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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Reichsländische Erfahrungen und östliche Behcindlungsfragen

schiedenartiger, uns in Sitte und Mentalität bisher mehr oder minder fremder
Völkerschaften sind plötzlich zum Gegenstande für unsere politische, büreaukratische
und wirtschaftliche Behandlung geworden. Es sind Tugenden und Fähigkeiten
besonderer Art, die eine solche Behandlung erfordert, und der Rückblick auf unsere
jüngste Geschichte zeigt, daß wir nicht immer eine glückliche Hand in Behcmd-
lungsfrcigeu gehabt haben. Es ist heute nicht mehr nötig, die Tatsache irgend
zu verhehlen oder zu beschönigen, daß wir in der Behandlung der Polen, Dänen,
Elsässer und Lothringer, die uns bisher aufgegeben war, viele und verhängnis¬
volle Fehler begangen haben. Es besteht bei uns auch gar kein Zweifel ein dieser
Tatsache, nur über das Wo und Wie der Fehler gehen "die Meinungen weit aus¬
einander. Das zeigt, daß wir uns noch nicht über die eigentlichen Lehren aus
unseren bisherigen Erfahrungen und Mißerfolgen klar sind und deswegen auch
noch nicht die volle Sicherheit für Zukunftsaufgaben ähnlicher Art erlangt haben.
Der Augenblick, der diese Aufgaben auf einmal ins Ungeheure steigert, ist daher
Wohl geeignet, für eine Bilanz früherer Erfahrungen und für den' Versuch, aus
ihnen das Richtige, das methodisch fruchtbare Fazit zu ziehen.

Es gibt bekanntlich bei uns wie bei allen Völkern eine Gruppe von Poli¬
tikern, die die Methoden der rücksichtslosen Gewalt für die allein seligmachende
hält und in der Schwäche den Quell alles Unheils sucht. Man kann dem letzten
Satz in weitem Ausmaße zustimmen und auch -- fern von Sentimentalität und
Humanitätsdufelei -- im eisernen Zwange ein unentbehrliches Mittel jeder
Politik anerkennen und sich trotzdem zu der Einsicht durchringen, daß Gewalt
nur eine Notform der Machtentfaltung ist. Die naiven Propheten der Gewalt¬
politik, in denen politischer Verstand mit politischer Energie nicht immer gleichen
Schritt halten konnte, dürften sich nur selten klar gemacht haben, daß es eben zum
Wesen der Macht gehört, auf Gewalt verzichten zu können, und daß Gewalt¬
politik, die am Ideal echter Machtpolitik orientiert ist, deshalb die immanente
Tendenz auf Selbstüberwindung ihres Gewaltmomentes hat. Die ganze, viel
verketzerte sogenannte altdeutsche Bewegung, die in der Vertretung des Macht¬
staatsgedankens den liberalen, Humanitären Vertrags- und Verständigungs¬
aposteln so weit überlegen ist, diskreditiert selber ihre besten Strebungen, indem
sie dies Wesensverhältnis von Macht und Gewalt so oft übersieht. Dem politisch
reiferen Engländer ist diese Einsicht dagegen längst in Fleisch und Blut über¬
gegangen.

Es gab Zeiten und Fälle, wo die skrupellose Gewalt die beste Behand¬
lungsmethode war. Die ostelbische Kolonisation im ausgehenden Mittelalter, die
ganze Stämme und Völker unterwarf und eindeutschte, hat diese für das Opfer
ihres Volkstums reichlich entschädigt, indem sie sie zum Mitträger so gewaltiger
historischer Leistungen, wie der Entwicklung des für die europäische Neuzeit in
vieler Hinsicht vorbildlichen preußischen Staates^ machte. In solchen Zeiten er¬
füllte sich wirklich das Paradox, daß die größte Brutalität welthistorisch die
größte Humanität sein kann. Kein normal Denkender kann heute an eine der¬
artige Eindeutschung der gesamten rußländischen Randvölker vom Eismeer bis
zum Kaukasus denken. Ein solcher "Pangermanist" gehörte ins Irrenhaus.
Jene alte Methode brauchte nach Liebe und Haß nicht zu fragen. Die über¬
wältigende Mehrheit unseres Volkes aber ist sich heute darin einig, daß unsere
künftige Ostpolitik nie und nimmer unter dem Zeichen des "Oclsrwt com
irmwxmt" von Erfolg gekrönt sein kann. Viel eher neigt man bei uns noch
immer zu liberalen Volkerversohnungsträumereien. Die politisch besonnenen
Köpfe kommen jedenfalls darin überein, daß unser Volk fern von würdeloser
Liebedienerei und von skrupelloser Ansbeutnngsversuchen ein Verhältnis zu den
Ostvölkern gewinnen muß, das auf gegenseitige Achtung und Vertrauen ge¬
gründet ist und aus diesem allmählich echte völkische Sympathien erstehen lassen
will. Aber eben dieses starke Programm der Verständigung, das sich mit echter
Machtpolitik sehr Wohl verträgt, ja geradezu deren unerläßliche Voraussetzung
ist, stößt im gegenwärtigen Augenblick, in des deutschen Volkes Notstunde, auf
fast unüberwindliche Schwierigkeiten.


Reichsländische Erfahrungen und östliche Behcindlungsfragen

schiedenartiger, uns in Sitte und Mentalität bisher mehr oder minder fremder
Völkerschaften sind plötzlich zum Gegenstande für unsere politische, büreaukratische
und wirtschaftliche Behandlung geworden. Es sind Tugenden und Fähigkeiten
besonderer Art, die eine solche Behandlung erfordert, und der Rückblick auf unsere
jüngste Geschichte zeigt, daß wir nicht immer eine glückliche Hand in Behcmd-
lungsfrcigeu gehabt haben. Es ist heute nicht mehr nötig, die Tatsache irgend
zu verhehlen oder zu beschönigen, daß wir in der Behandlung der Polen, Dänen,
Elsässer und Lothringer, die uns bisher aufgegeben war, viele und verhängnis¬
volle Fehler begangen haben. Es besteht bei uns auch gar kein Zweifel ein dieser
Tatsache, nur über das Wo und Wie der Fehler gehen "die Meinungen weit aus¬
einander. Das zeigt, daß wir uns noch nicht über die eigentlichen Lehren aus
unseren bisherigen Erfahrungen und Mißerfolgen klar sind und deswegen auch
noch nicht die volle Sicherheit für Zukunftsaufgaben ähnlicher Art erlangt haben.
Der Augenblick, der diese Aufgaben auf einmal ins Ungeheure steigert, ist daher
Wohl geeignet, für eine Bilanz früherer Erfahrungen und für den' Versuch, aus
ihnen das Richtige, das methodisch fruchtbare Fazit zu ziehen.

Es gibt bekanntlich bei uns wie bei allen Völkern eine Gruppe von Poli¬
tikern, die die Methoden der rücksichtslosen Gewalt für die allein seligmachende
hält und in der Schwäche den Quell alles Unheils sucht. Man kann dem letzten
Satz in weitem Ausmaße zustimmen und auch — fern von Sentimentalität und
Humanitätsdufelei — im eisernen Zwange ein unentbehrliches Mittel jeder
Politik anerkennen und sich trotzdem zu der Einsicht durchringen, daß Gewalt
nur eine Notform der Machtentfaltung ist. Die naiven Propheten der Gewalt¬
politik, in denen politischer Verstand mit politischer Energie nicht immer gleichen
Schritt halten konnte, dürften sich nur selten klar gemacht haben, daß es eben zum
Wesen der Macht gehört, auf Gewalt verzichten zu können, und daß Gewalt¬
politik, die am Ideal echter Machtpolitik orientiert ist, deshalb die immanente
Tendenz auf Selbstüberwindung ihres Gewaltmomentes hat. Die ganze, viel
verketzerte sogenannte altdeutsche Bewegung, die in der Vertretung des Macht¬
staatsgedankens den liberalen, Humanitären Vertrags- und Verständigungs¬
aposteln so weit überlegen ist, diskreditiert selber ihre besten Strebungen, indem
sie dies Wesensverhältnis von Macht und Gewalt so oft übersieht. Dem politisch
reiferen Engländer ist diese Einsicht dagegen längst in Fleisch und Blut über¬
gegangen.

Es gab Zeiten und Fälle, wo die skrupellose Gewalt die beste Behand¬
lungsmethode war. Die ostelbische Kolonisation im ausgehenden Mittelalter, die
ganze Stämme und Völker unterwarf und eindeutschte, hat diese für das Opfer
ihres Volkstums reichlich entschädigt, indem sie sie zum Mitträger so gewaltiger
historischer Leistungen, wie der Entwicklung des für die europäische Neuzeit in
vieler Hinsicht vorbildlichen preußischen Staates^ machte. In solchen Zeiten er¬
füllte sich wirklich das Paradox, daß die größte Brutalität welthistorisch die
größte Humanität sein kann. Kein normal Denkender kann heute an eine der¬
artige Eindeutschung der gesamten rußländischen Randvölker vom Eismeer bis
zum Kaukasus denken. Ein solcher „Pangermanist" gehörte ins Irrenhaus.
Jene alte Methode brauchte nach Liebe und Haß nicht zu fragen. Die über¬
wältigende Mehrheit unseres Volkes aber ist sich heute darin einig, daß unsere
künftige Ostpolitik nie und nimmer unter dem Zeichen des „Oclsrwt com
irmwxmt" von Erfolg gekrönt sein kann. Viel eher neigt man bei uns noch
immer zu liberalen Volkerversohnungsträumereien. Die politisch besonnenen
Köpfe kommen jedenfalls darin überein, daß unser Volk fern von würdeloser
Liebedienerei und von skrupelloser Ansbeutnngsversuchen ein Verhältnis zu den
Ostvölkern gewinnen muß, das auf gegenseitige Achtung und Vertrauen ge¬
gründet ist und aus diesem allmählich echte völkische Sympathien erstehen lassen
will. Aber eben dieses starke Programm der Verständigung, das sich mit echter
Machtpolitik sehr Wohl verträgt, ja geradezu deren unerläßliche Voraussetzung
ist, stößt im gegenwärtigen Augenblick, in des deutschen Volkes Notstunde, auf
fast unüberwindliche Schwierigkeiten.


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[0273] Reichsländische Erfahrungen und östliche Behcindlungsfragen schiedenartiger, uns in Sitte und Mentalität bisher mehr oder minder fremder Völkerschaften sind plötzlich zum Gegenstande für unsere politische, büreaukratische und wirtschaftliche Behandlung geworden. Es sind Tugenden und Fähigkeiten besonderer Art, die eine solche Behandlung erfordert, und der Rückblick auf unsere jüngste Geschichte zeigt, daß wir nicht immer eine glückliche Hand in Behcmd- lungsfrcigeu gehabt haben. Es ist heute nicht mehr nötig, die Tatsache irgend zu verhehlen oder zu beschönigen, daß wir in der Behandlung der Polen, Dänen, Elsässer und Lothringer, die uns bisher aufgegeben war, viele und verhängnis¬ volle Fehler begangen haben. Es besteht bei uns auch gar kein Zweifel ein dieser Tatsache, nur über das Wo und Wie der Fehler gehen "die Meinungen weit aus¬ einander. Das zeigt, daß wir uns noch nicht über die eigentlichen Lehren aus unseren bisherigen Erfahrungen und Mißerfolgen klar sind und deswegen auch noch nicht die volle Sicherheit für Zukunftsaufgaben ähnlicher Art erlangt haben. Der Augenblick, der diese Aufgaben auf einmal ins Ungeheure steigert, ist daher Wohl geeignet, für eine Bilanz früherer Erfahrungen und für den' Versuch, aus ihnen das Richtige, das methodisch fruchtbare Fazit zu ziehen. Es gibt bekanntlich bei uns wie bei allen Völkern eine Gruppe von Poli¬ tikern, die die Methoden der rücksichtslosen Gewalt für die allein seligmachende hält und in der Schwäche den Quell alles Unheils sucht. Man kann dem letzten Satz in weitem Ausmaße zustimmen und auch — fern von Sentimentalität und Humanitätsdufelei — im eisernen Zwange ein unentbehrliches Mittel jeder Politik anerkennen und sich trotzdem zu der Einsicht durchringen, daß Gewalt nur eine Notform der Machtentfaltung ist. Die naiven Propheten der Gewalt¬ politik, in denen politischer Verstand mit politischer Energie nicht immer gleichen Schritt halten konnte, dürften sich nur selten klar gemacht haben, daß es eben zum Wesen der Macht gehört, auf Gewalt verzichten zu können, und daß Gewalt¬ politik, die am Ideal echter Machtpolitik orientiert ist, deshalb die immanente Tendenz auf Selbstüberwindung ihres Gewaltmomentes hat. Die ganze, viel verketzerte sogenannte altdeutsche Bewegung, die in der Vertretung des Macht¬ staatsgedankens den liberalen, Humanitären Vertrags- und Verständigungs¬ aposteln so weit überlegen ist, diskreditiert selber ihre besten Strebungen, indem sie dies Wesensverhältnis von Macht und Gewalt so oft übersieht. Dem politisch reiferen Engländer ist diese Einsicht dagegen längst in Fleisch und Blut über¬ gegangen. Es gab Zeiten und Fälle, wo die skrupellose Gewalt die beste Behand¬ lungsmethode war. Die ostelbische Kolonisation im ausgehenden Mittelalter, die ganze Stämme und Völker unterwarf und eindeutschte, hat diese für das Opfer ihres Volkstums reichlich entschädigt, indem sie sie zum Mitträger so gewaltiger historischer Leistungen, wie der Entwicklung des für die europäische Neuzeit in vieler Hinsicht vorbildlichen preußischen Staates^ machte. In solchen Zeiten er¬ füllte sich wirklich das Paradox, daß die größte Brutalität welthistorisch die größte Humanität sein kann. Kein normal Denkender kann heute an eine der¬ artige Eindeutschung der gesamten rußländischen Randvölker vom Eismeer bis zum Kaukasus denken. Ein solcher „Pangermanist" gehörte ins Irrenhaus. Jene alte Methode brauchte nach Liebe und Haß nicht zu fragen. Die über¬ wältigende Mehrheit unseres Volkes aber ist sich heute darin einig, daß unsere künftige Ostpolitik nie und nimmer unter dem Zeichen des „Oclsrwt com irmwxmt" von Erfolg gekrönt sein kann. Viel eher neigt man bei uns noch immer zu liberalen Volkerversohnungsträumereien. Die politisch besonnenen Köpfe kommen jedenfalls darin überein, daß unser Volk fern von würdeloser Liebedienerei und von skrupelloser Ansbeutnngsversuchen ein Verhältnis zu den Ostvölkern gewinnen muß, das auf gegenseitige Achtung und Vertrauen ge¬ gründet ist und aus diesem allmählich echte völkische Sympathien erstehen lassen will. Aber eben dieses starke Programm der Verständigung, das sich mit echter Machtpolitik sehr Wohl verträgt, ja geradezu deren unerläßliche Voraussetzung ist, stößt im gegenwärtigen Augenblick, in des deutschen Volkes Notstunde, auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/273>, abgerufen am 22.07.2024.