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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

Wirklich im Grenzgebiet Setzhafe und steuerpflichtig zu werden. Dieser natürlichen
Abnahme bodenständiger Wirtschaftswerte gegenüber können die verzweifelten Ver¬
suche wohldenkender Landeskenner, in einem "Verband zum Wiederaufbau von
Industrie und Gewerbe im Elsaß" die noch vorhandenen Kräfte zu gemeinsamer
Nutzung zu sammeln, nur geringe Erfolge erzielen. Kommt doch zu all den
gegenwärtigen Kriegsschäden die Aussicht auf dauernde wirtschaftliche Rayon-
beschränkung auf dem Glacis des Reiches. Selbst der Plan einer großartigen
Ausnutzung der Wasserkräfte des Oberrheins zur Aufrichtung neuer Großindustrien,
von Aluminiumfabriken und Stickstoffwerken vor allem, ist schwer gefährdet. Die
militärischen und wirtschaftlichen Erfahrungen des weltumspannenden Kampfes
haben zu deutlich gezeigt, wie leicht diese Anlagen, die das Vaterland gerade in
schwerer Krisis am notwendigsten braucht, unmittelbar hinter der Front durch
Lustangriffe, durch Fernfeuer und Durchbruchsversuche gefährdet werden. Allen
optimistischen Träumen, daß es Ehrenpflicht des Reiches sei, solche Schädigung
hintanzuhalten, muß doch immer wieder die nüchterne Wahrheit entgegengehalten
werden, daß dem Bundesstaat Elsaß-Lothringen die mächtigen Fürsprecher im
Bundesrat und im Reichstag fehlen werden, die seine Interessen mit Nachdruck
wahrnehmen können. Es ist nicht anders: gerade die wirtschaftlichen Schäden des
Krieges lassen sich nur überwinden, wenn das Reichsland unmittelbar mit einem
starken deutschen Einzelstaat vereinigt wird. Die Umwandlung Elsaß.Lothringens
in einen Bundesstaat ist auch aus diesen äußeren Gründen ebenso ausgeschlossen
wie die Fortdauer des jetzigen Zustandes, denn die heutige unhaltbare Stellung
des "Reichslandes" ist ja innerlich und äußerlich nichts anderes als die unvoll¬
kommene Vorstufe einer staatsrechtlichen "Gleichberechtigung" mit Lippe und Sachsen,
mit Mecklenburg und Bayern: eine häßliche Raupe, der nur der schillernde,
trügerische Blütenstaub des Schmetterlings noch fehlt!

Unfaßbar scheint unter diesen Umständen zunächst, daß selbst treue Freunde
und gute Kenner des Reiches und des Reichslandes lieber den bisherigen Zwitier-
zustand aufrechterhalten als eine einschneidende staatsrechtliche Änderung befür-
Worten wollen. "Die Unselbständigkeit der Landesregierung", so faßt die bereits
erwähnte Flugschrift des Wasgauers die Mängel der gegenwärtigen Lage mit
Recht zusammen, "und die unklare Abgrenzung der Verantwortlichkeiten rufen bei
der Bevölkerung notwendigerweise den Eindruck hervor, daß sie nicht einem leben¬
digen politischen Verbände, sondern einem in der Retorte der Staatsrechtswissenschaft
künstlich geschaffenen Schattengebilde eingegliedert ist". Trotzdem aber kann sich dieser
charakteristische Vertreter des eingesessener höheren Beamtentums nicht zur Emp¬
fehlung einer Angliederung an deutsche Bundesstaaten verstehen. Eine Einver¬
leibung in Preußen, meint er, oder eine Aufteilung wäre zweifellos eine be¬
deutende Vermehrung der Sicherheit des Reiches, aber -- es würde als eine "Ma߬
regelung" aufgefaßt werden und brächte einen schlechten Eindruck im Auslande
hervorl Trotz aller Zweifel tritt er daher für Fortbestand der bisherigen Unklar¬
heiten ein, für ein Fortwursteln im übelsten landläufigen Wortsinne. Die "Siche¬
rungen", von denen dabei die Rede ist: Regierung des "Reichslandes" durch einen
"lebenslänglichen" Statthalter, zu dessen Abberufung die Zustimmung des Bundes¬
rates eingeholt werden muß, und die Einführung der Verhältniswahl zur zweiten
Kammer sind im Gegenteil Rückschritte. Die Machtbefugnis des Kaisers als des
Trägers der Souveränität des Reiches würde dadurch in bedenklichem Maße ein¬
geschränkt, und die neue Wahlrechtsänderung würde allenthalben gerade jetzt im
Zeichen der preußischen Wahlreform nur als eine Minderung der "Volksrechte"
gedeutet werden. Vom größeren nationalen wie vom internationalen Stand¬
punkte ändern all solch kleine und unbedeutende Verschiebungen und Ver-
wässerungen nicht das Mindeste an der großen Frage, ob wirklich das "Reichs¬
land" in seiner alten Sündenblüte auch die große Läuterung dieses Krieges
überdauern soll. Für jede vernunftgemäße Erörterung bleiben nur die zwei
Möglichkeiten, über die bereits in den ersten Augusttagen von 1870 ausgiebig


Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage

Wirklich im Grenzgebiet Setzhafe und steuerpflichtig zu werden. Dieser natürlichen
Abnahme bodenständiger Wirtschaftswerte gegenüber können die verzweifelten Ver¬
suche wohldenkender Landeskenner, in einem „Verband zum Wiederaufbau von
Industrie und Gewerbe im Elsaß" die noch vorhandenen Kräfte zu gemeinsamer
Nutzung zu sammeln, nur geringe Erfolge erzielen. Kommt doch zu all den
gegenwärtigen Kriegsschäden die Aussicht auf dauernde wirtschaftliche Rayon-
beschränkung auf dem Glacis des Reiches. Selbst der Plan einer großartigen
Ausnutzung der Wasserkräfte des Oberrheins zur Aufrichtung neuer Großindustrien,
von Aluminiumfabriken und Stickstoffwerken vor allem, ist schwer gefährdet. Die
militärischen und wirtschaftlichen Erfahrungen des weltumspannenden Kampfes
haben zu deutlich gezeigt, wie leicht diese Anlagen, die das Vaterland gerade in
schwerer Krisis am notwendigsten braucht, unmittelbar hinter der Front durch
Lustangriffe, durch Fernfeuer und Durchbruchsversuche gefährdet werden. Allen
optimistischen Träumen, daß es Ehrenpflicht des Reiches sei, solche Schädigung
hintanzuhalten, muß doch immer wieder die nüchterne Wahrheit entgegengehalten
werden, daß dem Bundesstaat Elsaß-Lothringen die mächtigen Fürsprecher im
Bundesrat und im Reichstag fehlen werden, die seine Interessen mit Nachdruck
wahrnehmen können. Es ist nicht anders: gerade die wirtschaftlichen Schäden des
Krieges lassen sich nur überwinden, wenn das Reichsland unmittelbar mit einem
starken deutschen Einzelstaat vereinigt wird. Die Umwandlung Elsaß.Lothringens
in einen Bundesstaat ist auch aus diesen äußeren Gründen ebenso ausgeschlossen
wie die Fortdauer des jetzigen Zustandes, denn die heutige unhaltbare Stellung
des „Reichslandes" ist ja innerlich und äußerlich nichts anderes als die unvoll¬
kommene Vorstufe einer staatsrechtlichen „Gleichberechtigung" mit Lippe und Sachsen,
mit Mecklenburg und Bayern: eine häßliche Raupe, der nur der schillernde,
trügerische Blütenstaub des Schmetterlings noch fehlt!

Unfaßbar scheint unter diesen Umständen zunächst, daß selbst treue Freunde
und gute Kenner des Reiches und des Reichslandes lieber den bisherigen Zwitier-
zustand aufrechterhalten als eine einschneidende staatsrechtliche Änderung befür-
Worten wollen. „Die Unselbständigkeit der Landesregierung", so faßt die bereits
erwähnte Flugschrift des Wasgauers die Mängel der gegenwärtigen Lage mit
Recht zusammen, „und die unklare Abgrenzung der Verantwortlichkeiten rufen bei
der Bevölkerung notwendigerweise den Eindruck hervor, daß sie nicht einem leben¬
digen politischen Verbände, sondern einem in der Retorte der Staatsrechtswissenschaft
künstlich geschaffenen Schattengebilde eingegliedert ist". Trotzdem aber kann sich dieser
charakteristische Vertreter des eingesessener höheren Beamtentums nicht zur Emp¬
fehlung einer Angliederung an deutsche Bundesstaaten verstehen. Eine Einver¬
leibung in Preußen, meint er, oder eine Aufteilung wäre zweifellos eine be¬
deutende Vermehrung der Sicherheit des Reiches, aber — es würde als eine „Ma߬
regelung" aufgefaßt werden und brächte einen schlechten Eindruck im Auslande
hervorl Trotz aller Zweifel tritt er daher für Fortbestand der bisherigen Unklar¬
heiten ein, für ein Fortwursteln im übelsten landläufigen Wortsinne. Die „Siche¬
rungen", von denen dabei die Rede ist: Regierung des „Reichslandes" durch einen
„lebenslänglichen" Statthalter, zu dessen Abberufung die Zustimmung des Bundes¬
rates eingeholt werden muß, und die Einführung der Verhältniswahl zur zweiten
Kammer sind im Gegenteil Rückschritte. Die Machtbefugnis des Kaisers als des
Trägers der Souveränität des Reiches würde dadurch in bedenklichem Maße ein¬
geschränkt, und die neue Wahlrechtsänderung würde allenthalben gerade jetzt im
Zeichen der preußischen Wahlreform nur als eine Minderung der „Volksrechte"
gedeutet werden. Vom größeren nationalen wie vom internationalen Stand¬
punkte ändern all solch kleine und unbedeutende Verschiebungen und Ver-
wässerungen nicht das Mindeste an der großen Frage, ob wirklich das „Reichs¬
land" in seiner alten Sündenblüte auch die große Läuterung dieses Krieges
überdauern soll. Für jede vernunftgemäße Erörterung bleiben nur die zwei
Möglichkeiten, über die bereits in den ersten Augusttagen von 1870 ausgiebig


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[0124] Ideale und Irrtümer der elsaß-lothringischen Frage Wirklich im Grenzgebiet Setzhafe und steuerpflichtig zu werden. Dieser natürlichen Abnahme bodenständiger Wirtschaftswerte gegenüber können die verzweifelten Ver¬ suche wohldenkender Landeskenner, in einem „Verband zum Wiederaufbau von Industrie und Gewerbe im Elsaß" die noch vorhandenen Kräfte zu gemeinsamer Nutzung zu sammeln, nur geringe Erfolge erzielen. Kommt doch zu all den gegenwärtigen Kriegsschäden die Aussicht auf dauernde wirtschaftliche Rayon- beschränkung auf dem Glacis des Reiches. Selbst der Plan einer großartigen Ausnutzung der Wasserkräfte des Oberrheins zur Aufrichtung neuer Großindustrien, von Aluminiumfabriken und Stickstoffwerken vor allem, ist schwer gefährdet. Die militärischen und wirtschaftlichen Erfahrungen des weltumspannenden Kampfes haben zu deutlich gezeigt, wie leicht diese Anlagen, die das Vaterland gerade in schwerer Krisis am notwendigsten braucht, unmittelbar hinter der Front durch Lustangriffe, durch Fernfeuer und Durchbruchsversuche gefährdet werden. Allen optimistischen Träumen, daß es Ehrenpflicht des Reiches sei, solche Schädigung hintanzuhalten, muß doch immer wieder die nüchterne Wahrheit entgegengehalten werden, daß dem Bundesstaat Elsaß-Lothringen die mächtigen Fürsprecher im Bundesrat und im Reichstag fehlen werden, die seine Interessen mit Nachdruck wahrnehmen können. Es ist nicht anders: gerade die wirtschaftlichen Schäden des Krieges lassen sich nur überwinden, wenn das Reichsland unmittelbar mit einem starken deutschen Einzelstaat vereinigt wird. Die Umwandlung Elsaß.Lothringens in einen Bundesstaat ist auch aus diesen äußeren Gründen ebenso ausgeschlossen wie die Fortdauer des jetzigen Zustandes, denn die heutige unhaltbare Stellung des „Reichslandes" ist ja innerlich und äußerlich nichts anderes als die unvoll¬ kommene Vorstufe einer staatsrechtlichen „Gleichberechtigung" mit Lippe und Sachsen, mit Mecklenburg und Bayern: eine häßliche Raupe, der nur der schillernde, trügerische Blütenstaub des Schmetterlings noch fehlt! Unfaßbar scheint unter diesen Umständen zunächst, daß selbst treue Freunde und gute Kenner des Reiches und des Reichslandes lieber den bisherigen Zwitier- zustand aufrechterhalten als eine einschneidende staatsrechtliche Änderung befür- Worten wollen. „Die Unselbständigkeit der Landesregierung", so faßt die bereits erwähnte Flugschrift des Wasgauers die Mängel der gegenwärtigen Lage mit Recht zusammen, „und die unklare Abgrenzung der Verantwortlichkeiten rufen bei der Bevölkerung notwendigerweise den Eindruck hervor, daß sie nicht einem leben¬ digen politischen Verbände, sondern einem in der Retorte der Staatsrechtswissenschaft künstlich geschaffenen Schattengebilde eingegliedert ist". Trotzdem aber kann sich dieser charakteristische Vertreter des eingesessener höheren Beamtentums nicht zur Emp¬ fehlung einer Angliederung an deutsche Bundesstaaten verstehen. Eine Einver¬ leibung in Preußen, meint er, oder eine Aufteilung wäre zweifellos eine be¬ deutende Vermehrung der Sicherheit des Reiches, aber — es würde als eine „Ma߬ regelung" aufgefaßt werden und brächte einen schlechten Eindruck im Auslande hervorl Trotz aller Zweifel tritt er daher für Fortbestand der bisherigen Unklar¬ heiten ein, für ein Fortwursteln im übelsten landläufigen Wortsinne. Die „Siche¬ rungen", von denen dabei die Rede ist: Regierung des „Reichslandes" durch einen „lebenslänglichen" Statthalter, zu dessen Abberufung die Zustimmung des Bundes¬ rates eingeholt werden muß, und die Einführung der Verhältniswahl zur zweiten Kammer sind im Gegenteil Rückschritte. Die Machtbefugnis des Kaisers als des Trägers der Souveränität des Reiches würde dadurch in bedenklichem Maße ein¬ geschränkt, und die neue Wahlrechtsänderung würde allenthalben gerade jetzt im Zeichen der preußischen Wahlreform nur als eine Minderung der „Volksrechte" gedeutet werden. Vom größeren nationalen wie vom internationalen Stand¬ punkte ändern all solch kleine und unbedeutende Verschiebungen und Ver- wässerungen nicht das Mindeste an der großen Frage, ob wirklich das „Reichs¬ land" in seiner alten Sündenblüte auch die große Läuterung dieses Krieges überdauern soll. Für jede vernunftgemäße Erörterung bleiben nur die zwei Möglichkeiten, über die bereits in den ersten Augusttagen von 1870 ausgiebig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/124>, abgerufen am 22.07.2024.