch kommen. Selbstverständlich muß auch weiterhin alles,
was möglich ist, getan werden, um die Sterblichkeitsverhältnisse unseres Volkes
möglichst günstig zu gestalten. Wer es wäre eine verhängsnisvolle Selbst¬
täuschung zu glauben, daß man damit das Fortschreiten des Geburtenrückganges
verhindern könnte. Seit Jahrzehnten hat ja bei uns die Sterblichkeit in
überraschender Weise abgenommen. Ist aber denn nicht trotzdem der Geburten¬
rückgang unaufhaltsam fortgeschritten, ja, hat er nicht trotzdem eine Höhe er¬
reicht, die schon die weitesten Kreise mit Sorge um die Zukunft unseres Volkes
erfüllt?

In einem Geschäftsbetrieb würde es gegen eine fortschreitende, auf den
Nullpunkt zusteuernde Verminderung des Umsatzes nur ein Heilmittel geben: die
Vermehrung des Umsatzes. Ebenso kann eS gegen eine fortschreitende Verminde¬
rung der Geburten nur ein Heilmittel geben: die Vermehrung der Geburten.
Insofern die Bevölkerungspolitik ursprünglich zur Bekämpfung des Geburtenrück¬
ganges begründet worden ist, war sie deshalb eine Politik der Vermehrung der
Geburten. Sie konnte nichts anderes sein. Was aber hat man unterdessen alles
unter den Begriff der Bevölkerungspolitik zusammengeworfen und in ihn hinein¬
gepfropft I Ich möchte ganz absehen von „bevölkerungspolitischen" Bestrebungen,
den Dienstmädchen freie Zeit zur Erledigung ihrer Korrespondenz einzuräumen,
billige Brunnenanlagen zu schaffen, und von ähnlichen Vorschlägen, wie sie tat¬
sächlich von bevölkerungspolitischer Seite gemacht worden sind, und ich möchte
nur als noch verhältnismäßig vernünftiges Beispiel auf die Bekämpfung der
Säuglingssterblichkeit hinweisen. Natürlich ist die Bekämpfung der Säuglings¬
sterblichkeit eine „bevölkerungspolitische Angelegenheit, denn die Säuglinge sind
unbestreitbar ein Teil unserer Bevölkerung; aber mit dem ursprünglichen Sinn
der Bevölkerungspolitik hat die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit nichts zu
tuu. Das Fortschreiten des Geburtenrückganges beruht nicht darauf, daß immer
mehr Säuglinge sterben, sondern daß immer weniger geboren werden. Die Säug¬
lingssterblichkeit steht sogar in einem notwendigen parallelen Verhältnis zur Ge¬
burtenzahl: je höher die Geburtenzahl einer Bevölkerung ist, desto größer nutz
auch ihre Säuglingssterblichkeit werden, weil die höheren Geburtennummern er¬
fahrungsgemäß eine größere Sterblichkeit haben. Umgekehrt ist die Verminderung
unserer Säuglingssterblichkeit in den letzten Jahrzehnten zu einem guten Teil
gerade dem Geburtenrückgang zu verdanken.

Bekanntlich ist nämlich aus sozialen Gründen die Säuglingssterblichkeit bei
den ersten Kindern am geringsten und nimmt dann mit steigender Geburtennummer
zu. Der Geburtenrückgang mit seinem Ein- und Zweikindersystem läßt nun die


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[0028] Bevölkerungspolitik oder Geburtenpolitik? der Geburtenzahl aufzuhalten, positiv ausgedrückt: die Zahl der Geburten in unserem Volke zu vermehren. Dies und nichts anderes war der ursprüngliche Sinn der „Bevölkerungspolitik"; und nur eine solche Bevölkerungspolitik, d. h. eine Bevölkerungspolitik, die eine Vermehrung der Geburtenzahl anstrebt, kann geeignet erscheinen, unser Volk vor dem Rassenselbstmord des Geburtenrückganges zu behüten. Nun kann man allerdings sagen, daß es auf die Geburtenzahl an sich eigentlich gar nicht ankomme, sondern auf den Geburtenüberschuß, und daß dieser ebensogut durch eine Verminderung der Sterblichkeit wie durch eine Vermehrung der Geburten erreicht werden könne. Eine derartige Ausdrucksweise würde aber, trotz- dem sie theoretisch nicht unrichtig ist, zu einer gänzlich schiefen Auffassung der tatsächlichen Verhältnisse führen. Sie würde dazu verleiten, den fortschreitenden Charakter des Geburtenrückganges zu übersehen. In diesem fortschreitenden Cha¬ rakter liegt es aber begründet, daß eine weitere Verminderung der Sterblichkeit den eigentlichen Geburtenrückgang zwar noch eine Weile vertuschen aber niemals das dauernde Anwachsen der Gefahr, die der Geburtenrückgang bedingt, aufhalten könnte. Durch solche Vertuschung würden also wohl oberflächliche Köpfe eine Zeit¬ lang beruhigt werden, das eigentliche Verhängnis müßte aber, sobald die Ver¬ minderung der Sterblichkeit ihre natürliche Grenze erreicht hat, nur um so katastrophaler zum Ausbruch kommen. Selbstverständlich muß auch weiterhin alles, was möglich ist, getan werden, um die Sterblichkeitsverhältnisse unseres Volkes möglichst günstig zu gestalten. Wer es wäre eine verhängsnisvolle Selbst¬ täuschung zu glauben, daß man damit das Fortschreiten des Geburtenrückganges verhindern könnte. Seit Jahrzehnten hat ja bei uns die Sterblichkeit in überraschender Weise abgenommen. Ist aber denn nicht trotzdem der Geburten¬ rückgang unaufhaltsam fortgeschritten, ja, hat er nicht trotzdem eine Höhe er¬ reicht, die schon die weitesten Kreise mit Sorge um die Zukunft unseres Volkes erfüllt? In einem Geschäftsbetrieb würde es gegen eine fortschreitende, auf den Nullpunkt zusteuernde Verminderung des Umsatzes nur ein Heilmittel geben: die Vermehrung des Umsatzes. Ebenso kann eS gegen eine fortschreitende Verminde¬ rung der Geburten nur ein Heilmittel geben: die Vermehrung der Geburten. Insofern die Bevölkerungspolitik ursprünglich zur Bekämpfung des Geburtenrück¬ ganges begründet worden ist, war sie deshalb eine Politik der Vermehrung der Geburten. Sie konnte nichts anderes sein. Was aber hat man unterdessen alles unter den Begriff der Bevölkerungspolitik zusammengeworfen und in ihn hinein¬ gepfropft I Ich möchte ganz absehen von „bevölkerungspolitischen" Bestrebungen, den Dienstmädchen freie Zeit zur Erledigung ihrer Korrespondenz einzuräumen, billige Brunnenanlagen zu schaffen, und von ähnlichen Vorschlägen, wie sie tat¬ sächlich von bevölkerungspolitischer Seite gemacht worden sind, und ich möchte nur als noch verhältnismäßig vernünftiges Beispiel auf die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit hinweisen. Natürlich ist die Bekämpfung der Säuglings¬ sterblichkeit eine „bevölkerungspolitische Angelegenheit, denn die Säuglinge sind unbestreitbar ein Teil unserer Bevölkerung; aber mit dem ursprünglichen Sinn der Bevölkerungspolitik hat die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit nichts zu tuu. Das Fortschreiten des Geburtenrückganges beruht nicht darauf, daß immer mehr Säuglinge sterben, sondern daß immer weniger geboren werden. Die Säug¬ lingssterblichkeit steht sogar in einem notwendigen parallelen Verhältnis zur Ge¬ burtenzahl: je höher die Geburtenzahl einer Bevölkerung ist, desto größer nutz auch ihre Säuglingssterblichkeit werden, weil die höheren Geburtennummern er¬ fahrungsgemäß eine größere Sterblichkeit haben. Umgekehrt ist die Verminderung unserer Säuglingssterblichkeit in den letzten Jahrzehnten zu einem guten Teil gerade dem Geburtenrückgang zu verdanken. Bekanntlich ist nämlich aus sozialen Gründen die Säuglingssterblichkeit bei den ersten Kindern am geringsten und nimmt dann mit steigender Geburtennummer zu. Der Geburtenrückgang mit seinem Ein- und Zweikindersystem läßt nun die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/28>, abgerufen am 22.07.2024.