Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
IVandlungen des historischen Interesses

Hoffnungen erweckt, zu vermeiden und lieber bescheidentlich bloß von "Regeln"
zu sprechen, die bekanntlich niemals "ohne Ausnahme" sind. Wesentlich jedoch
scheint uns, daß auch in den Geisteswissenschaften allgemeinere Erkenntnisse
möglich sind. Mag bisher die Soziologie auch in ihren Ergebnissen noch sehr
schwankend sein, ihre rasch anwachsende Bedeutung für die Geisteswissenschaften
kann doch schon heute nicht geleugnet werden. Noch bekämpfen sich die verschiedenen
Richtungen der Soziologie aufs heftigste und besonders in Deutschland haben sie
nicht nur unter den Historikern alter Schule, auch unter den Psychologen hestigen
Widerstand gefunden. Es scheint uns jedoch, daß dieser Widerstand nicht siegreich
bleiben wird. Auch die von Wundt vor allem vertretene "Völkerpsychologie"
kann die Soziologie nicht ganz ersetzen, da sie doch bei aller Ähnlichkeit wesentlich
andere Ausgangspunkte und Methoden hat.




Ich habe versucht, eine Entwicklung aufzuzeigen, die sich nicht immer
deutlich und nicht immer bewußt in ihren Zielen innerhalb der Geisteswissen¬
schaften in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. Die rein pragmatische
Geschichtswissenschaft, so wertvoll sie ist, verliert mehr und mehr an Interesse.
Selbst solche Forscher, die im Prinzip noch ganz ihr angehören, sehen sich
gezwungen, den neuen Tendenzen, vor allem den psychologischen und
soziologischen, Konzessionen zu machen.

Der Hauptgrund der ganzen Bewegung aber liegt Wohl darin, daß man mit
dem Materialsammeln zu weit fortgeschritten ist, als daß man nicht die
Notwendigkeit einer tieferen Bearbeitung desselben empfinden müßte. Die
Methoden der reinen Historie reichen dazu uicht aus. Man will mehr wissen, als
"wie es eigentlich gewesen" ist, was für Ranke das Hauptziel der Geschichte ist.
Denn die Geschichte im weitesten Sinne ist ja das Gedächtnis, die Erfahrung der
gesamten Menschheit. Wie aber im einzelnen Menschen das Festhalten der
Erlebni"
Erlebnise allein nicht genügt, wie der einzelne Mensch bestrebt ist, seine eignen
,'se zu verstehen, und aus ihnen für die Zukunft zu lernen, was erst den
Wert der Erfahrung begründet, so stellt sich immer stärker dies Bedürfnis auch in
der Kulturmenschheit als solcher dar. Verständnis aber und allgemeine
Erkenntnis bieten erst die psychologische und soziologische Durchdringung des
Stoffes. Diese wollen den Fehler der alten Geschichtsphilosophie vermeiden, die
Tatsachen nach vorgefaßten Ideen zu vergewaltigen, sie hoffen aber, von den
Tatsachen aufsteigend, auf durchaus solidem Boden bleibend, dennoch zu Stand¬
punkten zu gelangen, die ihren Blick über das Singuläre hinaus dennoch zu
Erkenntnissen tieferen und allgemeineren Charakters erweitern.




IVandlungen des historischen Interesses

Hoffnungen erweckt, zu vermeiden und lieber bescheidentlich bloß von „Regeln"
zu sprechen, die bekanntlich niemals „ohne Ausnahme" sind. Wesentlich jedoch
scheint uns, daß auch in den Geisteswissenschaften allgemeinere Erkenntnisse
möglich sind. Mag bisher die Soziologie auch in ihren Ergebnissen noch sehr
schwankend sein, ihre rasch anwachsende Bedeutung für die Geisteswissenschaften
kann doch schon heute nicht geleugnet werden. Noch bekämpfen sich die verschiedenen
Richtungen der Soziologie aufs heftigste und besonders in Deutschland haben sie
nicht nur unter den Historikern alter Schule, auch unter den Psychologen hestigen
Widerstand gefunden. Es scheint uns jedoch, daß dieser Widerstand nicht siegreich
bleiben wird. Auch die von Wundt vor allem vertretene „Völkerpsychologie"
kann die Soziologie nicht ganz ersetzen, da sie doch bei aller Ähnlichkeit wesentlich
andere Ausgangspunkte und Methoden hat.




Ich habe versucht, eine Entwicklung aufzuzeigen, die sich nicht immer
deutlich und nicht immer bewußt in ihren Zielen innerhalb der Geisteswissen¬
schaften in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. Die rein pragmatische
Geschichtswissenschaft, so wertvoll sie ist, verliert mehr und mehr an Interesse.
Selbst solche Forscher, die im Prinzip noch ganz ihr angehören, sehen sich
gezwungen, den neuen Tendenzen, vor allem den psychologischen und
soziologischen, Konzessionen zu machen.

Der Hauptgrund der ganzen Bewegung aber liegt Wohl darin, daß man mit
dem Materialsammeln zu weit fortgeschritten ist, als daß man nicht die
Notwendigkeit einer tieferen Bearbeitung desselben empfinden müßte. Die
Methoden der reinen Historie reichen dazu uicht aus. Man will mehr wissen, als
„wie es eigentlich gewesen" ist, was für Ranke das Hauptziel der Geschichte ist.
Denn die Geschichte im weitesten Sinne ist ja das Gedächtnis, die Erfahrung der
gesamten Menschheit. Wie aber im einzelnen Menschen das Festhalten der
Erlebni"
Erlebnise allein nicht genügt, wie der einzelne Mensch bestrebt ist, seine eignen
,'se zu verstehen, und aus ihnen für die Zukunft zu lernen, was erst den
Wert der Erfahrung begründet, so stellt sich immer stärker dies Bedürfnis auch in
der Kulturmenschheit als solcher dar. Verständnis aber und allgemeine
Erkenntnis bieten erst die psychologische und soziologische Durchdringung des
Stoffes. Diese wollen den Fehler der alten Geschichtsphilosophie vermeiden, die
Tatsachen nach vorgefaßten Ideen zu vergewaltigen, sie hoffen aber, von den
Tatsachen aufsteigend, auf durchaus solidem Boden bleibend, dennoch zu Stand¬
punkten zu gelangen, die ihren Blick über das Singuläre hinaus dennoch zu
Erkenntnissen tieferen und allgemeineren Charakters erweitern.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0258" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/334103"/>
          <fw type="header" place="top"> IVandlungen des historischen Interesses</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1046" prev="#ID_1045"> Hoffnungen erweckt, zu vermeiden und lieber bescheidentlich bloß von &#x201E;Regeln"<lb/>
zu sprechen, die bekanntlich niemals &#x201E;ohne Ausnahme" sind. Wesentlich jedoch<lb/>
scheint uns, daß auch in den Geisteswissenschaften allgemeinere Erkenntnisse<lb/>
möglich sind. Mag bisher die Soziologie auch in ihren Ergebnissen noch sehr<lb/>
schwankend sein, ihre rasch anwachsende Bedeutung für die Geisteswissenschaften<lb/>
kann doch schon heute nicht geleugnet werden. Noch bekämpfen sich die verschiedenen<lb/>
Richtungen der Soziologie aufs heftigste und besonders in Deutschland haben sie<lb/>
nicht nur unter den Historikern alter Schule, auch unter den Psychologen hestigen<lb/>
Widerstand gefunden. Es scheint uns jedoch, daß dieser Widerstand nicht siegreich<lb/>
bleiben wird. Auch die von Wundt vor allem vertretene &#x201E;Völkerpsychologie"<lb/>
kann die Soziologie nicht ganz ersetzen, da sie doch bei aller Ähnlichkeit wesentlich<lb/>
andere Ausgangspunkte und Methoden hat.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1047"> Ich habe versucht, eine Entwicklung aufzuzeigen, die sich nicht immer<lb/>
deutlich und nicht immer bewußt in ihren Zielen innerhalb der Geisteswissen¬<lb/>
schaften in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. Die rein pragmatische<lb/>
Geschichtswissenschaft, so wertvoll sie ist, verliert mehr und mehr an Interesse.<lb/>
Selbst solche Forscher, die im Prinzip noch ganz ihr angehören, sehen sich<lb/>
gezwungen, den neuen Tendenzen, vor allem den psychologischen und<lb/>
soziologischen, Konzessionen zu machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1048"> Der Hauptgrund der ganzen Bewegung aber liegt Wohl darin, daß man mit<lb/>
dem Materialsammeln zu weit fortgeschritten ist, als daß man nicht die<lb/>
Notwendigkeit einer tieferen Bearbeitung desselben empfinden müßte. Die<lb/>
Methoden der reinen Historie reichen dazu uicht aus. Man will mehr wissen, als<lb/>
&#x201E;wie es eigentlich gewesen" ist, was für Ranke das Hauptziel der Geschichte ist.<lb/>
Denn die Geschichte im weitesten Sinne ist ja das Gedächtnis, die Erfahrung der<lb/>
gesamten Menschheit. Wie aber im einzelnen Menschen das Festhalten der<lb/>
Erlebni"<lb/>
Erlebnise allein nicht genügt, wie der einzelne Mensch bestrebt ist, seine eignen<lb/>
,'se zu verstehen, und aus ihnen für die Zukunft zu lernen, was erst den<lb/>
Wert der Erfahrung begründet, so stellt sich immer stärker dies Bedürfnis auch in<lb/>
der Kulturmenschheit als solcher dar. Verständnis aber und allgemeine<lb/>
Erkenntnis bieten erst die psychologische und soziologische Durchdringung des<lb/>
Stoffes. Diese wollen den Fehler der alten Geschichtsphilosophie vermeiden, die<lb/>
Tatsachen nach vorgefaßten Ideen zu vergewaltigen, sie hoffen aber, von den<lb/>
Tatsachen aufsteigend, auf durchaus solidem Boden bleibend, dennoch zu Stand¬<lb/>
punkten zu gelangen, die ihren Blick über das Singuläre hinaus dennoch zu<lb/>
Erkenntnissen tieferen und allgemeineren Charakters erweitern.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0258] IVandlungen des historischen Interesses Hoffnungen erweckt, zu vermeiden und lieber bescheidentlich bloß von „Regeln" zu sprechen, die bekanntlich niemals „ohne Ausnahme" sind. Wesentlich jedoch scheint uns, daß auch in den Geisteswissenschaften allgemeinere Erkenntnisse möglich sind. Mag bisher die Soziologie auch in ihren Ergebnissen noch sehr schwankend sein, ihre rasch anwachsende Bedeutung für die Geisteswissenschaften kann doch schon heute nicht geleugnet werden. Noch bekämpfen sich die verschiedenen Richtungen der Soziologie aufs heftigste und besonders in Deutschland haben sie nicht nur unter den Historikern alter Schule, auch unter den Psychologen hestigen Widerstand gefunden. Es scheint uns jedoch, daß dieser Widerstand nicht siegreich bleiben wird. Auch die von Wundt vor allem vertretene „Völkerpsychologie" kann die Soziologie nicht ganz ersetzen, da sie doch bei aller Ähnlichkeit wesentlich andere Ausgangspunkte und Methoden hat. Ich habe versucht, eine Entwicklung aufzuzeigen, die sich nicht immer deutlich und nicht immer bewußt in ihren Zielen innerhalb der Geisteswissen¬ schaften in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. Die rein pragmatische Geschichtswissenschaft, so wertvoll sie ist, verliert mehr und mehr an Interesse. Selbst solche Forscher, die im Prinzip noch ganz ihr angehören, sehen sich gezwungen, den neuen Tendenzen, vor allem den psychologischen und soziologischen, Konzessionen zu machen. Der Hauptgrund der ganzen Bewegung aber liegt Wohl darin, daß man mit dem Materialsammeln zu weit fortgeschritten ist, als daß man nicht die Notwendigkeit einer tieferen Bearbeitung desselben empfinden müßte. Die Methoden der reinen Historie reichen dazu uicht aus. Man will mehr wissen, als „wie es eigentlich gewesen" ist, was für Ranke das Hauptziel der Geschichte ist. Denn die Geschichte im weitesten Sinne ist ja das Gedächtnis, die Erfahrung der gesamten Menschheit. Wie aber im einzelnen Menschen das Festhalten der Erlebni" Erlebnise allein nicht genügt, wie der einzelne Mensch bestrebt ist, seine eignen ,'se zu verstehen, und aus ihnen für die Zukunft zu lernen, was erst den Wert der Erfahrung begründet, so stellt sich immer stärker dies Bedürfnis auch in der Kulturmenschheit als solcher dar. Verständnis aber und allgemeine Erkenntnis bieten erst die psychologische und soziologische Durchdringung des Stoffes. Diese wollen den Fehler der alten Geschichtsphilosophie vermeiden, die Tatsachen nach vorgefaßten Ideen zu vergewaltigen, sie hoffen aber, von den Tatsachen aufsteigend, auf durchaus solidem Boden bleibend, dennoch zu Stand¬ punkten zu gelangen, die ihren Blick über das Singuläre hinaus dennoch zu Erkenntnissen tieferen und allgemeineren Charakters erweitern.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/258
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/258>, abgerufen am 22.07.2024.