Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Weshalb brauchen wir ein Reichsgesetz über Jugendämter?

Ein Gesetz kann also in der Jugendfürsorge sehr viel leisten. Eben die
Teile der Erziehung, um die es sich beim Kinderschutz handelt, sind einer behörd¬
lichen Verwaltung Wohl zugänglich; ihr Ausbau ist damit auch dem Einfluß des
Gesetzes offen. Es ist also möglich und wohl denkbar, daß die Gesetzgebung in der
öffentlichen Jugendfürsorge wirklich etwas leisten kann.

Gegenüber der Fülle von Gesetzen, unter denen wir leben und vielfach
seufzen, ist es ebenso wichtig, dann zu fragen: Ist es denn unumgänglich nötig,
daß das Gesetz eingreift? Wir müßen zeigen, daß Mißstände und Übel vor¬
handen sind, die sich nur durch das Gesetz ändern lassen. Dazu genügt es nicht,
wenn wir selbst eine Menge einzelner Fälle beibringen, wo diese oder jene Be¬
hörde falsch gehandelt hat, wo dieser oder jener Beamte sich der ihm anvertrauten
Kinder nicht genügend angenommen hat. Alle menschlichen Einrichtungen werden
solche Mängel aufweisen und am allerwenigsten kann man durch Gesetze erreichen,
daß die Verwaltungen und die Menschen, die in jenen wirken, stets ihrer Aufgabe
gewachsen sind und überall ihre Pflicht tun. Anders liegt die Sache, wo es sich
um grundsätzliche Mißstände handelt. Das ist hier in zwei Richtungen der Fall:
In der Gestaltung der Verwaltung stoßen wir auf Fehler und Unzulänglichkeiten,
die mit dem Wohl der schutzbedürftiger Jugend unverträglich sind und die nur
durch gesetzliche Vorschriften geändert werden können. Ferner finden ganze Grup¬
pen schutzbedürftiger Kinder keinen genügenden Schutz, so daß für sie ganz andere
neue Verwaltungseinrichtungen geschaffen werden müssen.

Beginnen wir mit einem Beispiel, daß seinerzeit viel Aufsehen erregt
hat. Eine arme uneheliche Mutter ist genötigt, ihr Kind in fremde Pflege zu
geben, um.selbst verdienen zu können. Kaum hat sie auf dem Dorf eine Pflege¬
stelle gefunden, so erscheint der Ortsvorsteher. Er fürchtet, daß das Kind der
Armenpflege zur Last fallen könnte, was den geringen Etat seiner Gemeinde arg
bedrücken würde. Also sucht er mit allen Mitteln die Mutter zu zwingen, ihr
Kind wieder mit sich zu nehmen; oder er bringt die Pflegefrau dazu, das Kind
seiner Mutter zurückzubringen. So geht es der Mutter nicht nur an dem einen
Orte, sondern an drei, vieren nacheinander. Dabei sind die Ortsvorsteher, die so
handeln, zugleich Vorsteher des Gemeindewaisenrats, dem ganz besonders daS
Wohl der Mündel anvertraut ist; sie vertreten ferner die Polizei, die die Pflege¬
kinder bei fremden Leuten zu betreuen verpflichtet sind. Dieser Fall ist einfach den
Akten eines Strafprozesses nacherzählt gegen eine Mutter, die schließlich aus Ver¬
zweiflung" über dieses vergebliche Sorgen und Mühen für ihr Kind es getötet
hat. Er ist keineswegs bloß vereinzelt, sondern hat allgemeine Bedeutung. Was
da festgestellt wurde, war so belastend und entsprach offenbar so sehr einer allge¬
meinen Erscheinung, daß der preußische Minister des Innern alle Gemeinden in
einem besonderen Erlaß auf diesen Fall aufmerksam machte und auf Erfüllung
ihrer Verpflichtungen gegen solche Kinder hinwies.

Immer wieder können wir Fälle feststellen, wo Kinder von einer Gemeinde¬
behörde in der Art versteigert werden, daß sie der bekommt, der am wenigsten
fordert. Man sollte glauben, das sei ein verschollener Brauch vergangener Jahr¬
hunderte; und doch können wir ihn aus den letzten Jahren aktenmäßig belegen
oder aus Anzeigen in der amtlichen Presse der Provinzen nachweisen. Man hielt
also dies Verfahren für so selbstverständlich, daß man sich ruhig damit vor der
breiten Öffentlichkeit hören ließ. Zwei Fälle werden dies am besten beleuchten.
Sulinger Kreiszeitung 14. 2.1912. "2 hiesige kleine Mädchen im Alter von 2 und
4 Jahren sollen am Sonntag, den 13. d. M., morgens 9 Uhr, in gute Pflege
mindestfordernd untergebracht worden. S. Waisenamt." -- Arendseer Nach¬
richten 9. 11. 13. Für zwei gesunde kräftige Kinder von 10 und 11 Jahren
wird von der Gemeinde, ohne Vergütung gegen eine Jahresrente von M. 32 pro
Kind, Unterkommen gesucht. Gemeindevorstand." Nicht bloß diese weite Ver¬
breitung hebt die einzelne Erscheinung über die Entrüstung gegen einzelne un¬
fähige Beamten hinaus. Der Grund, daß jene Menschen so handeln, liegt
tiefer. Jene kleinen Dörfer sind wirtschaftlich solchen Aufgaben keineswegs


"renzbotsn III 1V18 - -0 ,
Weshalb brauchen wir ein Reichsgesetz über Jugendämter?

Ein Gesetz kann also in der Jugendfürsorge sehr viel leisten. Eben die
Teile der Erziehung, um die es sich beim Kinderschutz handelt, sind einer behörd¬
lichen Verwaltung Wohl zugänglich; ihr Ausbau ist damit auch dem Einfluß des
Gesetzes offen. Es ist also möglich und wohl denkbar, daß die Gesetzgebung in der
öffentlichen Jugendfürsorge wirklich etwas leisten kann.

Gegenüber der Fülle von Gesetzen, unter denen wir leben und vielfach
seufzen, ist es ebenso wichtig, dann zu fragen: Ist es denn unumgänglich nötig,
daß das Gesetz eingreift? Wir müßen zeigen, daß Mißstände und Übel vor¬
handen sind, die sich nur durch das Gesetz ändern lassen. Dazu genügt es nicht,
wenn wir selbst eine Menge einzelner Fälle beibringen, wo diese oder jene Be¬
hörde falsch gehandelt hat, wo dieser oder jener Beamte sich der ihm anvertrauten
Kinder nicht genügend angenommen hat. Alle menschlichen Einrichtungen werden
solche Mängel aufweisen und am allerwenigsten kann man durch Gesetze erreichen,
daß die Verwaltungen und die Menschen, die in jenen wirken, stets ihrer Aufgabe
gewachsen sind und überall ihre Pflicht tun. Anders liegt die Sache, wo es sich
um grundsätzliche Mißstände handelt. Das ist hier in zwei Richtungen der Fall:
In der Gestaltung der Verwaltung stoßen wir auf Fehler und Unzulänglichkeiten,
die mit dem Wohl der schutzbedürftiger Jugend unverträglich sind und die nur
durch gesetzliche Vorschriften geändert werden können. Ferner finden ganze Grup¬
pen schutzbedürftiger Kinder keinen genügenden Schutz, so daß für sie ganz andere
neue Verwaltungseinrichtungen geschaffen werden müssen.

Beginnen wir mit einem Beispiel, daß seinerzeit viel Aufsehen erregt
hat. Eine arme uneheliche Mutter ist genötigt, ihr Kind in fremde Pflege zu
geben, um.selbst verdienen zu können. Kaum hat sie auf dem Dorf eine Pflege¬
stelle gefunden, so erscheint der Ortsvorsteher. Er fürchtet, daß das Kind der
Armenpflege zur Last fallen könnte, was den geringen Etat seiner Gemeinde arg
bedrücken würde. Also sucht er mit allen Mitteln die Mutter zu zwingen, ihr
Kind wieder mit sich zu nehmen; oder er bringt die Pflegefrau dazu, das Kind
seiner Mutter zurückzubringen. So geht es der Mutter nicht nur an dem einen
Orte, sondern an drei, vieren nacheinander. Dabei sind die Ortsvorsteher, die so
handeln, zugleich Vorsteher des Gemeindewaisenrats, dem ganz besonders daS
Wohl der Mündel anvertraut ist; sie vertreten ferner die Polizei, die die Pflege¬
kinder bei fremden Leuten zu betreuen verpflichtet sind. Dieser Fall ist einfach den
Akten eines Strafprozesses nacherzählt gegen eine Mutter, die schließlich aus Ver¬
zweiflung» über dieses vergebliche Sorgen und Mühen für ihr Kind es getötet
hat. Er ist keineswegs bloß vereinzelt, sondern hat allgemeine Bedeutung. Was
da festgestellt wurde, war so belastend und entsprach offenbar so sehr einer allge¬
meinen Erscheinung, daß der preußische Minister des Innern alle Gemeinden in
einem besonderen Erlaß auf diesen Fall aufmerksam machte und auf Erfüllung
ihrer Verpflichtungen gegen solche Kinder hinwies.

Immer wieder können wir Fälle feststellen, wo Kinder von einer Gemeinde¬
behörde in der Art versteigert werden, daß sie der bekommt, der am wenigsten
fordert. Man sollte glauben, das sei ein verschollener Brauch vergangener Jahr¬
hunderte; und doch können wir ihn aus den letzten Jahren aktenmäßig belegen
oder aus Anzeigen in der amtlichen Presse der Provinzen nachweisen. Man hielt
also dies Verfahren für so selbstverständlich, daß man sich ruhig damit vor der
breiten Öffentlichkeit hören ließ. Zwei Fälle werden dies am besten beleuchten.
Sulinger Kreiszeitung 14. 2.1912. „2 hiesige kleine Mädchen im Alter von 2 und
4 Jahren sollen am Sonntag, den 13. d. M., morgens 9 Uhr, in gute Pflege
mindestfordernd untergebracht worden. S. Waisenamt." — Arendseer Nach¬
richten 9. 11. 13. Für zwei gesunde kräftige Kinder von 10 und 11 Jahren
wird von der Gemeinde, ohne Vergütung gegen eine Jahresrente von M. 32 pro
Kind, Unterkommen gesucht. Gemeindevorstand." Nicht bloß diese weite Ver¬
breitung hebt die einzelne Erscheinung über die Entrüstung gegen einzelne un¬
fähige Beamten hinaus. Der Grund, daß jene Menschen so handeln, liegt
tiefer. Jene kleinen Dörfer sind wirtschaftlich solchen Aufgaben keineswegs


«renzbotsn III 1V18 - -0 ,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/334106"/>
          <fw type="header" place="top"> Weshalb brauchen wir ein Reichsgesetz über Jugendämter?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1058"> Ein Gesetz kann also in der Jugendfürsorge sehr viel leisten. Eben die<lb/>
Teile der Erziehung, um die es sich beim Kinderschutz handelt, sind einer behörd¬<lb/>
lichen Verwaltung Wohl zugänglich; ihr Ausbau ist damit auch dem Einfluß des<lb/>
Gesetzes offen. Es ist also möglich und wohl denkbar, daß die Gesetzgebung in der<lb/>
öffentlichen Jugendfürsorge wirklich etwas leisten kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1059"> Gegenüber der Fülle von Gesetzen, unter denen wir leben und vielfach<lb/>
seufzen, ist es ebenso wichtig, dann zu fragen: Ist es denn unumgänglich nötig,<lb/>
daß das Gesetz eingreift? Wir müßen zeigen, daß Mißstände und Übel vor¬<lb/>
handen sind, die sich nur durch das Gesetz ändern lassen. Dazu genügt es nicht,<lb/>
wenn wir selbst eine Menge einzelner Fälle beibringen, wo diese oder jene Be¬<lb/>
hörde falsch gehandelt hat, wo dieser oder jener Beamte sich der ihm anvertrauten<lb/>
Kinder nicht genügend angenommen hat. Alle menschlichen Einrichtungen werden<lb/>
solche Mängel aufweisen und am allerwenigsten kann man durch Gesetze erreichen,<lb/>
daß die Verwaltungen und die Menschen, die in jenen wirken, stets ihrer Aufgabe<lb/>
gewachsen sind und überall ihre Pflicht tun. Anders liegt die Sache, wo es sich<lb/>
um grundsätzliche Mißstände handelt. Das ist hier in zwei Richtungen der Fall:<lb/>
In der Gestaltung der Verwaltung stoßen wir auf Fehler und Unzulänglichkeiten,<lb/>
die mit dem Wohl der schutzbedürftiger Jugend unverträglich sind und die nur<lb/>
durch gesetzliche Vorschriften geändert werden können. Ferner finden ganze Grup¬<lb/>
pen schutzbedürftiger Kinder keinen genügenden Schutz, so daß für sie ganz andere<lb/>
neue Verwaltungseinrichtungen geschaffen werden müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1060"> Beginnen wir mit einem Beispiel, daß seinerzeit viel Aufsehen erregt<lb/>
hat. Eine arme uneheliche Mutter ist genötigt, ihr Kind in fremde Pflege zu<lb/>
geben, um.selbst verdienen zu können. Kaum hat sie auf dem Dorf eine Pflege¬<lb/>
stelle gefunden, so erscheint der Ortsvorsteher. Er fürchtet, daß das Kind der<lb/>
Armenpflege zur Last fallen könnte, was den geringen Etat seiner Gemeinde arg<lb/>
bedrücken würde. Also sucht er mit allen Mitteln die Mutter zu zwingen, ihr<lb/>
Kind wieder mit sich zu nehmen; oder er bringt die Pflegefrau dazu, das Kind<lb/>
seiner Mutter zurückzubringen. So geht es der Mutter nicht nur an dem einen<lb/>
Orte, sondern an drei, vieren nacheinander. Dabei sind die Ortsvorsteher, die so<lb/>
handeln, zugleich Vorsteher des Gemeindewaisenrats, dem ganz besonders daS<lb/>
Wohl der Mündel anvertraut ist; sie vertreten ferner die Polizei, die die Pflege¬<lb/>
kinder bei fremden Leuten zu betreuen verpflichtet sind. Dieser Fall ist einfach den<lb/>
Akten eines Strafprozesses nacherzählt gegen eine Mutter, die schließlich aus Ver¬<lb/>
zweiflung» über dieses vergebliche Sorgen und Mühen für ihr Kind es getötet<lb/>
hat. Er ist keineswegs bloß vereinzelt, sondern hat allgemeine Bedeutung. Was<lb/>
da festgestellt wurde, war so belastend und entsprach offenbar so sehr einer allge¬<lb/>
meinen Erscheinung, daß der preußische Minister des Innern alle Gemeinden in<lb/>
einem besonderen Erlaß auf diesen Fall aufmerksam machte und auf Erfüllung<lb/>
ihrer Verpflichtungen gegen solche Kinder hinwies.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1061" next="#ID_1062"> Immer wieder können wir Fälle feststellen, wo Kinder von einer Gemeinde¬<lb/>
behörde in der Art versteigert werden, daß sie der bekommt, der am wenigsten<lb/>
fordert. Man sollte glauben, das sei ein verschollener Brauch vergangener Jahr¬<lb/>
hunderte; und doch können wir ihn aus den letzten Jahren aktenmäßig belegen<lb/>
oder aus Anzeigen in der amtlichen Presse der Provinzen nachweisen. Man hielt<lb/>
also dies Verfahren für so selbstverständlich, daß man sich ruhig damit vor der<lb/>
breiten Öffentlichkeit hören ließ. Zwei Fälle werden dies am besten beleuchten.<lb/>
Sulinger Kreiszeitung 14. 2.1912. &#x201E;2 hiesige kleine Mädchen im Alter von 2 und<lb/>
4 Jahren sollen am Sonntag, den 13. d. M., morgens 9 Uhr, in gute Pflege<lb/>
mindestfordernd untergebracht worden. S. Waisenamt." &#x2014; Arendseer Nach¬<lb/>
richten 9. 11. 13. Für zwei gesunde kräftige Kinder von 10 und 11 Jahren<lb/>
wird von der Gemeinde, ohne Vergütung gegen eine Jahresrente von M. 32 pro<lb/>
Kind, Unterkommen gesucht. Gemeindevorstand." Nicht bloß diese weite Ver¬<lb/>
breitung hebt die einzelne Erscheinung über die Entrüstung gegen einzelne un¬<lb/>
fähige Beamten hinaus. Der Grund, daß jene Menschen so handeln, liegt<lb/>
tiefer.  Jene kleinen Dörfer sind wirtschaftlich solchen Aufgaben keineswegs</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> «renzbotsn III 1V18 - -0 ,</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0261] Weshalb brauchen wir ein Reichsgesetz über Jugendämter? Ein Gesetz kann also in der Jugendfürsorge sehr viel leisten. Eben die Teile der Erziehung, um die es sich beim Kinderschutz handelt, sind einer behörd¬ lichen Verwaltung Wohl zugänglich; ihr Ausbau ist damit auch dem Einfluß des Gesetzes offen. Es ist also möglich und wohl denkbar, daß die Gesetzgebung in der öffentlichen Jugendfürsorge wirklich etwas leisten kann. Gegenüber der Fülle von Gesetzen, unter denen wir leben und vielfach seufzen, ist es ebenso wichtig, dann zu fragen: Ist es denn unumgänglich nötig, daß das Gesetz eingreift? Wir müßen zeigen, daß Mißstände und Übel vor¬ handen sind, die sich nur durch das Gesetz ändern lassen. Dazu genügt es nicht, wenn wir selbst eine Menge einzelner Fälle beibringen, wo diese oder jene Be¬ hörde falsch gehandelt hat, wo dieser oder jener Beamte sich der ihm anvertrauten Kinder nicht genügend angenommen hat. Alle menschlichen Einrichtungen werden solche Mängel aufweisen und am allerwenigsten kann man durch Gesetze erreichen, daß die Verwaltungen und die Menschen, die in jenen wirken, stets ihrer Aufgabe gewachsen sind und überall ihre Pflicht tun. Anders liegt die Sache, wo es sich um grundsätzliche Mißstände handelt. Das ist hier in zwei Richtungen der Fall: In der Gestaltung der Verwaltung stoßen wir auf Fehler und Unzulänglichkeiten, die mit dem Wohl der schutzbedürftiger Jugend unverträglich sind und die nur durch gesetzliche Vorschriften geändert werden können. Ferner finden ganze Grup¬ pen schutzbedürftiger Kinder keinen genügenden Schutz, so daß für sie ganz andere neue Verwaltungseinrichtungen geschaffen werden müssen. Beginnen wir mit einem Beispiel, daß seinerzeit viel Aufsehen erregt hat. Eine arme uneheliche Mutter ist genötigt, ihr Kind in fremde Pflege zu geben, um.selbst verdienen zu können. Kaum hat sie auf dem Dorf eine Pflege¬ stelle gefunden, so erscheint der Ortsvorsteher. Er fürchtet, daß das Kind der Armenpflege zur Last fallen könnte, was den geringen Etat seiner Gemeinde arg bedrücken würde. Also sucht er mit allen Mitteln die Mutter zu zwingen, ihr Kind wieder mit sich zu nehmen; oder er bringt die Pflegefrau dazu, das Kind seiner Mutter zurückzubringen. So geht es der Mutter nicht nur an dem einen Orte, sondern an drei, vieren nacheinander. Dabei sind die Ortsvorsteher, die so handeln, zugleich Vorsteher des Gemeindewaisenrats, dem ganz besonders daS Wohl der Mündel anvertraut ist; sie vertreten ferner die Polizei, die die Pflege¬ kinder bei fremden Leuten zu betreuen verpflichtet sind. Dieser Fall ist einfach den Akten eines Strafprozesses nacherzählt gegen eine Mutter, die schließlich aus Ver¬ zweiflung» über dieses vergebliche Sorgen und Mühen für ihr Kind es getötet hat. Er ist keineswegs bloß vereinzelt, sondern hat allgemeine Bedeutung. Was da festgestellt wurde, war so belastend und entsprach offenbar so sehr einer allge¬ meinen Erscheinung, daß der preußische Minister des Innern alle Gemeinden in einem besonderen Erlaß auf diesen Fall aufmerksam machte und auf Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegen solche Kinder hinwies. Immer wieder können wir Fälle feststellen, wo Kinder von einer Gemeinde¬ behörde in der Art versteigert werden, daß sie der bekommt, der am wenigsten fordert. Man sollte glauben, das sei ein verschollener Brauch vergangener Jahr¬ hunderte; und doch können wir ihn aus den letzten Jahren aktenmäßig belegen oder aus Anzeigen in der amtlichen Presse der Provinzen nachweisen. Man hielt also dies Verfahren für so selbstverständlich, daß man sich ruhig damit vor der breiten Öffentlichkeit hören ließ. Zwei Fälle werden dies am besten beleuchten. Sulinger Kreiszeitung 14. 2.1912. „2 hiesige kleine Mädchen im Alter von 2 und 4 Jahren sollen am Sonntag, den 13. d. M., morgens 9 Uhr, in gute Pflege mindestfordernd untergebracht worden. S. Waisenamt." — Arendseer Nach¬ richten 9. 11. 13. Für zwei gesunde kräftige Kinder von 10 und 11 Jahren wird von der Gemeinde, ohne Vergütung gegen eine Jahresrente von M. 32 pro Kind, Unterkommen gesucht. Gemeindevorstand." Nicht bloß diese weite Ver¬ breitung hebt die einzelne Erscheinung über die Entrüstung gegen einzelne un¬ fähige Beamten hinaus. Der Grund, daß jene Menschen so handeln, liegt tiefer. Jene kleinen Dörfer sind wirtschaftlich solchen Aufgaben keineswegs «renzbotsn III 1V18 - -0 ,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/261
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/261>, abgerufen am 22.07.2024.