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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Das Altern der Völker und Kulturen

Sinnesfreudigkeit zu immer reflektierterer Abstraktion erkennen läßt. Man nehme
zum Beispiel die künstlerischen Stile. Sie treten in die Welt als ganz untheo¬
retische Weisen des Erlebens, vor allem des Fühlens und der sinnlichen Wahr¬
nehmung. Dasjenige, was die Renaissance von der Gotik scheidet, ist zunächst
ein ganz anderes Lebensgefühl. An Stelle der Vorliebe für die Bewegung tritt
die für Ruhe, statt der gewallten rauschartigen Unklarheit und Verwirrung sucht
man die Klarheit, statt nach Vielheit strebt man nach Einheit und was derartiger
Wandlungen des fühlens mehr sind. Mit dem Fortschreiten der Entwicklung
wird jedoch dieses Lebensgefühl immer bewußter und reflektierter; dasjenige, was
sich zunächst naiv ergab, wird theoretisch zu fassen gesucht und mit bewußtem
Fleiß angestrebt. Das instinktiv Ertastete wird begrifflich festgelegt und in Regeln
und Gesetzen formuliert. Da dieser Übergang vom naiven Lebensaefühl zur ab¬
strakten Reflexion zugleich vielfach ein Erstarren des früheren Gefühlslebens mit
sich bringt, so liegt die Analogie mit den im Jndividualleben zu beobachtenden
Altersverschiebung der seelischen Funktion nahe. Fast in jeder Stilepoche können
wir diese Periodik feststellen. Bei den Epigonen erlischt in der Regel der lebendige
Instinkt vollkommen und die Schaffenskraft wird ersetzt durch die Krücken der
Abstraktion.

In der Religionsgeschichie haben wir sehr ähnliche. Wandlungen. Jede neue
Religion tritt zunächst als etwas gefühlsmäßig Erschautes in die Welt, wandelt
sich dann jedoch immer mehr zur Reflexion und Abstraktion hin, bis diese oft
völlig die Oberherrschaft gewinnen. Auch hier wieder liegt die Analogie mit dem
Altern des Einzelmenschen nahe.

Ähnliches läßt sich für fast alle anderen geistigen Bewegungen, auch die
sozialen, ja die wirtschaftlichen, nachweisen. Es handelt sich jedoch nur um eine
Analogie, nicht etwa, daß man ein wirkliches organisches Altern des betreffenden
MenschheitSausschnittes annehmen dürfte. Der Übergang vom Instinkt zur ab-
strakten Theorie unterliegt vielmehr durchaus einer eigenen, immanenten Gesetz¬
lichkeit. Es ist keineswegs richtig, nur in der Frühzeit, wo der reflektierende
Verstand noch wenig eingreift, die echte Höhe zu erblicken. Auch in den späteren
Stilzeiten treten schöpferische Geister von höchster Leistungskraft auf, die nur neben
dem schöpferischen Instinkt auch noch das volle Rüstzeug abstrakter Erkenntnis
besitzen und AU ihrem Verständnis voraussetzen. Es ist eine falsche und senti¬
mentale Bewertung, die nur die traumwandelnde Maienzeit jeder Stilperiode
anerkennen will. Oft steckt hinter abstrakter Beherrschung der Technik eine ge¬
waltige Schöpferkraft. Ein Jahrhundert lang hat man in Joh. S. Bach z. B.,
der am Endpunkt der kontrapunktiscken Musik steht, zu Unrecht nur einen ab¬
strakten Formkünstler gesehen. Ebenso großes Unrecht läßt man bis auf unsere
Tage noch der Spätgotik widerfahren, in der man nur abstrakten Formalismus
sieht und nicht hinter der technischen Formsicherheit das Quellen starken Schöpfer¬
willens. Jeder Stil schreitet vom Einfachen zum Komplizierter fort, und die
Kompliziertheit ist nicht mehr bloß instinktmäßig zu meistern, sondern erfordert
Verstand und Reflex on, auch für den Genießenden. Es ist aber falsch, den Kunst¬
wert nur in der Wirkung aufs Gefühl zu suchen.

Es darf für die Bewertung aller Entwicklungsgange nicht die Voraussetzung
gelten, daß die Jugend der Höhepunkt sei, nach der es nur Niedergang gäbe,
nein, man muß lernen, jedem Alter, auch dem Greisenalter, seine Werte zu¬
zubilligen.

Wenden wir zum Schluß die bisher gefundenen Ergebnisse auf die Probleme
unserer Zeit und unseres Volkstumes an! Gewiß ist richtig, daß wir in Ansehung
unserer zweitausendjährigen Geschichte in einer Spätzeit leben. Und in der Tat
hat es nicht an Leuten gefehlt, die die biologischen und psychologischen Merkmale
des Greisenalters an unserem Volkstum haben entdecken wollen. Daß wir bio¬
logisch ein niedergehendes Volk seien, dürfte besser als durch jede Theorie durch
die Leistungen des ganzen Volkes in diesem Kriege widerlegt sein, die es an
Energieaufwand wohl mit jeder, aber auch jeder Leistung irgendeines Volkes in


Das Altern der Völker und Kulturen

Sinnesfreudigkeit zu immer reflektierterer Abstraktion erkennen läßt. Man nehme
zum Beispiel die künstlerischen Stile. Sie treten in die Welt als ganz untheo¬
retische Weisen des Erlebens, vor allem des Fühlens und der sinnlichen Wahr¬
nehmung. Dasjenige, was die Renaissance von der Gotik scheidet, ist zunächst
ein ganz anderes Lebensgefühl. An Stelle der Vorliebe für die Bewegung tritt
die für Ruhe, statt der gewallten rauschartigen Unklarheit und Verwirrung sucht
man die Klarheit, statt nach Vielheit strebt man nach Einheit und was derartiger
Wandlungen des fühlens mehr sind. Mit dem Fortschreiten der Entwicklung
wird jedoch dieses Lebensgefühl immer bewußter und reflektierter; dasjenige, was
sich zunächst naiv ergab, wird theoretisch zu fassen gesucht und mit bewußtem
Fleiß angestrebt. Das instinktiv Ertastete wird begrifflich festgelegt und in Regeln
und Gesetzen formuliert. Da dieser Übergang vom naiven Lebensaefühl zur ab¬
strakten Reflexion zugleich vielfach ein Erstarren des früheren Gefühlslebens mit
sich bringt, so liegt die Analogie mit den im Jndividualleben zu beobachtenden
Altersverschiebung der seelischen Funktion nahe. Fast in jeder Stilepoche können
wir diese Periodik feststellen. Bei den Epigonen erlischt in der Regel der lebendige
Instinkt vollkommen und die Schaffenskraft wird ersetzt durch die Krücken der
Abstraktion.

In der Religionsgeschichie haben wir sehr ähnliche. Wandlungen. Jede neue
Religion tritt zunächst als etwas gefühlsmäßig Erschautes in die Welt, wandelt
sich dann jedoch immer mehr zur Reflexion und Abstraktion hin, bis diese oft
völlig die Oberherrschaft gewinnen. Auch hier wieder liegt die Analogie mit dem
Altern des Einzelmenschen nahe.

Ähnliches läßt sich für fast alle anderen geistigen Bewegungen, auch die
sozialen, ja die wirtschaftlichen, nachweisen. Es handelt sich jedoch nur um eine
Analogie, nicht etwa, daß man ein wirkliches organisches Altern des betreffenden
MenschheitSausschnittes annehmen dürfte. Der Übergang vom Instinkt zur ab-
strakten Theorie unterliegt vielmehr durchaus einer eigenen, immanenten Gesetz¬
lichkeit. Es ist keineswegs richtig, nur in der Frühzeit, wo der reflektierende
Verstand noch wenig eingreift, die echte Höhe zu erblicken. Auch in den späteren
Stilzeiten treten schöpferische Geister von höchster Leistungskraft auf, die nur neben
dem schöpferischen Instinkt auch noch das volle Rüstzeug abstrakter Erkenntnis
besitzen und AU ihrem Verständnis voraussetzen. Es ist eine falsche und senti¬
mentale Bewertung, die nur die traumwandelnde Maienzeit jeder Stilperiode
anerkennen will. Oft steckt hinter abstrakter Beherrschung der Technik eine ge¬
waltige Schöpferkraft. Ein Jahrhundert lang hat man in Joh. S. Bach z. B.,
der am Endpunkt der kontrapunktiscken Musik steht, zu Unrecht nur einen ab¬
strakten Formkünstler gesehen. Ebenso großes Unrecht läßt man bis auf unsere
Tage noch der Spätgotik widerfahren, in der man nur abstrakten Formalismus
sieht und nicht hinter der technischen Formsicherheit das Quellen starken Schöpfer¬
willens. Jeder Stil schreitet vom Einfachen zum Komplizierter fort, und die
Kompliziertheit ist nicht mehr bloß instinktmäßig zu meistern, sondern erfordert
Verstand und Reflex on, auch für den Genießenden. Es ist aber falsch, den Kunst¬
wert nur in der Wirkung aufs Gefühl zu suchen.

Es darf für die Bewertung aller Entwicklungsgange nicht die Voraussetzung
gelten, daß die Jugend der Höhepunkt sei, nach der es nur Niedergang gäbe,
nein, man muß lernen, jedem Alter, auch dem Greisenalter, seine Werte zu¬
zubilligen.

Wenden wir zum Schluß die bisher gefundenen Ergebnisse auf die Probleme
unserer Zeit und unseres Volkstumes an! Gewiß ist richtig, daß wir in Ansehung
unserer zweitausendjährigen Geschichte in einer Spätzeit leben. Und in der Tat
hat es nicht an Leuten gefehlt, die die biologischen und psychologischen Merkmale
des Greisenalters an unserem Volkstum haben entdecken wollen. Daß wir bio¬
logisch ein niedergehendes Volk seien, dürfte besser als durch jede Theorie durch
die Leistungen des ganzen Volkes in diesem Kriege widerlegt sein, die es an
Energieaufwand wohl mit jeder, aber auch jeder Leistung irgendeines Volkes in


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[0262] Das Altern der Völker und Kulturen Sinnesfreudigkeit zu immer reflektierterer Abstraktion erkennen läßt. Man nehme zum Beispiel die künstlerischen Stile. Sie treten in die Welt als ganz untheo¬ retische Weisen des Erlebens, vor allem des Fühlens und der sinnlichen Wahr¬ nehmung. Dasjenige, was die Renaissance von der Gotik scheidet, ist zunächst ein ganz anderes Lebensgefühl. An Stelle der Vorliebe für die Bewegung tritt die für Ruhe, statt der gewallten rauschartigen Unklarheit und Verwirrung sucht man die Klarheit, statt nach Vielheit strebt man nach Einheit und was derartiger Wandlungen des fühlens mehr sind. Mit dem Fortschreiten der Entwicklung wird jedoch dieses Lebensgefühl immer bewußter und reflektierter; dasjenige, was sich zunächst naiv ergab, wird theoretisch zu fassen gesucht und mit bewußtem Fleiß angestrebt. Das instinktiv Ertastete wird begrifflich festgelegt und in Regeln und Gesetzen formuliert. Da dieser Übergang vom naiven Lebensaefühl zur ab¬ strakten Reflexion zugleich vielfach ein Erstarren des früheren Gefühlslebens mit sich bringt, so liegt die Analogie mit den im Jndividualleben zu beobachtenden Altersverschiebung der seelischen Funktion nahe. Fast in jeder Stilepoche können wir diese Periodik feststellen. Bei den Epigonen erlischt in der Regel der lebendige Instinkt vollkommen und die Schaffenskraft wird ersetzt durch die Krücken der Abstraktion. In der Religionsgeschichie haben wir sehr ähnliche. Wandlungen. Jede neue Religion tritt zunächst als etwas gefühlsmäßig Erschautes in die Welt, wandelt sich dann jedoch immer mehr zur Reflexion und Abstraktion hin, bis diese oft völlig die Oberherrschaft gewinnen. Auch hier wieder liegt die Analogie mit dem Altern des Einzelmenschen nahe. Ähnliches läßt sich für fast alle anderen geistigen Bewegungen, auch die sozialen, ja die wirtschaftlichen, nachweisen. Es handelt sich jedoch nur um eine Analogie, nicht etwa, daß man ein wirkliches organisches Altern des betreffenden MenschheitSausschnittes annehmen dürfte. Der Übergang vom Instinkt zur ab- strakten Theorie unterliegt vielmehr durchaus einer eigenen, immanenten Gesetz¬ lichkeit. Es ist keineswegs richtig, nur in der Frühzeit, wo der reflektierende Verstand noch wenig eingreift, die echte Höhe zu erblicken. Auch in den späteren Stilzeiten treten schöpferische Geister von höchster Leistungskraft auf, die nur neben dem schöpferischen Instinkt auch noch das volle Rüstzeug abstrakter Erkenntnis besitzen und AU ihrem Verständnis voraussetzen. Es ist eine falsche und senti¬ mentale Bewertung, die nur die traumwandelnde Maienzeit jeder Stilperiode anerkennen will. Oft steckt hinter abstrakter Beherrschung der Technik eine ge¬ waltige Schöpferkraft. Ein Jahrhundert lang hat man in Joh. S. Bach z. B., der am Endpunkt der kontrapunktiscken Musik steht, zu Unrecht nur einen ab¬ strakten Formkünstler gesehen. Ebenso großes Unrecht läßt man bis auf unsere Tage noch der Spätgotik widerfahren, in der man nur abstrakten Formalismus sieht und nicht hinter der technischen Formsicherheit das Quellen starken Schöpfer¬ willens. Jeder Stil schreitet vom Einfachen zum Komplizierter fort, und die Kompliziertheit ist nicht mehr bloß instinktmäßig zu meistern, sondern erfordert Verstand und Reflex on, auch für den Genießenden. Es ist aber falsch, den Kunst¬ wert nur in der Wirkung aufs Gefühl zu suchen. Es darf für die Bewertung aller Entwicklungsgange nicht die Voraussetzung gelten, daß die Jugend der Höhepunkt sei, nach der es nur Niedergang gäbe, nein, man muß lernen, jedem Alter, auch dem Greisenalter, seine Werte zu¬ zubilligen. Wenden wir zum Schluß die bisher gefundenen Ergebnisse auf die Probleme unserer Zeit und unseres Volkstumes an! Gewiß ist richtig, daß wir in Ansehung unserer zweitausendjährigen Geschichte in einer Spätzeit leben. Und in der Tat hat es nicht an Leuten gefehlt, die die biologischen und psychologischen Merkmale des Greisenalters an unserem Volkstum haben entdecken wollen. Daß wir bio¬ logisch ein niedergehendes Volk seien, dürfte besser als durch jede Theorie durch die Leistungen des ganzen Volkes in diesem Kriege widerlegt sein, die es an Energieaufwand wohl mit jeder, aber auch jeder Leistung irgendeines Volkes in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/262>, abgerufen am 27.08.2024.