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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Englands Bild in den Augen der deutschen Klassiker

Es ist Weltklugheit, °wenn die Engländer diese "Inhumanität" verhüllen,
und mit einem leisen Unterton der Achtung vor solcher Klugheit ist eine Äußerung
Goethes zu Eckermann über die "Deklamationen" der Engländer gegen die Sklaven¬
ausfuhr aus Afrika gesprochen: während sie der Welt "humane Maximen" wei߬
machen wollten, sei "das wahre Motiv ein sehr reales Objekt, ohne welches es
die Engländer bekanntlich nie tun", nämlich die Notwendigkeit, die Neger als
Arbeiter in den eigenen Kolonien zu behalten. Bei schlechterer Laune mochten
allerdings solche Beobachtungen Goethe zu einem Wort wie dem an Förster ver¬
anlassen, es gebe nirgendwo soviel Scheinheilige und Heuchler wie in England.

Das tiefste Empfinden Goethes gegen England mag wohl manchmal dem
gleichen, das die staatlich zersplitterten Griechen, die Erben der höchsten Kultur¬
güter, beim Anblick der römischen Weltmacht beschlich. "Während aber," sagt er
einmal zu Eckermann, "die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer Probleme
quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstände aus
und gewinnen die Welt." Ja fast muß den Angehörigen des zerrissenen Deutsch¬
lands die englische Weltmacht als Notwendigkeit erscheinen, da nur sie die Eng¬
länder zu den großzügigsten Kulturwerken befähigt, die der Welt zugute kommen.
Daher erklärt sich sein Wunsch, den er am 21. Februar 1827 aussprach, nachdem
er sich über die Notwendigkeit eines Rhein-Donaukanals und des Panamakanals
geäußert hatte: "Und drittens möchte ich die Engländer im Besitz eines Kanals
von Suez sehen." Er konnte sich eben ein so großes Werk nicht ohne Mitwirkung
der Engländer denken, zweifelte er doch daran, daß die Deutschen die Kräfte für
einen Rhein-Doncmkanal aufbringen könnten. Leider hat die Zeit Goethes Hoff¬
nung und Goethes Zweifel gerechtfertigt.

Zwei Seiten des englischen Wesens erscheinen Goethe allerdings sehr un¬
erfreulich, die Behandlung des Kirchlichen und die der Sittlichkeit; denn als Grund¬
lage fühlt er Heuchelei heraus. Besonderer Gegenstand seines Spottes ist die
überaus reichliche Bezahlung der hohen englischen Geistlichkeit, die nach seiner
Ansicht an die 39 Artikel, welche die Grundsätze und die Alleinherrschaft der
anglikanischen Kirche in England festlegen, selber nicht glaubt. Eckermann be¬
richtet, daß sich Goethe in mevhistophaUscher Laune in der Vorstellung gefallen
habe, wie er sich als geborener Engländer hätte verhalten wollen: "Ich hätte in
Reimen und in Prosa solange und soviel geheuchelt und gelogen . . ., daß meine
dreißigtausend Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen sollen." Und damit er
dieses Bischofsgehalt in Ruhe hätte genießen können, hätte er sich eifrig um die
Verdummung der Massen, besonders der Schuljugend, bemüht, "damit ja niemand
hätte wahrnehmen, ja nicht einmal den Mut hätte haben sollen zu bemerken, daß
mein glänzender Zustand auf der Basis der schändlichsten Mißbräuche fundiert
sei." -- Die Übertreibung der sittlichen Rücksichten schildert Goethe vielleicht am
besten mit leiser Ironie in einer Szene, wo ein junges Mädchen aus der Kunst¬
sammlung ihres Oheims einer englischen Dame eine "köstliche liegende Venus"
zeigt. Sie erhält gleich die Antwort: "Also diese Nacktheit beleidigt Sie nicht?"
Der Hinweis Juliens auf den Kunstwert gibt der Dame nur zu moralischen
Lehren über die gefährlichen Gedanken, die sich an die Figur knüpfen können,
Anlaß. Julie bleibt unbekehrt und "die Dame wendete sich um und sprach
englisch zu ihrem stummen Begleiter" ("Der Sammler und die Seinigen"). Über¬
blicken wir jedoch am Ende Goethes Worte über England, so überwiegt die
Achtung vor der Großzügigkeit und Zielsicherheit alles, was er im einzelnen
zu tadeln fand.

Bei Schiller tritt die Wertung englischen Wesens anfänglich unter den be-
herrschenden Gesichtspunkt der Freiheit. Daher ist in seinen Äußerungen über
England eine deutliche Entwicklung zu beobachten, die durch Schillers Erfahrungen
um die Jahrhundertwende abgeschlossen wird. Als er an "Kabale und Liebe"
arbeitete (1782 bis 1784), empfindet er bei der Schilderung des Despotismus an
dem kleinen deutschen Fürstenhöfe schmerzlich den Gegensatz zu den freiheitlichen
Grundgedanken der englischen Verfassung, ähnlich wie ihn Voltaire nach seinen


Englands Bild in den Augen der deutschen Klassiker

Es ist Weltklugheit, °wenn die Engländer diese „Inhumanität" verhüllen,
und mit einem leisen Unterton der Achtung vor solcher Klugheit ist eine Äußerung
Goethes zu Eckermann über die „Deklamationen" der Engländer gegen die Sklaven¬
ausfuhr aus Afrika gesprochen: während sie der Welt „humane Maximen" wei߬
machen wollten, sei „das wahre Motiv ein sehr reales Objekt, ohne welches es
die Engländer bekanntlich nie tun", nämlich die Notwendigkeit, die Neger als
Arbeiter in den eigenen Kolonien zu behalten. Bei schlechterer Laune mochten
allerdings solche Beobachtungen Goethe zu einem Wort wie dem an Förster ver¬
anlassen, es gebe nirgendwo soviel Scheinheilige und Heuchler wie in England.

Das tiefste Empfinden Goethes gegen England mag wohl manchmal dem
gleichen, das die staatlich zersplitterten Griechen, die Erben der höchsten Kultur¬
güter, beim Anblick der römischen Weltmacht beschlich. „Während aber," sagt er
einmal zu Eckermann, „die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer Probleme
quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstände aus
und gewinnen die Welt." Ja fast muß den Angehörigen des zerrissenen Deutsch¬
lands die englische Weltmacht als Notwendigkeit erscheinen, da nur sie die Eng¬
länder zu den großzügigsten Kulturwerken befähigt, die der Welt zugute kommen.
Daher erklärt sich sein Wunsch, den er am 21. Februar 1827 aussprach, nachdem
er sich über die Notwendigkeit eines Rhein-Donaukanals und des Panamakanals
geäußert hatte: „Und drittens möchte ich die Engländer im Besitz eines Kanals
von Suez sehen." Er konnte sich eben ein so großes Werk nicht ohne Mitwirkung
der Engländer denken, zweifelte er doch daran, daß die Deutschen die Kräfte für
einen Rhein-Doncmkanal aufbringen könnten. Leider hat die Zeit Goethes Hoff¬
nung und Goethes Zweifel gerechtfertigt.

Zwei Seiten des englischen Wesens erscheinen Goethe allerdings sehr un¬
erfreulich, die Behandlung des Kirchlichen und die der Sittlichkeit; denn als Grund¬
lage fühlt er Heuchelei heraus. Besonderer Gegenstand seines Spottes ist die
überaus reichliche Bezahlung der hohen englischen Geistlichkeit, die nach seiner
Ansicht an die 39 Artikel, welche die Grundsätze und die Alleinherrschaft der
anglikanischen Kirche in England festlegen, selber nicht glaubt. Eckermann be¬
richtet, daß sich Goethe in mevhistophaUscher Laune in der Vorstellung gefallen
habe, wie er sich als geborener Engländer hätte verhalten wollen: „Ich hätte in
Reimen und in Prosa solange und soviel geheuchelt und gelogen . . ., daß meine
dreißigtausend Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen sollen." Und damit er
dieses Bischofsgehalt in Ruhe hätte genießen können, hätte er sich eifrig um die
Verdummung der Massen, besonders der Schuljugend, bemüht, „damit ja niemand
hätte wahrnehmen, ja nicht einmal den Mut hätte haben sollen zu bemerken, daß
mein glänzender Zustand auf der Basis der schändlichsten Mißbräuche fundiert
sei." — Die Übertreibung der sittlichen Rücksichten schildert Goethe vielleicht am
besten mit leiser Ironie in einer Szene, wo ein junges Mädchen aus der Kunst¬
sammlung ihres Oheims einer englischen Dame eine „köstliche liegende Venus"
zeigt. Sie erhält gleich die Antwort: „Also diese Nacktheit beleidigt Sie nicht?"
Der Hinweis Juliens auf den Kunstwert gibt der Dame nur zu moralischen
Lehren über die gefährlichen Gedanken, die sich an die Figur knüpfen können,
Anlaß. Julie bleibt unbekehrt und „die Dame wendete sich um und sprach
englisch zu ihrem stummen Begleiter" („Der Sammler und die Seinigen"). Über¬
blicken wir jedoch am Ende Goethes Worte über England, so überwiegt die
Achtung vor der Großzügigkeit und Zielsicherheit alles, was er im einzelnen
zu tadeln fand.

Bei Schiller tritt die Wertung englischen Wesens anfänglich unter den be-
herrschenden Gesichtspunkt der Freiheit. Daher ist in seinen Äußerungen über
England eine deutliche Entwicklung zu beobachten, die durch Schillers Erfahrungen
um die Jahrhundertwende abgeschlossen wird. Als er an „Kabale und Liebe"
arbeitete (1782 bis 1784), empfindet er bei der Schilderung des Despotismus an
dem kleinen deutschen Fürstenhöfe schmerzlich den Gegensatz zu den freiheitlichen
Grundgedanken der englischen Verfassung, ähnlich wie ihn Voltaire nach seinen


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[0241] Englands Bild in den Augen der deutschen Klassiker Es ist Weltklugheit, °wenn die Engländer diese „Inhumanität" verhüllen, und mit einem leisen Unterton der Achtung vor solcher Klugheit ist eine Äußerung Goethes zu Eckermann über die „Deklamationen" der Engländer gegen die Sklaven¬ ausfuhr aus Afrika gesprochen: während sie der Welt „humane Maximen" wei߬ machen wollten, sei „das wahre Motiv ein sehr reales Objekt, ohne welches es die Engländer bekanntlich nie tun", nämlich die Notwendigkeit, die Neger als Arbeiter in den eigenen Kolonien zu behalten. Bei schlechterer Laune mochten allerdings solche Beobachtungen Goethe zu einem Wort wie dem an Förster ver¬ anlassen, es gebe nirgendwo soviel Scheinheilige und Heuchler wie in England. Das tiefste Empfinden Goethes gegen England mag wohl manchmal dem gleichen, das die staatlich zersplitterten Griechen, die Erben der höchsten Kultur¬ güter, beim Anblick der römischen Weltmacht beschlich. „Während aber," sagt er einmal zu Eckermann, „die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer Probleme quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstände aus und gewinnen die Welt." Ja fast muß den Angehörigen des zerrissenen Deutsch¬ lands die englische Weltmacht als Notwendigkeit erscheinen, da nur sie die Eng¬ länder zu den großzügigsten Kulturwerken befähigt, die der Welt zugute kommen. Daher erklärt sich sein Wunsch, den er am 21. Februar 1827 aussprach, nachdem er sich über die Notwendigkeit eines Rhein-Donaukanals und des Panamakanals geäußert hatte: „Und drittens möchte ich die Engländer im Besitz eines Kanals von Suez sehen." Er konnte sich eben ein so großes Werk nicht ohne Mitwirkung der Engländer denken, zweifelte er doch daran, daß die Deutschen die Kräfte für einen Rhein-Doncmkanal aufbringen könnten. Leider hat die Zeit Goethes Hoff¬ nung und Goethes Zweifel gerechtfertigt. Zwei Seiten des englischen Wesens erscheinen Goethe allerdings sehr un¬ erfreulich, die Behandlung des Kirchlichen und die der Sittlichkeit; denn als Grund¬ lage fühlt er Heuchelei heraus. Besonderer Gegenstand seines Spottes ist die überaus reichliche Bezahlung der hohen englischen Geistlichkeit, die nach seiner Ansicht an die 39 Artikel, welche die Grundsätze und die Alleinherrschaft der anglikanischen Kirche in England festlegen, selber nicht glaubt. Eckermann be¬ richtet, daß sich Goethe in mevhistophaUscher Laune in der Vorstellung gefallen habe, wie er sich als geborener Engländer hätte verhalten wollen: „Ich hätte in Reimen und in Prosa solange und soviel geheuchelt und gelogen . . ., daß meine dreißigtausend Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen sollen." Und damit er dieses Bischofsgehalt in Ruhe hätte genießen können, hätte er sich eifrig um die Verdummung der Massen, besonders der Schuljugend, bemüht, „damit ja niemand hätte wahrnehmen, ja nicht einmal den Mut hätte haben sollen zu bemerken, daß mein glänzender Zustand auf der Basis der schändlichsten Mißbräuche fundiert sei." — Die Übertreibung der sittlichen Rücksichten schildert Goethe vielleicht am besten mit leiser Ironie in einer Szene, wo ein junges Mädchen aus der Kunst¬ sammlung ihres Oheims einer englischen Dame eine „köstliche liegende Venus" zeigt. Sie erhält gleich die Antwort: „Also diese Nacktheit beleidigt Sie nicht?" Der Hinweis Juliens auf den Kunstwert gibt der Dame nur zu moralischen Lehren über die gefährlichen Gedanken, die sich an die Figur knüpfen können, Anlaß. Julie bleibt unbekehrt und „die Dame wendete sich um und sprach englisch zu ihrem stummen Begleiter" („Der Sammler und die Seinigen"). Über¬ blicken wir jedoch am Ende Goethes Worte über England, so überwiegt die Achtung vor der Großzügigkeit und Zielsicherheit alles, was er im einzelnen zu tadeln fand. Bei Schiller tritt die Wertung englischen Wesens anfänglich unter den be- herrschenden Gesichtspunkt der Freiheit. Daher ist in seinen Äußerungen über England eine deutliche Entwicklung zu beobachten, die durch Schillers Erfahrungen um die Jahrhundertwende abgeschlossen wird. Als er an „Kabale und Liebe" arbeitete (1782 bis 1784), empfindet er bei der Schilderung des Despotismus an dem kleinen deutschen Fürstenhöfe schmerzlich den Gegensatz zu den freiheitlichen Grundgedanken der englischen Verfassung, ähnlich wie ihn Voltaire nach seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/241>, abgerufen am 22.07.2024.