Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.Ein Feldpostbrief ihren Hügeln und grünen Wäldern vorbeifuhren. Und dann taucht die wunder¬ 12. Nachmittags. Zwischen 11 und 12 hatte ich eine Stunde Zeit, weil Ein Feldpostbrief ihren Hügeln und grünen Wäldern vorbeifuhren. Und dann taucht die wunder¬ 12. Nachmittags. Zwischen 11 und 12 hatte ich eine Stunde Zeit, weil <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333982"/> <fw type="header" place="top"> Ein Feldpostbrief</fw><lb/> <p xml:id="ID_537" prev="#ID_536"> ihren Hügeln und grünen Wäldern vorbeifuhren. Und dann taucht die wunder¬<lb/> volle Hansasilhouette des alten Reval auf. Wenn nur nicht die goldenen Zwiebeln<lb/> so ungehörig zwischen Se. Olai und Se. Nikolai, und wie die ehrwürdigen alten<lb/> Herren alle heißen, hervorgeblänkert hätten! Die chemischen Lotsen kamen an<lb/> Bord, sprachen recht gut deutsch und erzählten, daß die Ernte im Lande vorzüglich<lb/> stände. Genau nach 24 Stunden Fahrt machten wir in dem engen und ver¬<lb/> wickelten Hafen fest. Dann nahmen Meldung. Quartierbesorgen längere Zeit in<lb/> Anspruch. Gegen 9 Uhr kletterte ich noch auf den Domberg, natürlich hatte ich<lb/> nicht die Absicht, dort noch zu so später Stunde Fräulein v. H. aufzusuchen.<lb/> Schließlich gelangte ich in einem Straßenwinkel an ein Tor, durch das sich ein<lb/> schöner Blick auf die Stadt zu öffnen schien. Ich kam auf einen Hof mit deutschen<lb/> Feldküchen, durch eine Brüstungsmauer vom Steilhang des Domberges getrennt.<lb/> Links schloß sich eine Art Altan an, auf dem eine alte Dame an Kartoffelpflanzen<lb/> in Blumenkästen hantierte. Ich ahnte was, begrüßte die alte Dame und fragte,<lb/> ob Frl. v. H. in dieser Gegend wohne. Sie war es selbst. Erst mußte sie die<lb/> Zusammenhänge etwas in ihrem Bewußtsein ordnen, dann war sie aber sichtlich<lb/> sehr erfreut und wir verplauderten eine herrliche Sonnenuntergangsstimmung auf<lb/> der kleinen Bank hoch über Reval. Die im Meer versinkende Sonne hatte Stadt<lb/> und Hafen illuminiert, überall glühten die Fenster auf. Weit ging der Blick<lb/> über die schimmernde See und die der Bucht vorgelagerten Inseln mit den<lb/> gesprengten Russenbefestigungen und den Villen der begüterten Kaufmannschaft.<lb/> Frl. v. H. erzählte von den tollen Zuständen der Bolschswiki-Zeit. Keiner hätte<lb/> sich seines Lebens sicher gefühlt, und die Tollheit wäre immer gewachsen. Die<lb/> alte Se. Olaikirche sei zum Volkshaus gemacht, wo die zügellosesten Feste gefeiert<lb/> wurden. Wie sin Wunder wäre ihnen die Rettung durch die deutschen Truppen<lb/> geworden. Und sie rühmte deren Auftreten und Anstand wohl etwas zu<lb/> optimistisch. Aber wie zur Bestätigung kamen zwei Unteroffiziere, stellten<lb/> sich bescheiden auf und baten um Erlaubnis, die Aussicht ansehen zu dürfen.<lb/> Beide mit feinen urdeutschen Gesichtern' der eine mit rotem langen Vollbart und<lb/> goldener Brille. Ganz ergriffen sehen sie aus das schöne Bild, und der eine sagte<lb/> im schönsten Kölner Dialekt, seit Neapel hätte er solch herrlichen Anblick nicht ge¬<lb/> habt. — Heute Abend soll ich nun dorthin zum Tee kommen, und setzt muß ich<lb/> an die Arbeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_538" next="#ID_539"> 12. Nachmittags. Zwischen 11 und 12 hatte ich eine Stunde Zeit, weil<lb/> ich den Hafenkapitän nicht erwischen konnte. Die benutzte ich, um auch die<lb/> andere Schwester Frau v. sah's., Baronin M., aufzusuchen. Sie wohnt sehr<lb/> hübsch, mitten in einem großen Garten, war schon auf mich gefaßt und kam mir<lb/> mit großer Herzlichkeit entgegen. Diese Menschen hier leben noch immer wie in<lb/> einer großen staunenden Erregtheit über ein Wunder, daS sich durch ihre Be¬<lb/> freiung an ihnen vollzogen hat. Und sie fassen es auch buchstäblich und in reli¬<lb/> giöser Inbrunst so auf. Wenn doch alle draußen und in der Heimat wüßten,<lb/> was die Menschen, die uns nicht als Feinde hassen und fürchten, von uns halten<lb/> und erwartenl Es müßte jedem guten Deutschen ein erhöhtes Verantwortlichkeits¬<lb/> gefühl für freie Taten und Worte geben. „Wenn Deutschland uns je den Ehlen<lb/> und Letten überantworten wollte," sagte die Baronin M., „dann hätte es nicht<lb/> hierherkommen und uns Mut machen dürfen, unser Deutschtum erneut und mit<lb/> Jubel zu bekennen. Wir sind verloren in der Minute, in der man weiß, daß<lb/> niemand uns schützt; denn die Elemente, die uns vernichten wollen, würden aus<lb/> dem großen Rußland jeden dazu nötigen Zuzug bekommen." Sie hat sicher<lb/> recht. Aber nicht nur Haase und Ledebour, auch ungezählte andere Leute, die<lb/> Zeter schreien, wenn einem deutschfresserischen Polack aufs Maul geklopft, oder<lb/> ein russischer Schmierjude nicht gleich als vollberechtigter Deutscher mit offenen<lb/> Armen aufgenommen wird, sie würden ohne Zögern die deutschen Ballen, die<lb/> soviel deutscher sind als sie selber, ihren Feinden und der Vernichtung preisgeben.<lb/> Rührend war es, wie die Damen über alle Offiziere und Soldaten sprachen, mit<lb/> denen sie zusammengekommen waren. Möchten sie nie Enttäuschungen erleben I</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0137]
Ein Feldpostbrief
ihren Hügeln und grünen Wäldern vorbeifuhren. Und dann taucht die wunder¬
volle Hansasilhouette des alten Reval auf. Wenn nur nicht die goldenen Zwiebeln
so ungehörig zwischen Se. Olai und Se. Nikolai, und wie die ehrwürdigen alten
Herren alle heißen, hervorgeblänkert hätten! Die chemischen Lotsen kamen an
Bord, sprachen recht gut deutsch und erzählten, daß die Ernte im Lande vorzüglich
stände. Genau nach 24 Stunden Fahrt machten wir in dem engen und ver¬
wickelten Hafen fest. Dann nahmen Meldung. Quartierbesorgen längere Zeit in
Anspruch. Gegen 9 Uhr kletterte ich noch auf den Domberg, natürlich hatte ich
nicht die Absicht, dort noch zu so später Stunde Fräulein v. H. aufzusuchen.
Schließlich gelangte ich in einem Straßenwinkel an ein Tor, durch das sich ein
schöner Blick auf die Stadt zu öffnen schien. Ich kam auf einen Hof mit deutschen
Feldküchen, durch eine Brüstungsmauer vom Steilhang des Domberges getrennt.
Links schloß sich eine Art Altan an, auf dem eine alte Dame an Kartoffelpflanzen
in Blumenkästen hantierte. Ich ahnte was, begrüßte die alte Dame und fragte,
ob Frl. v. H. in dieser Gegend wohne. Sie war es selbst. Erst mußte sie die
Zusammenhänge etwas in ihrem Bewußtsein ordnen, dann war sie aber sichtlich
sehr erfreut und wir verplauderten eine herrliche Sonnenuntergangsstimmung auf
der kleinen Bank hoch über Reval. Die im Meer versinkende Sonne hatte Stadt
und Hafen illuminiert, überall glühten die Fenster auf. Weit ging der Blick
über die schimmernde See und die der Bucht vorgelagerten Inseln mit den
gesprengten Russenbefestigungen und den Villen der begüterten Kaufmannschaft.
Frl. v. H. erzählte von den tollen Zuständen der Bolschswiki-Zeit. Keiner hätte
sich seines Lebens sicher gefühlt, und die Tollheit wäre immer gewachsen. Die
alte Se. Olaikirche sei zum Volkshaus gemacht, wo die zügellosesten Feste gefeiert
wurden. Wie sin Wunder wäre ihnen die Rettung durch die deutschen Truppen
geworden. Und sie rühmte deren Auftreten und Anstand wohl etwas zu
optimistisch. Aber wie zur Bestätigung kamen zwei Unteroffiziere, stellten
sich bescheiden auf und baten um Erlaubnis, die Aussicht ansehen zu dürfen.
Beide mit feinen urdeutschen Gesichtern' der eine mit rotem langen Vollbart und
goldener Brille. Ganz ergriffen sehen sie aus das schöne Bild, und der eine sagte
im schönsten Kölner Dialekt, seit Neapel hätte er solch herrlichen Anblick nicht ge¬
habt. — Heute Abend soll ich nun dorthin zum Tee kommen, und setzt muß ich
an die Arbeit.
12. Nachmittags. Zwischen 11 und 12 hatte ich eine Stunde Zeit, weil
ich den Hafenkapitän nicht erwischen konnte. Die benutzte ich, um auch die
andere Schwester Frau v. sah's., Baronin M., aufzusuchen. Sie wohnt sehr
hübsch, mitten in einem großen Garten, war schon auf mich gefaßt und kam mir
mit großer Herzlichkeit entgegen. Diese Menschen hier leben noch immer wie in
einer großen staunenden Erregtheit über ein Wunder, daS sich durch ihre Be¬
freiung an ihnen vollzogen hat. Und sie fassen es auch buchstäblich und in reli¬
giöser Inbrunst so auf. Wenn doch alle draußen und in der Heimat wüßten,
was die Menschen, die uns nicht als Feinde hassen und fürchten, von uns halten
und erwartenl Es müßte jedem guten Deutschen ein erhöhtes Verantwortlichkeits¬
gefühl für freie Taten und Worte geben. „Wenn Deutschland uns je den Ehlen
und Letten überantworten wollte," sagte die Baronin M., „dann hätte es nicht
hierherkommen und uns Mut machen dürfen, unser Deutschtum erneut und mit
Jubel zu bekennen. Wir sind verloren in der Minute, in der man weiß, daß
niemand uns schützt; denn die Elemente, die uns vernichten wollen, würden aus
dem großen Rußland jeden dazu nötigen Zuzug bekommen." Sie hat sicher
recht. Aber nicht nur Haase und Ledebour, auch ungezählte andere Leute, die
Zeter schreien, wenn einem deutschfresserischen Polack aufs Maul geklopft, oder
ein russischer Schmierjude nicht gleich als vollberechtigter Deutscher mit offenen
Armen aufgenommen wird, sie würden ohne Zögern die deutschen Ballen, die
soviel deutscher sind als sie selber, ihren Feinden und der Vernichtung preisgeben.
Rührend war es, wie die Damen über alle Offiziere und Soldaten sprachen, mit
denen sie zusammengekommen waren. Möchten sie nie Enttäuschungen erleben I
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