Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.Die Polenfrage vor der Entscheidung wünschen konnten. Nicht die Entente hat über uns gesiegt! Wir haben sie zwar Allen Lehren, die der Krieg ihnen gebracht haben sollte, zum Trotz, leben Wenn man nicht zufällig Deutscher wäre, so würde einem die aufmerksame Und es gibt genug Gründe, die ihnen ein Recht zu ihrem Zunächst die inneren Gründe. Die Grundlage des polnischen Selbst¬ Die Polenfrage vor der Entscheidung wünschen konnten. Nicht die Entente hat über uns gesiegt! Wir haben sie zwar Allen Lehren, die der Krieg ihnen gebracht haben sollte, zum Trotz, leben Wenn man nicht zufällig Deutscher wäre, so würde einem die aufmerksame Und es gibt genug Gründe, die ihnen ein Recht zu ihrem Zunächst die inneren Gründe. Die Grundlage des polnischen Selbst¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0153" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333636"/> <fw type="header" place="top"> Die Polenfrage vor der Entscheidung</fw><lb/> <p xml:id="ID_537" prev="#ID_536"> wünschen konnten. Nicht die Entente hat über uns gesiegt! Wir haben sie zwar<lb/> im Augenblick noch nicht völlig zu Boden geworfen, — im Osten aber sind wir<lb/> Sieger! — militärische Sieger! Die Frage ist, ob wir auch die politischen<lb/> Sieger sein sollen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_538"> Allen Lehren, die der Krieg ihnen gebracht haben sollte, zum Trotz, leben<lb/> die Polen auch heute noch in der Meinung, die militärische Karte, wie sie der<lb/> Friede von Litauisch-Brest gezeichnet hat, werde keinen Bestand haben, vielmehr<lb/> durch den allgemeinen Friedensschluß erheblich zu ihren Gunsten verändert werden.<lb/> Allein durch diese Stellungnahme bezeugen sie, daß sie nicht unsere Freunde ohne<lb/> Vorbehalt sein wollen, oder politischer ausgedrückt, daß sie ihre Interessen<lb/> nicht mit den unseren verbinden wollen, sondern sie im bewußten<lb/> Gegensatz zu uns durchsetzen. Daher ist ihre Politik darauf gerichtet, soviel<lb/> Atouts in die Hand zu bekommen, wie nur möglich, um sie gegen denjenigen<lb/> auszuspielen, der ihren Zielen am meisten im Wege steht, und das sind die Deutschen!</p><lb/> <p xml:id="ID_539"> Wenn man nicht zufällig Deutscher wäre, so würde einem die aufmerksame<lb/> Beobachtung des polnischen Spieles, ihre große Einmütigkeit trotz scheinbarer<lb/> innerer Zerrissenheit, die Art der Rollenverteilung und die rücksichtslos mutige<lb/> Art ihres Zugreifens im richtigen Augenblick, einen gewissen Genuß bereiten.<lb/> Was die Polen in den letzten vier Jahren diplomatisch geleistet haben, ist be¬<lb/> wunderungswert. Dank der Zerfahrenheit bei uns gab es Stunden, in denen<lb/> ste hoffen konnten, den Lorbeer des Sieges um die Stirnen ihrer Führer winden<lb/> ZU dürfen. Dabei war ihre Politik als Ganzes betrachtet nicht etwa hinter¬<lb/> hältig, — natürlich nur für den nicht, der sie in allen ihren Teilen zu überwachen<lb/> vermochte. Im Gegenteil, sie war offen, selbstsicher, in ihrem Freimut uns gegen¬<lb/> über fast beleidigend! Sie traten auf wie Menschen, die sich als Herren der<lb/> Lage fühlen und bereits die letzten Konsequenzen im voraus gezogen haben. Mit<lb/> einem Wort: Die Polen fühlen sich uns politisch überlegen! Das ist das<lb/> Geheimnis ihrer Politik und ihrer Erfolge!</p><lb/> <p xml:id="ID_540"> Und es gibt genug Gründe, die ihnen ein Recht zu ihrem<lb/> Glauben zu geben scheinen. Ihre Kenntnis ist in unserer Lage sehr nützlich!</p><lb/> <p xml:id="ID_541" next="#ID_542"> Zunächst die inneren Gründe. Die Grundlage des polnischen Selbst¬<lb/> bewußtseins liegt in der Tatsache, daß die Teilungen nicht nur nicht vermocht<lb/> haben, das polnische Volk im germanischen und ostslawischen Meer aufgehen zu<lb/> lassen, daß die Polen sich vielmehr überhaupt erst unter dem Druck der Teilungsstaaten<lb/> SU einer Nation im wahren Sinne des Wortes entwickelt haben. Vor hundertfünfzig<lb/> Jahren war es die dünne Adelsschicht, die die polnische Nation repräsentierte;<lb/> heute wird sie gebildet aus einer breiten, kinderreichen Bauernschicht und<lb/> einem verhältnismäßig wohlhabenden Bürgertum als Träger des wirtschaftlichen<lb/> Fortschrittes, und aus einer glühend patriotischen Intelligenz, sowie einem durch<lb/> den Sozialismus als treibende Hefe gemischten Proletariat, das vor keiner<lb/> Gewalttat und keiner Form von Auflehnung gegen tatsächliche und eingebildete<lb/> Bedrücker zurückschreckt. Es ist bekannt, daß die polnische Sozialdemokratie ebenso<lb/> wie die Nationaldemokratie im Gegensatz zu den demokratischen Parteien anderer<lb/> Länder durchaus auf dem nationalen Boden steht. Daher hat der polnische<lb/> Sozialismus trotz seiner Klassenkampfideale nicht die zersetzende Kraft des inter-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0153]
Die Polenfrage vor der Entscheidung
wünschen konnten. Nicht die Entente hat über uns gesiegt! Wir haben sie zwar
im Augenblick noch nicht völlig zu Boden geworfen, — im Osten aber sind wir
Sieger! — militärische Sieger! Die Frage ist, ob wir auch die politischen
Sieger sein sollen.
Allen Lehren, die der Krieg ihnen gebracht haben sollte, zum Trotz, leben
die Polen auch heute noch in der Meinung, die militärische Karte, wie sie der
Friede von Litauisch-Brest gezeichnet hat, werde keinen Bestand haben, vielmehr
durch den allgemeinen Friedensschluß erheblich zu ihren Gunsten verändert werden.
Allein durch diese Stellungnahme bezeugen sie, daß sie nicht unsere Freunde ohne
Vorbehalt sein wollen, oder politischer ausgedrückt, daß sie ihre Interessen
nicht mit den unseren verbinden wollen, sondern sie im bewußten
Gegensatz zu uns durchsetzen. Daher ist ihre Politik darauf gerichtet, soviel
Atouts in die Hand zu bekommen, wie nur möglich, um sie gegen denjenigen
auszuspielen, der ihren Zielen am meisten im Wege steht, und das sind die Deutschen!
Wenn man nicht zufällig Deutscher wäre, so würde einem die aufmerksame
Beobachtung des polnischen Spieles, ihre große Einmütigkeit trotz scheinbarer
innerer Zerrissenheit, die Art der Rollenverteilung und die rücksichtslos mutige
Art ihres Zugreifens im richtigen Augenblick, einen gewissen Genuß bereiten.
Was die Polen in den letzten vier Jahren diplomatisch geleistet haben, ist be¬
wunderungswert. Dank der Zerfahrenheit bei uns gab es Stunden, in denen
ste hoffen konnten, den Lorbeer des Sieges um die Stirnen ihrer Führer winden
ZU dürfen. Dabei war ihre Politik als Ganzes betrachtet nicht etwa hinter¬
hältig, — natürlich nur für den nicht, der sie in allen ihren Teilen zu überwachen
vermochte. Im Gegenteil, sie war offen, selbstsicher, in ihrem Freimut uns gegen¬
über fast beleidigend! Sie traten auf wie Menschen, die sich als Herren der
Lage fühlen und bereits die letzten Konsequenzen im voraus gezogen haben. Mit
einem Wort: Die Polen fühlen sich uns politisch überlegen! Das ist das
Geheimnis ihrer Politik und ihrer Erfolge!
Und es gibt genug Gründe, die ihnen ein Recht zu ihrem
Glauben zu geben scheinen. Ihre Kenntnis ist in unserer Lage sehr nützlich!
Zunächst die inneren Gründe. Die Grundlage des polnischen Selbst¬
bewußtseins liegt in der Tatsache, daß die Teilungen nicht nur nicht vermocht
haben, das polnische Volk im germanischen und ostslawischen Meer aufgehen zu
lassen, daß die Polen sich vielmehr überhaupt erst unter dem Druck der Teilungsstaaten
SU einer Nation im wahren Sinne des Wortes entwickelt haben. Vor hundertfünfzig
Jahren war es die dünne Adelsschicht, die die polnische Nation repräsentierte;
heute wird sie gebildet aus einer breiten, kinderreichen Bauernschicht und
einem verhältnismäßig wohlhabenden Bürgertum als Träger des wirtschaftlichen
Fortschrittes, und aus einer glühend patriotischen Intelligenz, sowie einem durch
den Sozialismus als treibende Hefe gemischten Proletariat, das vor keiner
Gewalttat und keiner Form von Auflehnung gegen tatsächliche und eingebildete
Bedrücker zurückschreckt. Es ist bekannt, daß die polnische Sozialdemokratie ebenso
wie die Nationaldemokratie im Gegensatz zu den demokratischen Parteien anderer
Länder durchaus auf dem nationalen Boden steht. Daher hat der polnische
Sozialismus trotz seiner Klassenkampfideale nicht die zersetzende Kraft des inter-
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