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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Unterschiede vom Fremden und bloß Anempfundenen zu tun haben. Aber wer
könnte die Vielheit dieser Erscheinungen auf eine Formel bringen oder auch nur
zu einem fest umrissenen Gesamtbilde verewigen? Dos aber wäre notwendig,
wenn es sich um die Aufstellung eines Bildungsideales zu pädagogischen Zwecken
handelt. Aus demselben Grunde muß auch alles ausgeschaltet werden, was, ob-
zwar geschichtlich bedeutsam, doch nicht mehr unmittelbar lebens- und wirkungs¬
kräftig ist und daher die Breite des Volkes nicht zu durchdringen vermag. Auch
muß ein solches Bildungsgut, da es ja durch die Schule vermittelt werden soll,
sich dem Nahmen unseres Unterrichtswesens einfügen lassen. Didaktische Rück¬
sichten endlich fordern, daß es nicht ein System abgezogener allgemeiner Begriffe
und Lehren, sondern in lebensvollen genialen Persönlichkeiten und als deren
Werk verkörpert ist.

Wir müssen demnach fragen, in welchen Männern und welcher Epoche unserer
GeistesgesHichte wir den reinsten und tiefsten Ausdruck unserer Seele, unserer
völkischen Anlagen und Bestrebungen wiederfinden. Denn nur das Höchste, zu
dem sich der deutsche Genius emporgeschwungen hat, ist würdig und geeignet,
Gemeingut und idealer Richtungspunkt für das Bildungsbcwußtsein des Volkes
zu werden. Und da kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Gipfelpunkt
der bisherigen deutschen Vildungsgeschichte in jenem Kulturganzen liegt, das wir
mit dem Namen Schiller und Goethe umschreiben. Damit scheint nun etwas
längst Bekanntes und Anerkanntes gesagt zu sein. Und was die höhere Schule
angeht, so wird man vielleicht fragen: Werden nicht genug Gedichte von Schiller
und Goethe "behandelt" und auswendig gelernt? Werden nicht ihre Dramen
eingehend besprochen und zu Aufsätzen verwertet? Sicherlich. Ab?r abgesehen
von den Mängeln, die der schulmäßigen Behandlung der deutschen Poesie vielfach
noch anhaften, ist hier doch etwas ganz anderes und Höheres gemeint.

Wir müssen mit der Auffassung brechen, daß es sich bei Schiller und Goethe
in erster Linie um Dichtung und .Kunst und de-Nut um bloße Erhöhung oder gar
nur um Schmuck des Lebens handele. Vielmehr ist ihr Werk eine Neugestaltung
des Lebens von innen her, eine erste große deutsche Gesaintkulturschöpsung seit
der Vernichtung der mittelalterlichen Vildungseinheit. Ihre dichterische und
sonstige schriftstellerische und wissenschaftliche Tätigkeit war nur der Ausfluß des
unermüdlichen Strebens, einen inneren Lebensgehalt zu gewinnen, n r ein Mittel
zu dem einen Ziele, sich selbst im tiefsten Sinne des Wortes zu formen und zu
bilden. Und wenn es wahr ist, daß wir uns am besten durch das Beispiel
gebildeter Menschen erziehen, so gibt es in der gesamten Menschheitsgeschichte
one geeigneteren Führer. Insbesondere erhebt die ethische Entwicklung beider
PersmUuyleiten ihr Lebenswerk weit über eine bloß ästhetisch-künstlerische Gestaltung
des Daseins. Daß uns diese geistige Welt Goethes und Schillers noch nickt al"
ein so geschlossenes Kulturganzes erscheint wie etwa die Antike und die Renaissance,
möge daran, daß wir noch mitten in der Auseinandersetzung mit den führenden
Persönlichkeiten stehen und so über der subjektiven' Bedingtheit der Einzelerschei-
nuugen den objektiv°sachlichen Zusammenhang nicht hinreichend beachten. Das
gilt besonders von Goethe: seine Bedeutung für die moderne Weltanschauung ist
noch bei weitem nicht ausgeschöpft, sein geistiges Vermächtnis noch lange nicht zu
einem innerlichen Besitze des Volkes geworden. Goethe ist uns in mancher Hin¬
sicht noch zu sehr Problem, um uns ganz objektiv zu werden. Immerhin haben
wir den Grundgehalt der deutschen Klassik deutlich genug erkannt, um ihren
Dauerwert von dem Eng-Persönlichen der ihn verkörpernden Männer abzulösen.
Es ist etwas Eigenes um das Verhältnis des deutschen Genius zu seinem Werke.
Vertiefen wir uns in die Entwicklung Goethes und den Umfang seines Gedankens
und Willenslebens, so haben wir den Eindruck, daß die Persönlichkeit viel reicher
ist als ihr Werk, daß die uns hinterlassenen Schriften auch in diesem Sinne nur
Bruchstücke eines viel umfassenderen einheitlichen Geisteslebens sind. Andererseits
aber ragt doch auch wieder das Werk durch die in ihm schlummernden Keime zu
. neuen Geistesschöpfungen über die historisch bedingte Person seines Urheber"


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Die «Linsen unserer Z^ationcilbildung

Unterschiede vom Fremden und bloß Anempfundenen zu tun haben. Aber wer
könnte die Vielheit dieser Erscheinungen auf eine Formel bringen oder auch nur
zu einem fest umrissenen Gesamtbilde verewigen? Dos aber wäre notwendig,
wenn es sich um die Aufstellung eines Bildungsideales zu pädagogischen Zwecken
handelt. Aus demselben Grunde muß auch alles ausgeschaltet werden, was, ob-
zwar geschichtlich bedeutsam, doch nicht mehr unmittelbar lebens- und wirkungs¬
kräftig ist und daher die Breite des Volkes nicht zu durchdringen vermag. Auch
muß ein solches Bildungsgut, da es ja durch die Schule vermittelt werden soll,
sich dem Nahmen unseres Unterrichtswesens einfügen lassen. Didaktische Rück¬
sichten endlich fordern, daß es nicht ein System abgezogener allgemeiner Begriffe
und Lehren, sondern in lebensvollen genialen Persönlichkeiten und als deren
Werk verkörpert ist.

Wir müssen demnach fragen, in welchen Männern und welcher Epoche unserer
GeistesgesHichte wir den reinsten und tiefsten Ausdruck unserer Seele, unserer
völkischen Anlagen und Bestrebungen wiederfinden. Denn nur das Höchste, zu
dem sich der deutsche Genius emporgeschwungen hat, ist würdig und geeignet,
Gemeingut und idealer Richtungspunkt für das Bildungsbcwußtsein des Volkes
zu werden. Und da kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Gipfelpunkt
der bisherigen deutschen Vildungsgeschichte in jenem Kulturganzen liegt, das wir
mit dem Namen Schiller und Goethe umschreiben. Damit scheint nun etwas
längst Bekanntes und Anerkanntes gesagt zu sein. Und was die höhere Schule
angeht, so wird man vielleicht fragen: Werden nicht genug Gedichte von Schiller
und Goethe „behandelt" und auswendig gelernt? Werden nicht ihre Dramen
eingehend besprochen und zu Aufsätzen verwertet? Sicherlich. Ab?r abgesehen
von den Mängeln, die der schulmäßigen Behandlung der deutschen Poesie vielfach
noch anhaften, ist hier doch etwas ganz anderes und Höheres gemeint.

Wir müssen mit der Auffassung brechen, daß es sich bei Schiller und Goethe
in erster Linie um Dichtung und .Kunst und de-Nut um bloße Erhöhung oder gar
nur um Schmuck des Lebens handele. Vielmehr ist ihr Werk eine Neugestaltung
des Lebens von innen her, eine erste große deutsche Gesaintkulturschöpsung seit
der Vernichtung der mittelalterlichen Vildungseinheit. Ihre dichterische und
sonstige schriftstellerische und wissenschaftliche Tätigkeit war nur der Ausfluß des
unermüdlichen Strebens, einen inneren Lebensgehalt zu gewinnen, n r ein Mittel
zu dem einen Ziele, sich selbst im tiefsten Sinne des Wortes zu formen und zu
bilden. Und wenn es wahr ist, daß wir uns am besten durch das Beispiel
gebildeter Menschen erziehen, so gibt es in der gesamten Menschheitsgeschichte
one geeigneteren Führer. Insbesondere erhebt die ethische Entwicklung beider
PersmUuyleiten ihr Lebenswerk weit über eine bloß ästhetisch-künstlerische Gestaltung
des Daseins. Daß uns diese geistige Welt Goethes und Schillers noch nickt al«
ein so geschlossenes Kulturganzes erscheint wie etwa die Antike und die Renaissance,
möge daran, daß wir noch mitten in der Auseinandersetzung mit den führenden
Persönlichkeiten stehen und so über der subjektiven' Bedingtheit der Einzelerschei-
nuugen den objektiv°sachlichen Zusammenhang nicht hinreichend beachten. Das
gilt besonders von Goethe: seine Bedeutung für die moderne Weltanschauung ist
noch bei weitem nicht ausgeschöpft, sein geistiges Vermächtnis noch lange nicht zu
einem innerlichen Besitze des Volkes geworden. Goethe ist uns in mancher Hin¬
sicht noch zu sehr Problem, um uns ganz objektiv zu werden. Immerhin haben
wir den Grundgehalt der deutschen Klassik deutlich genug erkannt, um ihren
Dauerwert von dem Eng-Persönlichen der ihn verkörpernden Männer abzulösen.
Es ist etwas Eigenes um das Verhältnis des deutschen Genius zu seinem Werke.
Vertiefen wir uns in die Entwicklung Goethes und den Umfang seines Gedankens
und Willenslebens, so haben wir den Eindruck, daß die Persönlichkeit viel reicher
ist als ihr Werk, daß die uns hinterlassenen Schriften auch in diesem Sinne nur
Bruchstücke eines viel umfassenderen einheitlichen Geisteslebens sind. Andererseits
aber ragt doch auch wieder das Werk durch die in ihm schlummernden Keime zu
. neuen Geistesschöpfungen über die historisch bedingte Person seines Urheber»


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[0029] Die «Linsen unserer Z^ationcilbildung Unterschiede vom Fremden und bloß Anempfundenen zu tun haben. Aber wer könnte die Vielheit dieser Erscheinungen auf eine Formel bringen oder auch nur zu einem fest umrissenen Gesamtbilde verewigen? Dos aber wäre notwendig, wenn es sich um die Aufstellung eines Bildungsideales zu pädagogischen Zwecken handelt. Aus demselben Grunde muß auch alles ausgeschaltet werden, was, ob- zwar geschichtlich bedeutsam, doch nicht mehr unmittelbar lebens- und wirkungs¬ kräftig ist und daher die Breite des Volkes nicht zu durchdringen vermag. Auch muß ein solches Bildungsgut, da es ja durch die Schule vermittelt werden soll, sich dem Nahmen unseres Unterrichtswesens einfügen lassen. Didaktische Rück¬ sichten endlich fordern, daß es nicht ein System abgezogener allgemeiner Begriffe und Lehren, sondern in lebensvollen genialen Persönlichkeiten und als deren Werk verkörpert ist. Wir müssen demnach fragen, in welchen Männern und welcher Epoche unserer GeistesgesHichte wir den reinsten und tiefsten Ausdruck unserer Seele, unserer völkischen Anlagen und Bestrebungen wiederfinden. Denn nur das Höchste, zu dem sich der deutsche Genius emporgeschwungen hat, ist würdig und geeignet, Gemeingut und idealer Richtungspunkt für das Bildungsbcwußtsein des Volkes zu werden. Und da kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Gipfelpunkt der bisherigen deutschen Vildungsgeschichte in jenem Kulturganzen liegt, das wir mit dem Namen Schiller und Goethe umschreiben. Damit scheint nun etwas längst Bekanntes und Anerkanntes gesagt zu sein. Und was die höhere Schule angeht, so wird man vielleicht fragen: Werden nicht genug Gedichte von Schiller und Goethe „behandelt" und auswendig gelernt? Werden nicht ihre Dramen eingehend besprochen und zu Aufsätzen verwertet? Sicherlich. Ab?r abgesehen von den Mängeln, die der schulmäßigen Behandlung der deutschen Poesie vielfach noch anhaften, ist hier doch etwas ganz anderes und Höheres gemeint. Wir müssen mit der Auffassung brechen, daß es sich bei Schiller und Goethe in erster Linie um Dichtung und .Kunst und de-Nut um bloße Erhöhung oder gar nur um Schmuck des Lebens handele. Vielmehr ist ihr Werk eine Neugestaltung des Lebens von innen her, eine erste große deutsche Gesaintkulturschöpsung seit der Vernichtung der mittelalterlichen Vildungseinheit. Ihre dichterische und sonstige schriftstellerische und wissenschaftliche Tätigkeit war nur der Ausfluß des unermüdlichen Strebens, einen inneren Lebensgehalt zu gewinnen, n r ein Mittel zu dem einen Ziele, sich selbst im tiefsten Sinne des Wortes zu formen und zu bilden. Und wenn es wahr ist, daß wir uns am besten durch das Beispiel gebildeter Menschen erziehen, so gibt es in der gesamten Menschheitsgeschichte one geeigneteren Führer. Insbesondere erhebt die ethische Entwicklung beider PersmUuyleiten ihr Lebenswerk weit über eine bloß ästhetisch-künstlerische Gestaltung des Daseins. Daß uns diese geistige Welt Goethes und Schillers noch nickt al« ein so geschlossenes Kulturganzes erscheint wie etwa die Antike und die Renaissance, möge daran, daß wir noch mitten in der Auseinandersetzung mit den führenden Persönlichkeiten stehen und so über der subjektiven' Bedingtheit der Einzelerschei- nuugen den objektiv°sachlichen Zusammenhang nicht hinreichend beachten. Das gilt besonders von Goethe: seine Bedeutung für die moderne Weltanschauung ist noch bei weitem nicht ausgeschöpft, sein geistiges Vermächtnis noch lange nicht zu einem innerlichen Besitze des Volkes geworden. Goethe ist uns in mancher Hin¬ sicht noch zu sehr Problem, um uns ganz objektiv zu werden. Immerhin haben wir den Grundgehalt der deutschen Klassik deutlich genug erkannt, um ihren Dauerwert von dem Eng-Persönlichen der ihn verkörpernden Männer abzulösen. Es ist etwas Eigenes um das Verhältnis des deutschen Genius zu seinem Werke. Vertiefen wir uns in die Entwicklung Goethes und den Umfang seines Gedankens und Willenslebens, so haben wir den Eindruck, daß die Persönlichkeit viel reicher ist als ihr Werk, daß die uns hinterlassenen Schriften auch in diesem Sinne nur Bruchstücke eines viel umfassenderen einheitlichen Geisteslebens sind. Andererseits aber ragt doch auch wieder das Werk durch die in ihm schlummernden Keime zu . neuen Geistesschöpfungen über die historisch bedingte Person seines Urheber» Gvmzbotmi it 1S18 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/29>, abgerufen am 22.07.2024.