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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Wandlungen des historischen Interesses

Bereits diese Entwicklung aber bahnt das an, was sich schärferem Hinsehen
immer deutlicher offenbart; daß das Interesse, das wir den Tatsachen des Kultur¬
lebens entgegenbringen, nicht mehr im alten Sinne historisch ist, nein daß es, auch
wo es sich noch historischer Formeln und Methoden bedient, den ursprünglichen
historischen Interessen gerade entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten: das
Interesse an den Tatsachen des Kulturlebens sucht nicht mehr in erster Linie das
Besondere und Außergewöhnliche, es sucht gerade das Normale, Gemeinsame; es
hat auch das Interesse am Fremdartigen und seltsamen als solchem abgelegt und
erkennt selbst im scheinbar Fremden und seltsamen das Allgemeinmenschliche; die
rein zeitliche Aufeinanderfolge interessiert nicht mehr, man sieht ein, daß eine
wirkliche innere Kausalität damit nicht gegeben ist; überhaupt interessiert anderes
an den Tatsachen als das rein Zeitliche. Was schon Hegel formuliert hatte und
Münsterberg und andere neuerdings gefordert haben, wird zur Maxime, nämlich
daß es die Geschichte mit dem Zeitlosen zu tun habe; auch hat uns die genauere
Kenntnis der Tatsachen gelehrt, daß der Begriff der Entwicklung nicht so einfach
zu handhaben ist, als die meisten meinten, die damit umgingen; wir sehen heute
in früheren Kulturstufen nicht mehr bloße Vorstufen der ' herrlich vollendeten
Gegenwart, fondern erkennen jene sogenannten Vorstufen selber als geschlossene
und in ihrer Art eigenwertige Einheiten; indem man aber die gemeinsame,
tiefere Kausalität verschiedener paralleler Entwicklungsreihen aufsuchte, verlor
die Kausalität des Nacheinander immer mehr an Wert. Man sieht ein, daß sich
nicht eine Geschichte schreiben läßt, die die Tatsache K aus einer vorangehenden
Tatsache s, erklärt und o aus d, man sieht auch ein, daß ä nicht aus s, und K und o
zusammen erklärbar ist; man erkennt, daß die Kausalität im menschlichen Handeln
überhaupt ein unendlich schwieriger Begriff ist, daß kein Tatsachenkomplex restlos
aus ein paar vorhergehenden Tatsachen erklärbar ist, daß das ganze Gewebe des
Lebens unendlich viel zu kompliziert ist, als daß es auf einen Faden aufzureihen
wäre. Mit all diesen Wandlungen aber hat sich die Geschichte gleichsam selber
aufgehoben. Man könnte sagen, das Interesse in den historischen Wissenschaften
ist heute wesentlich unhistorisch; und viele Forscher haben daraus auch die
Konsequenz gezogen, indem sie ihr Forschungsgebiet nicht mehr als .Kunst¬
geschichte, Religionsgeschichte, Literaturgeschichte bezeichnen, sondern richtiger
von Kunst-, Religions- oder Literaturwissenschaft sprechen.




Ich versuche nnn zunächst, die neuen Tendenzen innerhalb der Geistes¬
wissenschaften etwas genauer darzulegen: Das Interesse für das Normale,
Gemeinsame statt für das Außerordentliche und Seltene zeigt sich schon ganz
allgemein in der stärkeren Betonung der Kulturgeschichte gegenüber der politischen
Geschichte. Wir sind sozusagen demokratischer geworden. Wie wir von einer
Tragödie nicht mehr verlangen, daß sie an Königshöfen spielt, so scheint auch die
Geschichte der niederen sozialen Schichten neben der der Fürsten und großen
Herren erzählenswert. Man will nicht bloß wissen, was bei besonderen Gelegen¬
heiten geschah, sondern gerade der Alltag interessiert, Handel und Gewerbe,
Familienleben und Sitte werden studiert, ja man hat das Gefühl, in diesen
Sphären das Walten und Wirken der historischen Mächte reiner beobachten zu
können als in den einsamen Höhen der Dynastien.

Bei diesem Studium der Geschichte mit verbreiterter Forschungsbasis ergibt
sich dann die weitere Tatsache, daß nämlich die einzelnen Perioden gar nicht so
verschieden sind, wie es den Anschein hat, wenn man nur einzelne Merkwürdig¬
keiten sammelt. Man erkennt hinter den verschiedenen Kostümen und Gewohn¬
heiten doch überall eine wenn auch nicht gleiche, so doch auf gleicher Organisation
beruhende Mer
studiert, weder '
noch so roh undchlichkeit. Man sieht, daß das Mittelalter, wenn man es genauer
o märchenhaft und dämmerig ist, wie es die Romantiker malten,
finster, wie es die Aufklärer sich dachten. Man erkennt, daß die
zunächst fo fremdartig und verschieden anmutenden Einrichtungen und Gewöhn-


Wandlungen des historischen Interesses

Bereits diese Entwicklung aber bahnt das an, was sich schärferem Hinsehen
immer deutlicher offenbart; daß das Interesse, das wir den Tatsachen des Kultur¬
lebens entgegenbringen, nicht mehr im alten Sinne historisch ist, nein daß es, auch
wo es sich noch historischer Formeln und Methoden bedient, den ursprünglichen
historischen Interessen gerade entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten: das
Interesse an den Tatsachen des Kulturlebens sucht nicht mehr in erster Linie das
Besondere und Außergewöhnliche, es sucht gerade das Normale, Gemeinsame; es
hat auch das Interesse am Fremdartigen und seltsamen als solchem abgelegt und
erkennt selbst im scheinbar Fremden und seltsamen das Allgemeinmenschliche; die
rein zeitliche Aufeinanderfolge interessiert nicht mehr, man sieht ein, daß eine
wirkliche innere Kausalität damit nicht gegeben ist; überhaupt interessiert anderes
an den Tatsachen als das rein Zeitliche. Was schon Hegel formuliert hatte und
Münsterberg und andere neuerdings gefordert haben, wird zur Maxime, nämlich
daß es die Geschichte mit dem Zeitlosen zu tun habe; auch hat uns die genauere
Kenntnis der Tatsachen gelehrt, daß der Begriff der Entwicklung nicht so einfach
zu handhaben ist, als die meisten meinten, die damit umgingen; wir sehen heute
in früheren Kulturstufen nicht mehr bloße Vorstufen der ' herrlich vollendeten
Gegenwart, fondern erkennen jene sogenannten Vorstufen selber als geschlossene
und in ihrer Art eigenwertige Einheiten; indem man aber die gemeinsame,
tiefere Kausalität verschiedener paralleler Entwicklungsreihen aufsuchte, verlor
die Kausalität des Nacheinander immer mehr an Wert. Man sieht ein, daß sich
nicht eine Geschichte schreiben läßt, die die Tatsache K aus einer vorangehenden
Tatsache s, erklärt und o aus d, man sieht auch ein, daß ä nicht aus s, und K und o
zusammen erklärbar ist; man erkennt, daß die Kausalität im menschlichen Handeln
überhaupt ein unendlich schwieriger Begriff ist, daß kein Tatsachenkomplex restlos
aus ein paar vorhergehenden Tatsachen erklärbar ist, daß das ganze Gewebe des
Lebens unendlich viel zu kompliziert ist, als daß es auf einen Faden aufzureihen
wäre. Mit all diesen Wandlungen aber hat sich die Geschichte gleichsam selber
aufgehoben. Man könnte sagen, das Interesse in den historischen Wissenschaften
ist heute wesentlich unhistorisch; und viele Forscher haben daraus auch die
Konsequenz gezogen, indem sie ihr Forschungsgebiet nicht mehr als .Kunst¬
geschichte, Religionsgeschichte, Literaturgeschichte bezeichnen, sondern richtiger
von Kunst-, Religions- oder Literaturwissenschaft sprechen.




Ich versuche nnn zunächst, die neuen Tendenzen innerhalb der Geistes¬
wissenschaften etwas genauer darzulegen: Das Interesse für das Normale,
Gemeinsame statt für das Außerordentliche und Seltene zeigt sich schon ganz
allgemein in der stärkeren Betonung der Kulturgeschichte gegenüber der politischen
Geschichte. Wir sind sozusagen demokratischer geworden. Wie wir von einer
Tragödie nicht mehr verlangen, daß sie an Königshöfen spielt, so scheint auch die
Geschichte der niederen sozialen Schichten neben der der Fürsten und großen
Herren erzählenswert. Man will nicht bloß wissen, was bei besonderen Gelegen¬
heiten geschah, sondern gerade der Alltag interessiert, Handel und Gewerbe,
Familienleben und Sitte werden studiert, ja man hat das Gefühl, in diesen
Sphären das Walten und Wirken der historischen Mächte reiner beobachten zu
können als in den einsamen Höhen der Dynastien.

Bei diesem Studium der Geschichte mit verbreiterter Forschungsbasis ergibt
sich dann die weitere Tatsache, daß nämlich die einzelnen Perioden gar nicht so
verschieden sind, wie es den Anschein hat, wenn man nur einzelne Merkwürdig¬
keiten sammelt. Man erkennt hinter den verschiedenen Kostümen und Gewohn¬
heiten doch überall eine wenn auch nicht gleiche, so doch auf gleicher Organisation
beruhende Mer
studiert, weder '
noch so roh undchlichkeit. Man sieht, daß das Mittelalter, wenn man es genauer
o märchenhaft und dämmerig ist, wie es die Romantiker malten,
finster, wie es die Aufklärer sich dachten. Man erkennt, daß die
zunächst fo fremdartig und verschieden anmutenden Einrichtungen und Gewöhn-


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[0254] Wandlungen des historischen Interesses Bereits diese Entwicklung aber bahnt das an, was sich schärferem Hinsehen immer deutlicher offenbart; daß das Interesse, das wir den Tatsachen des Kultur¬ lebens entgegenbringen, nicht mehr im alten Sinne historisch ist, nein daß es, auch wo es sich noch historischer Formeln und Methoden bedient, den ursprünglichen historischen Interessen gerade entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten: das Interesse an den Tatsachen des Kulturlebens sucht nicht mehr in erster Linie das Besondere und Außergewöhnliche, es sucht gerade das Normale, Gemeinsame; es hat auch das Interesse am Fremdartigen und seltsamen als solchem abgelegt und erkennt selbst im scheinbar Fremden und seltsamen das Allgemeinmenschliche; die rein zeitliche Aufeinanderfolge interessiert nicht mehr, man sieht ein, daß eine wirkliche innere Kausalität damit nicht gegeben ist; überhaupt interessiert anderes an den Tatsachen als das rein Zeitliche. Was schon Hegel formuliert hatte und Münsterberg und andere neuerdings gefordert haben, wird zur Maxime, nämlich daß es die Geschichte mit dem Zeitlosen zu tun habe; auch hat uns die genauere Kenntnis der Tatsachen gelehrt, daß der Begriff der Entwicklung nicht so einfach zu handhaben ist, als die meisten meinten, die damit umgingen; wir sehen heute in früheren Kulturstufen nicht mehr bloße Vorstufen der ' herrlich vollendeten Gegenwart, fondern erkennen jene sogenannten Vorstufen selber als geschlossene und in ihrer Art eigenwertige Einheiten; indem man aber die gemeinsame, tiefere Kausalität verschiedener paralleler Entwicklungsreihen aufsuchte, verlor die Kausalität des Nacheinander immer mehr an Wert. Man sieht ein, daß sich nicht eine Geschichte schreiben läßt, die die Tatsache K aus einer vorangehenden Tatsache s, erklärt und o aus d, man sieht auch ein, daß ä nicht aus s, und K und o zusammen erklärbar ist; man erkennt, daß die Kausalität im menschlichen Handeln überhaupt ein unendlich schwieriger Begriff ist, daß kein Tatsachenkomplex restlos aus ein paar vorhergehenden Tatsachen erklärbar ist, daß das ganze Gewebe des Lebens unendlich viel zu kompliziert ist, als daß es auf einen Faden aufzureihen wäre. Mit all diesen Wandlungen aber hat sich die Geschichte gleichsam selber aufgehoben. Man könnte sagen, das Interesse in den historischen Wissenschaften ist heute wesentlich unhistorisch; und viele Forscher haben daraus auch die Konsequenz gezogen, indem sie ihr Forschungsgebiet nicht mehr als .Kunst¬ geschichte, Religionsgeschichte, Literaturgeschichte bezeichnen, sondern richtiger von Kunst-, Religions- oder Literaturwissenschaft sprechen. Ich versuche nnn zunächst, die neuen Tendenzen innerhalb der Geistes¬ wissenschaften etwas genauer darzulegen: Das Interesse für das Normale, Gemeinsame statt für das Außerordentliche und Seltene zeigt sich schon ganz allgemein in der stärkeren Betonung der Kulturgeschichte gegenüber der politischen Geschichte. Wir sind sozusagen demokratischer geworden. Wie wir von einer Tragödie nicht mehr verlangen, daß sie an Königshöfen spielt, so scheint auch die Geschichte der niederen sozialen Schichten neben der der Fürsten und großen Herren erzählenswert. Man will nicht bloß wissen, was bei besonderen Gelegen¬ heiten geschah, sondern gerade der Alltag interessiert, Handel und Gewerbe, Familienleben und Sitte werden studiert, ja man hat das Gefühl, in diesen Sphären das Walten und Wirken der historischen Mächte reiner beobachten zu können als in den einsamen Höhen der Dynastien. Bei diesem Studium der Geschichte mit verbreiterter Forschungsbasis ergibt sich dann die weitere Tatsache, daß nämlich die einzelnen Perioden gar nicht so verschieden sind, wie es den Anschein hat, wenn man nur einzelne Merkwürdig¬ keiten sammelt. Man erkennt hinter den verschiedenen Kostümen und Gewohn¬ heiten doch überall eine wenn auch nicht gleiche, so doch auf gleicher Organisation beruhende Mer studiert, weder ' noch so roh undchlichkeit. Man sieht, daß das Mittelalter, wenn man es genauer o märchenhaft und dämmerig ist, wie es die Romantiker malten, finster, wie es die Aufklärer sich dachten. Man erkennt, daß die zunächst fo fremdartig und verschieden anmutenden Einrichtungen und Gewöhn-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/254>, abgerufen am 22.07.2024.