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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Sind die Franzosen die echten Lrben althelleniscken Geistes?

die stoischen Denker folgerichtig und hochherzig zu dem neuen Gedanken der
Humanität als eines Bandes, das alle Völker als Brüder umschlingen soll! wo
aber, wie in Frankreich, die Gesellschaft dem einzelnen seine Welt bedeutet, da
droht die Gefahr, daß der jeweilige Gesellschaftswille mit dem Willen der
Menschheit verwechselt und der einsame Denker und Arbeiter erbarmungslos der
Konvention und der Mode geopfert wird.

Und ferner ein anderes. Wie alles Irrationale wird das ganz Unvergleichliche
geschichtlicher Größe, wird alles geschichiliche Werden und Sollen in seinen sitt¬
lichen Antrieben und Kräften, wie in seinen sittlichen Wirkungen verkannt und
zur natürlichen Verpflichtung herabgedrückt. Und diese beiden Irrtümer sind für
den Hellenismus wie für Frankreich zum Verhängnis geworden. Doch wie dem
immer sei. es war etwas Großes und Befreiendes um den Glauben an die Vernunft.
Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur durch eine Sammlung französischer
Gemälde zu schreiten und den Männern und Frauen verschiedener Jahrhunderte
in die Augen zu blicken: man ist erstaunt über das sieghafte und scharfsinnige
Leuchten der Augen und beginnt zu begreifen, wie es kommt, daß die Franzosen
in unseren deutschen Augen oft nichts anderes zu finden wähnen, als den Aus¬
druck der Schwermut oder des Verzichtens: l'expression ete vnZue melaneolie on
ac resiZnatiem inerte.

Und es gibt einen letzten Grundzug, der im Hellenismus einsetzt und durch
das Franzosentum hindurchführt-, eine Lebensrichtung allerdings, die sich weniger
im Denken als in der Dichtung bemerkbar macht. Das ist die Entdeckung der
Liebe zwischen Mann und Weib, als einer wichtigen Angelegenheit des bürger¬
lichen Daseins und des geistigen Werdens. Es bedürfte beidemal eigentümlicher
Zeitverhältnisse, daß diese Lebensbeziehung als weittragend und sitilich bedeutungs¬
voll, ja für den Lebensinhalt entscheidend erkannt und in den Mittelpunkt dich¬
terischer Teilnahme gestellt wurde. Was uns heilte so gewohnt, ja selbstverständ¬
lich scheint, ist doch vielen anderen Kulturen, und so der altgriechischen Zeit eines
Sokrates und Platon, fremd und ferne geblieben. Die neuere Komödie eines
Menander und der hellenistische Roman samt der Novelle, die römischen Elegiker
nach alexandrinischen Vorbild erhoben die Neigung zu einer Hetäre, seltener zur
eigenen Ehefrau, in den Kreis dessen, was eines Mannes Brust am tiefsten
bewegt. Und bei den Franzosen zunächst Südfrankreichs, an den Höfen feudaler
fürstlicher Frauen, wird im Minnesang und Minneroman eine Liebe der Huldigung
und Verehrung ins Geistige geläutert und verklärt, bis die Herrin zum Inbegriff
des Höchsten und Reinsten, ja zum Sinnbild der Gottheit schließlich emporsteigt.

Zu diesen gemeinsamen Grundzügen der Lebensanschauung und Weltauf-
fassung kommt ergänzend und bestätigend eine auffallende Übereinstimmung in den
vorherrschenden Stilnrten des künstlerischen und litercmscheu Schaffens. Bildhauer
und Baumeister, Maler und Dichter, Schriftsteller und Gelehrte haben sich jeweils
grundsätzlich einer von drei Möglichkeiten angeschlossen, die wir in Kürze als die
rhetorisch-pathetische, die witzig-skeptische und die anmutige gefällige Stilrichtung be¬
zeichnen. Zwar scheint die Mannigfaltigkeit und der Reichtum einzelner künst¬
lerischer Begabungen auf französischem Boden solche Gleichförmigkeit auszuschließen.
Und doch bleibt es wahr, daß die überwiegende Mehrzahl der Franzosen und
gerade die führenden Geister immer aufs neue eine dieser drei Stilgattungen aus¬
prägen, die in dem tiefen Grunde dauernder Gesinnung, eines wurzeln und
darum gleich einer Naturkraft mit innerer Notwendigkeit wirken. Bei alledem
läßt eine solche Grundstimmung der Neigung und Fähigkeit des einzelnen noch
Raum genug und schließt allerlei Spielarten und Mischungen keineswegs aus.
Aber darauf kommt es an, daß Hellenismus und Franzosemum aus jener drei¬
fachen Grundstiimnung der Seele, aus jenein dreifachen Lebens- und Stilgefühl
Werke von typischer Reinheit hervorgebracht haben, die sich von der "edlen Einfalt
und stillen Größe" des Parthenon und des Zeustempels in Olympia, von der
unbewegten Menschenwürde und andächtigen Gottesfurcht eines Aischylos und
Sophokles gleich weit entfernen.


Sind die Franzosen die echten Lrben althelleniscken Geistes?

die stoischen Denker folgerichtig und hochherzig zu dem neuen Gedanken der
Humanität als eines Bandes, das alle Völker als Brüder umschlingen soll! wo
aber, wie in Frankreich, die Gesellschaft dem einzelnen seine Welt bedeutet, da
droht die Gefahr, daß der jeweilige Gesellschaftswille mit dem Willen der
Menschheit verwechselt und der einsame Denker und Arbeiter erbarmungslos der
Konvention und der Mode geopfert wird.

Und ferner ein anderes. Wie alles Irrationale wird das ganz Unvergleichliche
geschichtlicher Größe, wird alles geschichiliche Werden und Sollen in seinen sitt¬
lichen Antrieben und Kräften, wie in seinen sittlichen Wirkungen verkannt und
zur natürlichen Verpflichtung herabgedrückt. Und diese beiden Irrtümer sind für
den Hellenismus wie für Frankreich zum Verhängnis geworden. Doch wie dem
immer sei. es war etwas Großes und Befreiendes um den Glauben an die Vernunft.
Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur durch eine Sammlung französischer
Gemälde zu schreiten und den Männern und Frauen verschiedener Jahrhunderte
in die Augen zu blicken: man ist erstaunt über das sieghafte und scharfsinnige
Leuchten der Augen und beginnt zu begreifen, wie es kommt, daß die Franzosen
in unseren deutschen Augen oft nichts anderes zu finden wähnen, als den Aus¬
druck der Schwermut oder des Verzichtens: l'expression ete vnZue melaneolie on
ac resiZnatiem inerte.

Und es gibt einen letzten Grundzug, der im Hellenismus einsetzt und durch
das Franzosentum hindurchführt-, eine Lebensrichtung allerdings, die sich weniger
im Denken als in der Dichtung bemerkbar macht. Das ist die Entdeckung der
Liebe zwischen Mann und Weib, als einer wichtigen Angelegenheit des bürger¬
lichen Daseins und des geistigen Werdens. Es bedürfte beidemal eigentümlicher
Zeitverhältnisse, daß diese Lebensbeziehung als weittragend und sitilich bedeutungs¬
voll, ja für den Lebensinhalt entscheidend erkannt und in den Mittelpunkt dich¬
terischer Teilnahme gestellt wurde. Was uns heilte so gewohnt, ja selbstverständ¬
lich scheint, ist doch vielen anderen Kulturen, und so der altgriechischen Zeit eines
Sokrates und Platon, fremd und ferne geblieben. Die neuere Komödie eines
Menander und der hellenistische Roman samt der Novelle, die römischen Elegiker
nach alexandrinischen Vorbild erhoben die Neigung zu einer Hetäre, seltener zur
eigenen Ehefrau, in den Kreis dessen, was eines Mannes Brust am tiefsten
bewegt. Und bei den Franzosen zunächst Südfrankreichs, an den Höfen feudaler
fürstlicher Frauen, wird im Minnesang und Minneroman eine Liebe der Huldigung
und Verehrung ins Geistige geläutert und verklärt, bis die Herrin zum Inbegriff
des Höchsten und Reinsten, ja zum Sinnbild der Gottheit schließlich emporsteigt.

Zu diesen gemeinsamen Grundzügen der Lebensanschauung und Weltauf-
fassung kommt ergänzend und bestätigend eine auffallende Übereinstimmung in den
vorherrschenden Stilnrten des künstlerischen und litercmscheu Schaffens. Bildhauer
und Baumeister, Maler und Dichter, Schriftsteller und Gelehrte haben sich jeweils
grundsätzlich einer von drei Möglichkeiten angeschlossen, die wir in Kürze als die
rhetorisch-pathetische, die witzig-skeptische und die anmutige gefällige Stilrichtung be¬
zeichnen. Zwar scheint die Mannigfaltigkeit und der Reichtum einzelner künst¬
lerischer Begabungen auf französischem Boden solche Gleichförmigkeit auszuschließen.
Und doch bleibt es wahr, daß die überwiegende Mehrzahl der Franzosen und
gerade die führenden Geister immer aufs neue eine dieser drei Stilgattungen aus¬
prägen, die in dem tiefen Grunde dauernder Gesinnung, eines wurzeln und
darum gleich einer Naturkraft mit innerer Notwendigkeit wirken. Bei alledem
läßt eine solche Grundstimmung der Neigung und Fähigkeit des einzelnen noch
Raum genug und schließt allerlei Spielarten und Mischungen keineswegs aus.
Aber darauf kommt es an, daß Hellenismus und Franzosemum aus jener drei¬
fachen Grundstiimnung der Seele, aus jenein dreifachen Lebens- und Stilgefühl
Werke von typischer Reinheit hervorgebracht haben, die sich von der „edlen Einfalt
und stillen Größe" des Parthenon und des Zeustempels in Olympia, von der
unbewegten Menschenwürde und andächtigen Gottesfurcht eines Aischylos und
Sophokles gleich weit entfernen.


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[0134] Sind die Franzosen die echten Lrben althelleniscken Geistes? die stoischen Denker folgerichtig und hochherzig zu dem neuen Gedanken der Humanität als eines Bandes, das alle Völker als Brüder umschlingen soll! wo aber, wie in Frankreich, die Gesellschaft dem einzelnen seine Welt bedeutet, da droht die Gefahr, daß der jeweilige Gesellschaftswille mit dem Willen der Menschheit verwechselt und der einsame Denker und Arbeiter erbarmungslos der Konvention und der Mode geopfert wird. Und ferner ein anderes. Wie alles Irrationale wird das ganz Unvergleichliche geschichtlicher Größe, wird alles geschichiliche Werden und Sollen in seinen sitt¬ lichen Antrieben und Kräften, wie in seinen sittlichen Wirkungen verkannt und zur natürlichen Verpflichtung herabgedrückt. Und diese beiden Irrtümer sind für den Hellenismus wie für Frankreich zum Verhängnis geworden. Doch wie dem immer sei. es war etwas Großes und Befreiendes um den Glauben an die Vernunft. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur durch eine Sammlung französischer Gemälde zu schreiten und den Männern und Frauen verschiedener Jahrhunderte in die Augen zu blicken: man ist erstaunt über das sieghafte und scharfsinnige Leuchten der Augen und beginnt zu begreifen, wie es kommt, daß die Franzosen in unseren deutschen Augen oft nichts anderes zu finden wähnen, als den Aus¬ druck der Schwermut oder des Verzichtens: l'expression ete vnZue melaneolie on ac resiZnatiem inerte. Und es gibt einen letzten Grundzug, der im Hellenismus einsetzt und durch das Franzosentum hindurchführt-, eine Lebensrichtung allerdings, die sich weniger im Denken als in der Dichtung bemerkbar macht. Das ist die Entdeckung der Liebe zwischen Mann und Weib, als einer wichtigen Angelegenheit des bürger¬ lichen Daseins und des geistigen Werdens. Es bedürfte beidemal eigentümlicher Zeitverhältnisse, daß diese Lebensbeziehung als weittragend und sitilich bedeutungs¬ voll, ja für den Lebensinhalt entscheidend erkannt und in den Mittelpunkt dich¬ terischer Teilnahme gestellt wurde. Was uns heilte so gewohnt, ja selbstverständ¬ lich scheint, ist doch vielen anderen Kulturen, und so der altgriechischen Zeit eines Sokrates und Platon, fremd und ferne geblieben. Die neuere Komödie eines Menander und der hellenistische Roman samt der Novelle, die römischen Elegiker nach alexandrinischen Vorbild erhoben die Neigung zu einer Hetäre, seltener zur eigenen Ehefrau, in den Kreis dessen, was eines Mannes Brust am tiefsten bewegt. Und bei den Franzosen zunächst Südfrankreichs, an den Höfen feudaler fürstlicher Frauen, wird im Minnesang und Minneroman eine Liebe der Huldigung und Verehrung ins Geistige geläutert und verklärt, bis die Herrin zum Inbegriff des Höchsten und Reinsten, ja zum Sinnbild der Gottheit schließlich emporsteigt. Zu diesen gemeinsamen Grundzügen der Lebensanschauung und Weltauf- fassung kommt ergänzend und bestätigend eine auffallende Übereinstimmung in den vorherrschenden Stilnrten des künstlerischen und litercmscheu Schaffens. Bildhauer und Baumeister, Maler und Dichter, Schriftsteller und Gelehrte haben sich jeweils grundsätzlich einer von drei Möglichkeiten angeschlossen, die wir in Kürze als die rhetorisch-pathetische, die witzig-skeptische und die anmutige gefällige Stilrichtung be¬ zeichnen. Zwar scheint die Mannigfaltigkeit und der Reichtum einzelner künst¬ lerischer Begabungen auf französischem Boden solche Gleichförmigkeit auszuschließen. Und doch bleibt es wahr, daß die überwiegende Mehrzahl der Franzosen und gerade die führenden Geister immer aufs neue eine dieser drei Stilgattungen aus¬ prägen, die in dem tiefen Grunde dauernder Gesinnung, eines wurzeln und darum gleich einer Naturkraft mit innerer Notwendigkeit wirken. Bei alledem läßt eine solche Grundstimmung der Neigung und Fähigkeit des einzelnen noch Raum genug und schließt allerlei Spielarten und Mischungen keineswegs aus. Aber darauf kommt es an, daß Hellenismus und Franzosemum aus jener drei¬ fachen Grundstiimnung der Seele, aus jenein dreifachen Lebens- und Stilgefühl Werke von typischer Reinheit hervorgebracht haben, die sich von der „edlen Einfalt und stillen Größe" des Parthenon und des Zeustempels in Olympia, von der unbewegten Menschenwürde und andächtigen Gottesfurcht eines Aischylos und Sophokles gleich weit entfernen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/134>, abgerufen am 23.07.2024.