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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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durch 5!reuzung mit fremdem Volkstum das Musterbild jenes neudeutschen Typs
erzeugt hätte, der im Laufe von zwei Jahrhunderten das deutsche Wesen durch¬
säuert und seine Fähigkeiten und Möglichkeiten völlig umgelagert hat. Ein
M)er geschichtlicher Ruck, eine historische Willkürtat, die Drehung des deutscheu
Antlitzes nach Osten hat uns dem sicheren Verfall entrissen. Die preußische
Faust hat den individualistischen deutschen Sachfanatiker, der in der Welt durch
eine halb lächerlich verstiegene Hingabe an Musik und Philosophie bekannt war,
in eine Form der Staatlichkeit hineingepreßt, die noch heute die Züge ihrer ur¬
sprünglichen Notform nicht völlig abgestreift hat. Aber dieser Erwerb des
Staates für das deutsche Wesen hat schwere Opfer gekostet. Noch haben wir den
Ansatzpunkt für eine neue Werkkultur nicht gefunden, und vor allem wurde der
Werdegang einer deutschen Gesellschaft jäh unterbrochen. Die Verstaatlichung
des Deutschtums machte den deutschen Menschen sozial nutzbar, indem sie ihn
mechanisierte, aber sie erstickte eben dadurch seine soziale Lebendigkeit. Sie
schlug aus dem deutschen Sachfanatismus Kapital, sie verwertete seine Hin¬
gabefähigkeit zur Züchtung beruflicher und namentlich beamtenhafter Selbst¬
losigkeit. Aber sie unterdrückte den deutschen Individualismus und ersetzte ihn
dnrch Uniformiernng und Nivellierung. Die Form wird zur Formel und ver¬
irrt sich in jenen starren gesellschaftlichen Konventionalismus, der als der Kern
unserer studentischen und "militärischen Korpserziehung uns für die Welt gesell¬
schaftlich so unverständlich macht. Der Gewinn an Straffung und Zucht wird
durch die Einbuße an Farbigkeit und individuellen Reichtum einer solchen Gesell¬
schaft mehr als aufgewogen. Zu den Tiefen des deutschen Lebens, das sich aus
dem Schoße der Familie speist, zu den ewigen Schöpfungen der deutschen Werk-
kultur führt von da kein Weg. Diese Gesellschaft ist hypermännlich und spezifisch
ungeistig. Der Typus des Sonderlings, der der älteren deutschen Gesellschaft
Leben und Farbe gab, wird im .Keime erstickt. Auch an seelischer Wärme und
Grazie fehlt es dieser Gesellschaftlichkeit. Sie hat in der Welt keine werbende
Kraft, sondern befremdet und stößt ab. Sie ist auf Achtung und nicht auf Liebe
gebaut, so kann sie auch höchstens Achtung, niemals wärmere Sympathien er¬
wecken und nähren. Und vor allem: sie ist, soweit sie sich nicht von den ab¬
sterbenden Rudimenten alter feudaler Schichtungsprinzipien nährt, in ihren
Stufungsprinzipien hilflos und nurmehr ein Schatten und eine Dependance des
Staates. Die Wertmaßstäbe ihrer Achtung entleibt sie der bureaukratischen
oder militärischen Graduierung des Staates und nährt so eine lächerliche Titel¬
jagd. Sie fetiert den Herrn Geheimrat und die militärische Exzellenz ganz un¬
abhängig von deren menschlichen und gesellschaftlichen Qualitäten, sie unter¬
drückt die freien Berufe, insbesondere den Kaufmannsstand, und schädigt dadurch
deren soziale Selbsteinschätzung. Sie sperrt d:e spezifisch geistigen Menschen ab
oder zwingt sie, sich durch recht eigentlich außergeistige Etiketten an Titeln und
Würden gesellschaftlich zu legitimieren. Unsere neudeutsche Gesellschaftskultur ist
preußisch, aber sie ist nicht gemeindeutsch, ja in wesentlichen Voraussetzungen
ihrer Haltung ist sie nahezu undeutsch.

Auf das Gesamtleben unseres Volkes übertragen, prägt sich der deutsche
Individualismus im Stammesgeist ans. Der Stamm ist gewissermaßen die er¬
weiterte Familie. Aus der Familie, aus dem Haus allein kann eine Geselligkeit
erwachsen, die dein deutschen Individualismus entsprossen ist; und den geselligen
Formen, die sich hier ausgeprägt haben, fehlt denn auch gänzlich jenes Gewölle".'
und Gemachte, das an der neudeutschen Gesellschaftskultur peinlich in die Augen
springt. Aber stammhafte Eigenart und die Zusammenhänge der Familie
werden eben durch Großpreußen und noch mehr durch das Reich zerrissen. Die
Beamten und Offiziere werden hin und her versetzt, ihre Kinder verlieren
bereits eine stammhaft ausgeprägte Sprache und damit den Zusammenhang
mit den unteren Schichten des Volkes. Sie schlagen nirgends Wurzel, sie
erhalten keine festen Erinnerungen ins Leben mit und werden so von früh auf
mechanisiert und unstet.

Ein wahres Musterkabinett für all derlei Beobachtungen ist der reichs-


Reichsländische Erfahrungen und östliche Brhcmdlnngsfrage»

durch 5!reuzung mit fremdem Volkstum das Musterbild jenes neudeutschen Typs
erzeugt hätte, der im Laufe von zwei Jahrhunderten das deutsche Wesen durch¬
säuert und seine Fähigkeiten und Möglichkeiten völlig umgelagert hat. Ein
M)er geschichtlicher Ruck, eine historische Willkürtat, die Drehung des deutscheu
Antlitzes nach Osten hat uns dem sicheren Verfall entrissen. Die preußische
Faust hat den individualistischen deutschen Sachfanatiker, der in der Welt durch
eine halb lächerlich verstiegene Hingabe an Musik und Philosophie bekannt war,
in eine Form der Staatlichkeit hineingepreßt, die noch heute die Züge ihrer ur¬
sprünglichen Notform nicht völlig abgestreift hat. Aber dieser Erwerb des
Staates für das deutsche Wesen hat schwere Opfer gekostet. Noch haben wir den
Ansatzpunkt für eine neue Werkkultur nicht gefunden, und vor allem wurde der
Werdegang einer deutschen Gesellschaft jäh unterbrochen. Die Verstaatlichung
des Deutschtums machte den deutschen Menschen sozial nutzbar, indem sie ihn
mechanisierte, aber sie erstickte eben dadurch seine soziale Lebendigkeit. Sie
schlug aus dem deutschen Sachfanatismus Kapital, sie verwertete seine Hin¬
gabefähigkeit zur Züchtung beruflicher und namentlich beamtenhafter Selbst¬
losigkeit. Aber sie unterdrückte den deutschen Individualismus und ersetzte ihn
dnrch Uniformiernng und Nivellierung. Die Form wird zur Formel und ver¬
irrt sich in jenen starren gesellschaftlichen Konventionalismus, der als der Kern
unserer studentischen und "militärischen Korpserziehung uns für die Welt gesell¬
schaftlich so unverständlich macht. Der Gewinn an Straffung und Zucht wird
durch die Einbuße an Farbigkeit und individuellen Reichtum einer solchen Gesell¬
schaft mehr als aufgewogen. Zu den Tiefen des deutschen Lebens, das sich aus
dem Schoße der Familie speist, zu den ewigen Schöpfungen der deutschen Werk-
kultur führt von da kein Weg. Diese Gesellschaft ist hypermännlich und spezifisch
ungeistig. Der Typus des Sonderlings, der der älteren deutschen Gesellschaft
Leben und Farbe gab, wird im .Keime erstickt. Auch an seelischer Wärme und
Grazie fehlt es dieser Gesellschaftlichkeit. Sie hat in der Welt keine werbende
Kraft, sondern befremdet und stößt ab. Sie ist auf Achtung und nicht auf Liebe
gebaut, so kann sie auch höchstens Achtung, niemals wärmere Sympathien er¬
wecken und nähren. Und vor allem: sie ist, soweit sie sich nicht von den ab¬
sterbenden Rudimenten alter feudaler Schichtungsprinzipien nährt, in ihren
Stufungsprinzipien hilflos und nurmehr ein Schatten und eine Dependance des
Staates. Die Wertmaßstäbe ihrer Achtung entleibt sie der bureaukratischen
oder militärischen Graduierung des Staates und nährt so eine lächerliche Titel¬
jagd. Sie fetiert den Herrn Geheimrat und die militärische Exzellenz ganz un¬
abhängig von deren menschlichen und gesellschaftlichen Qualitäten, sie unter¬
drückt die freien Berufe, insbesondere den Kaufmannsstand, und schädigt dadurch
deren soziale Selbsteinschätzung. Sie sperrt d:e spezifisch geistigen Menschen ab
oder zwingt sie, sich durch recht eigentlich außergeistige Etiketten an Titeln und
Würden gesellschaftlich zu legitimieren. Unsere neudeutsche Gesellschaftskultur ist
preußisch, aber sie ist nicht gemeindeutsch, ja in wesentlichen Voraussetzungen
ihrer Haltung ist sie nahezu undeutsch.

Auf das Gesamtleben unseres Volkes übertragen, prägt sich der deutsche
Individualismus im Stammesgeist ans. Der Stamm ist gewissermaßen die er¬
weiterte Familie. Aus der Familie, aus dem Haus allein kann eine Geselligkeit
erwachsen, die dein deutschen Individualismus entsprossen ist; und den geselligen
Formen, die sich hier ausgeprägt haben, fehlt denn auch gänzlich jenes Gewölle«.'
und Gemachte, das an der neudeutschen Gesellschaftskultur peinlich in die Augen
springt. Aber stammhafte Eigenart und die Zusammenhänge der Familie
werden eben durch Großpreußen und noch mehr durch das Reich zerrissen. Die
Beamten und Offiziere werden hin und her versetzt, ihre Kinder verlieren
bereits eine stammhaft ausgeprägte Sprache und damit den Zusammenhang
mit den unteren Schichten des Volkes. Sie schlagen nirgends Wurzel, sie
erhalten keine festen Erinnerungen ins Leben mit und werden so von früh auf
mechanisiert und unstet.

Ein wahres Musterkabinett für all derlei Beobachtungen ist der reichs-


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[0276] Reichsländische Erfahrungen und östliche Brhcmdlnngsfrage» durch 5!reuzung mit fremdem Volkstum das Musterbild jenes neudeutschen Typs erzeugt hätte, der im Laufe von zwei Jahrhunderten das deutsche Wesen durch¬ säuert und seine Fähigkeiten und Möglichkeiten völlig umgelagert hat. Ein M)er geschichtlicher Ruck, eine historische Willkürtat, die Drehung des deutscheu Antlitzes nach Osten hat uns dem sicheren Verfall entrissen. Die preußische Faust hat den individualistischen deutschen Sachfanatiker, der in der Welt durch eine halb lächerlich verstiegene Hingabe an Musik und Philosophie bekannt war, in eine Form der Staatlichkeit hineingepreßt, die noch heute die Züge ihrer ur¬ sprünglichen Notform nicht völlig abgestreift hat. Aber dieser Erwerb des Staates für das deutsche Wesen hat schwere Opfer gekostet. Noch haben wir den Ansatzpunkt für eine neue Werkkultur nicht gefunden, und vor allem wurde der Werdegang einer deutschen Gesellschaft jäh unterbrochen. Die Verstaatlichung des Deutschtums machte den deutschen Menschen sozial nutzbar, indem sie ihn mechanisierte, aber sie erstickte eben dadurch seine soziale Lebendigkeit. Sie schlug aus dem deutschen Sachfanatismus Kapital, sie verwertete seine Hin¬ gabefähigkeit zur Züchtung beruflicher und namentlich beamtenhafter Selbst¬ losigkeit. Aber sie unterdrückte den deutschen Individualismus und ersetzte ihn dnrch Uniformiernng und Nivellierung. Die Form wird zur Formel und ver¬ irrt sich in jenen starren gesellschaftlichen Konventionalismus, der als der Kern unserer studentischen und "militärischen Korpserziehung uns für die Welt gesell¬ schaftlich so unverständlich macht. Der Gewinn an Straffung und Zucht wird durch die Einbuße an Farbigkeit und individuellen Reichtum einer solchen Gesell¬ schaft mehr als aufgewogen. Zu den Tiefen des deutschen Lebens, das sich aus dem Schoße der Familie speist, zu den ewigen Schöpfungen der deutschen Werk- kultur führt von da kein Weg. Diese Gesellschaft ist hypermännlich und spezifisch ungeistig. Der Typus des Sonderlings, der der älteren deutschen Gesellschaft Leben und Farbe gab, wird im .Keime erstickt. Auch an seelischer Wärme und Grazie fehlt es dieser Gesellschaftlichkeit. Sie hat in der Welt keine werbende Kraft, sondern befremdet und stößt ab. Sie ist auf Achtung und nicht auf Liebe gebaut, so kann sie auch höchstens Achtung, niemals wärmere Sympathien er¬ wecken und nähren. Und vor allem: sie ist, soweit sie sich nicht von den ab¬ sterbenden Rudimenten alter feudaler Schichtungsprinzipien nährt, in ihren Stufungsprinzipien hilflos und nurmehr ein Schatten und eine Dependance des Staates. Die Wertmaßstäbe ihrer Achtung entleibt sie der bureaukratischen oder militärischen Graduierung des Staates und nährt so eine lächerliche Titel¬ jagd. Sie fetiert den Herrn Geheimrat und die militärische Exzellenz ganz un¬ abhängig von deren menschlichen und gesellschaftlichen Qualitäten, sie unter¬ drückt die freien Berufe, insbesondere den Kaufmannsstand, und schädigt dadurch deren soziale Selbsteinschätzung. Sie sperrt d:e spezifisch geistigen Menschen ab oder zwingt sie, sich durch recht eigentlich außergeistige Etiketten an Titeln und Würden gesellschaftlich zu legitimieren. Unsere neudeutsche Gesellschaftskultur ist preußisch, aber sie ist nicht gemeindeutsch, ja in wesentlichen Voraussetzungen ihrer Haltung ist sie nahezu undeutsch. Auf das Gesamtleben unseres Volkes übertragen, prägt sich der deutsche Individualismus im Stammesgeist ans. Der Stamm ist gewissermaßen die er¬ weiterte Familie. Aus der Familie, aus dem Haus allein kann eine Geselligkeit erwachsen, die dein deutschen Individualismus entsprossen ist; und den geselligen Formen, die sich hier ausgeprägt haben, fehlt denn auch gänzlich jenes Gewölle«.' und Gemachte, das an der neudeutschen Gesellschaftskultur peinlich in die Augen springt. Aber stammhafte Eigenart und die Zusammenhänge der Familie werden eben durch Großpreußen und noch mehr durch das Reich zerrissen. Die Beamten und Offiziere werden hin und her versetzt, ihre Kinder verlieren bereits eine stammhaft ausgeprägte Sprache und damit den Zusammenhang mit den unteren Schichten des Volkes. Sie schlagen nirgends Wurzel, sie erhalten keine festen Erinnerungen ins Leben mit und werden so von früh auf mechanisiert und unstet. Ein wahres Musterkabinett für all derlei Beobachtungen ist der reichs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/276>, abgerufen am 22.07.2024.