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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Randglossen zum Tage

tauschen könnten, ohne es zu merken. So gehen wir in einer unbeschreiblichen
Stimmung und Seelenverfassung einem Osterfest entgegen, von dem wir sehnlich
hoffen, daß die Tat -- mehr vermögend als die Worte -- es zum letzten dieses
Krieges mache. Wie immer das sein wird, die Wunderkanoncn schießen ein Fest
ein, das wir in Beruhigung und Zuversicht verklingen werden. Wir ertragen
die Wirrnis der Zeit leichter, weil draußen alles so programmäßig glatt verläuft.
Die Gegensätze der Zeit drücken weniger auf uns, weil alles einig ist in der Be¬
wunderung von Taten, die nicht ruchlose Eroberergier gesucht hat und die, so
grauenhaft ihre Begleiterscheinungen sind, doch etwas gewaltig Heiteres an sich
tragen, wie alle Leistungen, die, in Begeisterung vollbracht, gut gelingen.

Wann hat sich deutsches Leben in solchen Gegensätzen abgespielt? Der
Siegesjubel von Millionen ertönt in das verzweifelte Schweigen Zehntausender,
denen der Anlaß dieses Jubels daS Liebste entriß. Reichtum, wie er in Deutsch¬
land noch nie in einzelnen Händen gehäuft war, entschleiert sich vor der Armut



plötzlich aus sicher scheinenden Wohlstand in die wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit
gestürzter Existenzen. Betrug. Wucher, Diebstahl, Schieberkünste, an deren De¬
finition sich noch manche juristische Dissertation üben wird, znnngen die Richter
zu überstunden und Akte der Hilfsbereitschaft einer nicht nach Dank fragenden
Nächstenliebe spielen sich ab, die man nur in moralischen Erzählungen für die
Jugend gesucht hätte. Grenzenlose Entbehrungen und zynischer Genuß, doppelt
frech Befriedigung suchend, weil ringsum die verzichten müssen, die es nicht ge¬
wöhnt sind, spielen sich in der großen Stadt Tür an Tür ab. Weggeweht, in
die Winkel gescheucht, ist das mondäne Treiben auch der Bewohner der eleganten
Viertel, und der Zug der Einfachheit liegt über den Straßen, deren Wohnpaläste
von der Üppigkeit der Friedensjahre erzählen. Eine nberelegante Modedame wirkt
heute nicht wie ein Farbenfleck in einem heiteren Gemälde, fondern stört, wie der
kecke Mißton einer Klarinette in einem Trauermarsch. Trotz aller Bemühungen
der politischen und anderer Philosophen und Systemerfinder denkt man heute nicht
nach einem wohlgeordneten Schema. Man kann nicht Pessimist sein, wo so un¬
geheuere Erfolge Tatsache werden. Man kann nicht Optimist sein, während
Europa sich in einen Trümmerhaufen verwandelt und noch kein Ende des Hasses
und der Zerstörung abzusehen ist. Man kann nicht finden, daß sich die Menschheit
yiimufentwickelt, wenn man den Zerfall des Rechtslebens verfolgt, aber wer wollte
angesichts der übermenschlichen Pflichttreue und Hingebung von Millionen den


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tauschen könnten, ohne es zu merken. So gehen wir in einer unbeschreiblichen
Stimmung und Seelenverfassung einem Osterfest entgegen, von dem wir sehnlich
hoffen, daß die Tat — mehr vermögend als die Worte — es zum letzten dieses
Krieges mache. Wie immer das sein wird, die Wunderkanoncn schießen ein Fest
ein, das wir in Beruhigung und Zuversicht verklingen werden. Wir ertragen
die Wirrnis der Zeit leichter, weil draußen alles so programmäßig glatt verläuft.
Die Gegensätze der Zeit drücken weniger auf uns, weil alles einig ist in der Be¬
wunderung von Taten, die nicht ruchlose Eroberergier gesucht hat und die, so
grauenhaft ihre Begleiterscheinungen sind, doch etwas gewaltig Heiteres an sich
tragen, wie alle Leistungen, die, in Begeisterung vollbracht, gut gelingen.

Wann hat sich deutsches Leben in solchen Gegensätzen abgespielt? Der
Siegesjubel von Millionen ertönt in das verzweifelte Schweigen Zehntausender,
denen der Anlaß dieses Jubels daS Liebste entriß. Reichtum, wie er in Deutsch¬
land noch nie in einzelnen Händen gehäuft war, entschleiert sich vor der Armut



plötzlich aus sicher scheinenden Wohlstand in die wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit
gestürzter Existenzen. Betrug. Wucher, Diebstahl, Schieberkünste, an deren De¬
finition sich noch manche juristische Dissertation üben wird, znnngen die Richter
zu überstunden und Akte der Hilfsbereitschaft einer nicht nach Dank fragenden
Nächstenliebe spielen sich ab, die man nur in moralischen Erzählungen für die
Jugend gesucht hätte. Grenzenlose Entbehrungen und zynischer Genuß, doppelt
frech Befriedigung suchend, weil ringsum die verzichten müssen, die es nicht ge¬
wöhnt sind, spielen sich in der großen Stadt Tür an Tür ab. Weggeweht, in
die Winkel gescheucht, ist das mondäne Treiben auch der Bewohner der eleganten
Viertel, und der Zug der Einfachheit liegt über den Straßen, deren Wohnpaläste
von der Üppigkeit der Friedensjahre erzählen. Eine nberelegante Modedame wirkt
heute nicht wie ein Farbenfleck in einem heiteren Gemälde, fondern stört, wie der
kecke Mißton einer Klarinette in einem Trauermarsch. Trotz aller Bemühungen
der politischen und anderer Philosophen und Systemerfinder denkt man heute nicht
nach einem wohlgeordneten Schema. Man kann nicht Pessimist sein, wo so un¬
geheuere Erfolge Tatsache werden. Man kann nicht Optimist sein, während
Europa sich in einen Trümmerhaufen verwandelt und noch kein Ende des Hasses
und der Zerstörung abzusehen ist. Man kann nicht finden, daß sich die Menschheit
yiimufentwickelt, wenn man den Zerfall des Rechtslebens verfolgt, aber wer wollte
angesichts der übermenschlichen Pflichttreue und Hingebung von Millionen den


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[0035] Randglossen zum Tage tauschen könnten, ohne es zu merken. So gehen wir in einer unbeschreiblichen Stimmung und Seelenverfassung einem Osterfest entgegen, von dem wir sehnlich hoffen, daß die Tat — mehr vermögend als die Worte — es zum letzten dieses Krieges mache. Wie immer das sein wird, die Wunderkanoncn schießen ein Fest ein, das wir in Beruhigung und Zuversicht verklingen werden. Wir ertragen die Wirrnis der Zeit leichter, weil draußen alles so programmäßig glatt verläuft. Die Gegensätze der Zeit drücken weniger auf uns, weil alles einig ist in der Be¬ wunderung von Taten, die nicht ruchlose Eroberergier gesucht hat und die, so grauenhaft ihre Begleiterscheinungen sind, doch etwas gewaltig Heiteres an sich tragen, wie alle Leistungen, die, in Begeisterung vollbracht, gut gelingen. Wann hat sich deutsches Leben in solchen Gegensätzen abgespielt? Der Siegesjubel von Millionen ertönt in das verzweifelte Schweigen Zehntausender, denen der Anlaß dieses Jubels daS Liebste entriß. Reichtum, wie er in Deutsch¬ land noch nie in einzelnen Händen gehäuft war, entschleiert sich vor der Armut [Abbildung] plötzlich aus sicher scheinenden Wohlstand in die wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit gestürzter Existenzen. Betrug. Wucher, Diebstahl, Schieberkünste, an deren De¬ finition sich noch manche juristische Dissertation üben wird, znnngen die Richter zu überstunden und Akte der Hilfsbereitschaft einer nicht nach Dank fragenden Nächstenliebe spielen sich ab, die man nur in moralischen Erzählungen für die Jugend gesucht hätte. Grenzenlose Entbehrungen und zynischer Genuß, doppelt frech Befriedigung suchend, weil ringsum die verzichten müssen, die es nicht ge¬ wöhnt sind, spielen sich in der großen Stadt Tür an Tür ab. Weggeweht, in die Winkel gescheucht, ist das mondäne Treiben auch der Bewohner der eleganten Viertel, und der Zug der Einfachheit liegt über den Straßen, deren Wohnpaläste von der Üppigkeit der Friedensjahre erzählen. Eine nberelegante Modedame wirkt heute nicht wie ein Farbenfleck in einem heiteren Gemälde, fondern stört, wie der kecke Mißton einer Klarinette in einem Trauermarsch. Trotz aller Bemühungen der politischen und anderer Philosophen und Systemerfinder denkt man heute nicht nach einem wohlgeordneten Schema. Man kann nicht Pessimist sein, wo so un¬ geheuere Erfolge Tatsache werden. Man kann nicht Optimist sein, während Europa sich in einen Trümmerhaufen verwandelt und noch kein Ende des Hasses und der Zerstörung abzusehen ist. Man kann nicht finden, daß sich die Menschheit yiimufentwickelt, wenn man den Zerfall des Rechtslebens verfolgt, aber wer wollte angesichts der übermenschlichen Pflichttreue und Hingebung von Millionen den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/35>, abgerufen am 22.07.2024.