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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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er noch den Rock des Bürgers trägt, ^Geschäfte mit dem Gewinn, der seiner Ge¬
rissenheit entspricht und infolgedessen empörend hoch ist. Dieser Herr Meyer wird
zu seiner Überraschung, denn er hatte auf weitere Reklamation gerechnet, einge¬
zogen. Ist es ausgeschlossen, daß er ein tüchtiger Soldat wird und sich das Eiserne
Kreuz ehrlich verdient? Kommt es nicht vor, daß ein tüchtiger Soldat etwa in
Rußland die Gelegenheit beim Schöpfe faßt, unversehens vom Helden zum Händler
wird und während er bisher fleißig Granaten zum Feind hinübersandte, mit dem,
der nicht mehr Feind ist, ein Bombengeschäft macht? Kann nicht ein Mann den
Tag über musterhaft und ohne Murren, ja als leuchtendes Vorbild, arbeiten und
durchhalten und alle schweren Pflichten der Zeit hingebend erfüllen und abends
im Weinrestaurant "hintenrum" alle zehn Gebote der Kriegsernährung und der
Mäßigkeit übertreten? Geht nicht alles in uns nebeneinander her, Held und
Händler, tapferer Patriot und in einer üblen Laune gefährlicher Miesmacher,
gemeinschädlicher Übertreter der das Durchhalten ermöglichenden Verordnungen
und politischer oder parlamentarischer, amtlicher oder schriftstellerischer Mitschöpfer
neuen gesetzgeberischen Knegszwanges? Es geht alles nebeneinander her. Darum
sind die auf dem Holzwege, die nur der Gedanke aufrecht hält, daß dieser Krieg
der letzte sein müsse und werde und daß danach der Modus gefunden werde, der
künftigen Appell an die grauenhafte Technik der Zerstörung unnötig und unmöglich
mache. Und ebenso gehen die irre, die kein Heil mehr kennen, außer der Gewalt,
die sich einen Zustand friedlichen Austausches zwischen den jetzt kämpfenden Staaten
nicht vorstellen können und denen das Europa der Zukunft nur noch als ein
waffenstarrendes Kriegslager erscheint. Weder die nackte Gewalt, noch die Ver¬
brüderung, die noch niemals auf Erden war, werden diesem Kriege folgen, sondern
ein Mittelding und Mittelmaß, hinausprojiziert ins Politische aus dem Wesen
der Menschen und der Völker -- denn die Völker bestehen bekanntlich aus Menschen --
in dem nebeneinander hergeht, was uns in bewegten Zeiten so unvereinbar scheint.
Der Mensch war, ist und wird weder Engel noch Bestie. Immer behalten die
Mittelparteien auf die Dauer recht, immer kehrt die Entwicklung zu der mittleren
Linie zurück und unter "Entwicklung" dürfen wir nichts verstehen, das aufwärts
und nichts, das abwärts führt. Immer werden, während Helden schweigend
dulden, siegen und sterben, den Moissis die Hüte gestohlen und Gesetze übertreten,
nie ertönt ein Schmerzensschrei, den nicht aus einem anderen Winkel das Quietschen
der gedankenlosen Heiterkeit begleitet, immer gibt's Leute, die zu sterben wissen,
immer Leute, die um jeden Preis leben wollen, immer gibt's genug Helden, daß
die großen geschichtlichen Wendungen herbeigeführt werden, immer soviel Selbst-
süchtlinge, daß der Pessimismus nicht auszusterben braucht. Immer kann das
Wort auf die Erscheinungen des Lebens angewandt werden, das der Soldat sprach,
dem jemand ein Glas Bier oder ein Glas Wein anbot, "Das eine schließt das
andere keineswegs aus". Wir werden das gleiche Wahlrecht in Preußen be¬
kommen und Preußen wird der starke Staat bleiben. Wir werden vom geheim-
rätlichen Staatssozialismus eine tüchtige Portion bekommen und den wirtschaftlichen
Wiederaufbau wird die freie Arbeit deutscher Erfindungskraft und Anpassungs¬
fähigkeit leisten. Die gigantische llbergaunerei, die von der Gunst der Zeit
ermöglicht wurde, wird sich von selbst auf das im Frieden gewohnte nützliche und
anregende Maß von gaunerischem Einschlag in einem Leben und Treiben redu¬
zieren, das die Wertschätzung des Strafgesetzbuches im allgemeinen ehrlich und
anständig erhält. Wir werden die Welt nicht beherrschen, aber vor künstigen
Versuchen, uns zusammenzudrücken, wird das Gespenst eines sehr großen und
sehr schmerzlichen Risikos auftauchen. Die demokratische Entwicklung ist da und
wird weitergehen, aber nie wird, wenn er unter uns bleibt, Theodor Wolff in
sein politisches Paradies eintreten. Und -- die Reformen, die jetzt in allen
Schreibstuben ausgebrütet und in tausend Zeitungsartikeln angekündigt werden,
werden unser Leben viel weniger umgestalten, als die Reformer annehmen. Eine
der interessantesten geistigen Kriegserscheinungen ist die allgemeine Überzeugung,
daß alles "anders" werden müsse. Wir leben in der Zeit einer geistigen Völker-


Randglossen zum Tage

er noch den Rock des Bürgers trägt, ^Geschäfte mit dem Gewinn, der seiner Ge¬
rissenheit entspricht und infolgedessen empörend hoch ist. Dieser Herr Meyer wird
zu seiner Überraschung, denn er hatte auf weitere Reklamation gerechnet, einge¬
zogen. Ist es ausgeschlossen, daß er ein tüchtiger Soldat wird und sich das Eiserne
Kreuz ehrlich verdient? Kommt es nicht vor, daß ein tüchtiger Soldat etwa in
Rußland die Gelegenheit beim Schöpfe faßt, unversehens vom Helden zum Händler
wird und während er bisher fleißig Granaten zum Feind hinübersandte, mit dem,
der nicht mehr Feind ist, ein Bombengeschäft macht? Kann nicht ein Mann den
Tag über musterhaft und ohne Murren, ja als leuchtendes Vorbild, arbeiten und
durchhalten und alle schweren Pflichten der Zeit hingebend erfüllen und abends
im Weinrestaurant „hintenrum" alle zehn Gebote der Kriegsernährung und der
Mäßigkeit übertreten? Geht nicht alles in uns nebeneinander her, Held und
Händler, tapferer Patriot und in einer üblen Laune gefährlicher Miesmacher,
gemeinschädlicher Übertreter der das Durchhalten ermöglichenden Verordnungen
und politischer oder parlamentarischer, amtlicher oder schriftstellerischer Mitschöpfer
neuen gesetzgeberischen Knegszwanges? Es geht alles nebeneinander her. Darum
sind die auf dem Holzwege, die nur der Gedanke aufrecht hält, daß dieser Krieg
der letzte sein müsse und werde und daß danach der Modus gefunden werde, der
künftigen Appell an die grauenhafte Technik der Zerstörung unnötig und unmöglich
mache. Und ebenso gehen die irre, die kein Heil mehr kennen, außer der Gewalt,
die sich einen Zustand friedlichen Austausches zwischen den jetzt kämpfenden Staaten
nicht vorstellen können und denen das Europa der Zukunft nur noch als ein
waffenstarrendes Kriegslager erscheint. Weder die nackte Gewalt, noch die Ver¬
brüderung, die noch niemals auf Erden war, werden diesem Kriege folgen, sondern
ein Mittelding und Mittelmaß, hinausprojiziert ins Politische aus dem Wesen
der Menschen und der Völker — denn die Völker bestehen bekanntlich aus Menschen —
in dem nebeneinander hergeht, was uns in bewegten Zeiten so unvereinbar scheint.
Der Mensch war, ist und wird weder Engel noch Bestie. Immer behalten die
Mittelparteien auf die Dauer recht, immer kehrt die Entwicklung zu der mittleren
Linie zurück und unter „Entwicklung" dürfen wir nichts verstehen, das aufwärts
und nichts, das abwärts führt. Immer werden, während Helden schweigend
dulden, siegen und sterben, den Moissis die Hüte gestohlen und Gesetze übertreten,
nie ertönt ein Schmerzensschrei, den nicht aus einem anderen Winkel das Quietschen
der gedankenlosen Heiterkeit begleitet, immer gibt's Leute, die zu sterben wissen,
immer Leute, die um jeden Preis leben wollen, immer gibt's genug Helden, daß
die großen geschichtlichen Wendungen herbeigeführt werden, immer soviel Selbst-
süchtlinge, daß der Pessimismus nicht auszusterben braucht. Immer kann das
Wort auf die Erscheinungen des Lebens angewandt werden, das der Soldat sprach,
dem jemand ein Glas Bier oder ein Glas Wein anbot, „Das eine schließt das
andere keineswegs aus". Wir werden das gleiche Wahlrecht in Preußen be¬
kommen und Preußen wird der starke Staat bleiben. Wir werden vom geheim-
rätlichen Staatssozialismus eine tüchtige Portion bekommen und den wirtschaftlichen
Wiederaufbau wird die freie Arbeit deutscher Erfindungskraft und Anpassungs¬
fähigkeit leisten. Die gigantische llbergaunerei, die von der Gunst der Zeit
ermöglicht wurde, wird sich von selbst auf das im Frieden gewohnte nützliche und
anregende Maß von gaunerischem Einschlag in einem Leben und Treiben redu¬
zieren, das die Wertschätzung des Strafgesetzbuches im allgemeinen ehrlich und
anständig erhält. Wir werden die Welt nicht beherrschen, aber vor künstigen
Versuchen, uns zusammenzudrücken, wird das Gespenst eines sehr großen und
sehr schmerzlichen Risikos auftauchen. Die demokratische Entwicklung ist da und
wird weitergehen, aber nie wird, wenn er unter uns bleibt, Theodor Wolff in
sein politisches Paradies eintreten. Und -- die Reformen, die jetzt in allen
Schreibstuben ausgebrütet und in tausend Zeitungsartikeln angekündigt werden,
werden unser Leben viel weniger umgestalten, als die Reformer annehmen. Eine
der interessantesten geistigen Kriegserscheinungen ist die allgemeine Überzeugung,
daß alles „anders" werden müsse. Wir leben in der Zeit einer geistigen Völker-


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[0173] Randglossen zum Tage er noch den Rock des Bürgers trägt, ^Geschäfte mit dem Gewinn, der seiner Ge¬ rissenheit entspricht und infolgedessen empörend hoch ist. Dieser Herr Meyer wird zu seiner Überraschung, denn er hatte auf weitere Reklamation gerechnet, einge¬ zogen. Ist es ausgeschlossen, daß er ein tüchtiger Soldat wird und sich das Eiserne Kreuz ehrlich verdient? Kommt es nicht vor, daß ein tüchtiger Soldat etwa in Rußland die Gelegenheit beim Schöpfe faßt, unversehens vom Helden zum Händler wird und während er bisher fleißig Granaten zum Feind hinübersandte, mit dem, der nicht mehr Feind ist, ein Bombengeschäft macht? Kann nicht ein Mann den Tag über musterhaft und ohne Murren, ja als leuchtendes Vorbild, arbeiten und durchhalten und alle schweren Pflichten der Zeit hingebend erfüllen und abends im Weinrestaurant „hintenrum" alle zehn Gebote der Kriegsernährung und der Mäßigkeit übertreten? Geht nicht alles in uns nebeneinander her, Held und Händler, tapferer Patriot und in einer üblen Laune gefährlicher Miesmacher, gemeinschädlicher Übertreter der das Durchhalten ermöglichenden Verordnungen und politischer oder parlamentarischer, amtlicher oder schriftstellerischer Mitschöpfer neuen gesetzgeberischen Knegszwanges? Es geht alles nebeneinander her. Darum sind die auf dem Holzwege, die nur der Gedanke aufrecht hält, daß dieser Krieg der letzte sein müsse und werde und daß danach der Modus gefunden werde, der künftigen Appell an die grauenhafte Technik der Zerstörung unnötig und unmöglich mache. Und ebenso gehen die irre, die kein Heil mehr kennen, außer der Gewalt, die sich einen Zustand friedlichen Austausches zwischen den jetzt kämpfenden Staaten nicht vorstellen können und denen das Europa der Zukunft nur noch als ein waffenstarrendes Kriegslager erscheint. Weder die nackte Gewalt, noch die Ver¬ brüderung, die noch niemals auf Erden war, werden diesem Kriege folgen, sondern ein Mittelding und Mittelmaß, hinausprojiziert ins Politische aus dem Wesen der Menschen und der Völker — denn die Völker bestehen bekanntlich aus Menschen — in dem nebeneinander hergeht, was uns in bewegten Zeiten so unvereinbar scheint. Der Mensch war, ist und wird weder Engel noch Bestie. Immer behalten die Mittelparteien auf die Dauer recht, immer kehrt die Entwicklung zu der mittleren Linie zurück und unter „Entwicklung" dürfen wir nichts verstehen, das aufwärts und nichts, das abwärts führt. Immer werden, während Helden schweigend dulden, siegen und sterben, den Moissis die Hüte gestohlen und Gesetze übertreten, nie ertönt ein Schmerzensschrei, den nicht aus einem anderen Winkel das Quietschen der gedankenlosen Heiterkeit begleitet, immer gibt's Leute, die zu sterben wissen, immer Leute, die um jeden Preis leben wollen, immer gibt's genug Helden, daß die großen geschichtlichen Wendungen herbeigeführt werden, immer soviel Selbst- süchtlinge, daß der Pessimismus nicht auszusterben braucht. Immer kann das Wort auf die Erscheinungen des Lebens angewandt werden, das der Soldat sprach, dem jemand ein Glas Bier oder ein Glas Wein anbot, „Das eine schließt das andere keineswegs aus". Wir werden das gleiche Wahlrecht in Preußen be¬ kommen und Preußen wird der starke Staat bleiben. Wir werden vom geheim- rätlichen Staatssozialismus eine tüchtige Portion bekommen und den wirtschaftlichen Wiederaufbau wird die freie Arbeit deutscher Erfindungskraft und Anpassungs¬ fähigkeit leisten. Die gigantische llbergaunerei, die von der Gunst der Zeit ermöglicht wurde, wird sich von selbst auf das im Frieden gewohnte nützliche und anregende Maß von gaunerischem Einschlag in einem Leben und Treiben redu¬ zieren, das die Wertschätzung des Strafgesetzbuches im allgemeinen ehrlich und anständig erhält. Wir werden die Welt nicht beherrschen, aber vor künstigen Versuchen, uns zusammenzudrücken, wird das Gespenst eines sehr großen und sehr schmerzlichen Risikos auftauchen. Die demokratische Entwicklung ist da und wird weitergehen, aber nie wird, wenn er unter uns bleibt, Theodor Wolff in sein politisches Paradies eintreten. Und -- die Reformen, die jetzt in allen Schreibstuben ausgebrütet und in tausend Zeitungsartikeln angekündigt werden, werden unser Leben viel weniger umgestalten, als die Reformer annehmen. Eine der interessantesten geistigen Kriegserscheinungen ist die allgemeine Überzeugung, daß alles „anders" werden müsse. Wir leben in der Zeit einer geistigen Völker-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/173>, abgerufen am 01.10.2024.