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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes?

es, daß in der Kaiserzeit der rhetorisch und disputatorisch Geschulte den Geschicht¬
schreiber und den Rechtsgelehrten, den Dichter und den Staatsmann verdrängte.

In Gallien, dem Heimatland so vieler Rhetorenschulen, vollzog sich dieser
Wandel durchgreifender und nachhaltiger als irgendwo sonst. Noch Hippolyte
Taine bezeichnet als vornehmstes Merkmal französischer Geistesbildung das
-S Tr-^v, I'fre c!e Kien eure oder wie er es zu nennen liebt, la raison orawire.
Die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts in Frankreich ist ihm die Entwicklung
dieser Fähigkeit: sa litterature . . . o'est Is cisveloppement ä'une faulte reMsnte,
la rsison vratoire, et par conZequent c'est lo sommeil ach sutros. Und Taine
war ehrlich und freimütig genug, hinzuzufügen: ?c>ur vers vratour, c>n n'est pas
pnilosopne.

Ihre eigentlichste Aufgabe fand die Rhetorik in der Rede vor Gericht. So
war Cicero Anwalt und Redner im politischen Prozeß. So gilt noch heute in
Frankreich ein berühmter Anwalt als der große Mann des Tages. Man könnte
versucht sein, die innere Geschichte dieses Landes seit 1870 an der Hand der großen
politischen Prozesse zu beschreiben und verständlich zu machen. Und wie im
römischen Gallien steigt der wortgewandte Advokat in die höchsten Stellungen des
Staates auf, wird heute sogar Kriegsminister, Leiter des Flugwesens und anderer
technischer Großbetriebe, wo Fachkenntnisse uns Deutschen als erstes Erfordernis
erscheinen.

Aber auch von der Verskunst hat damals die Rhetorik in Gallien-Frankreich
für immer Besitz ergriffen. Gelegentliche Ausnahmen wirken als bloßes Zwischen¬
spiel. Zwar nicht die vorgeschriebenen Kunstmittel, die^ Tropen und Figuren,
wohl aber eine stark rhetorische Grundstimmung erfüllt sogar das Rolandslied:
das gilt vom Erzähler und mehr noch von den handelnden Personen. Ein
Abälard ist nach dem Urteil eines Kenners mehr Rhetor als Philosoph; und gar
Corneille und Bossuet, Victor Hugo und Chateaubriand sind es in solchem Maße,
daß dem deutschen Hörer und Leser alles andere daneben verkümmert scheint.

Da die Überredung sich erst mit der Widerlegung des Gegners vollendet,
gehörte gleich einem Zwillingsgeschwister zur Rhetorik die Eriftik oder Dialektik.
Sie fand als Terzine und Minncfrage an den Höfen fürstlicher Frauen schon
während des zwölften Jahrhunderts Eingang in den Minnesang und Minneroman,
wie sie als gelehrte Disputation den Theologen der Universität Paris zum Probe¬
stück ihrer Gelehrsamkeit wurde. Sie entwuchs im siebzehnten Jahrhundert der
strengen schulmäßigen Form und ließ die Unterhaltung im Salon zum geistreichen
Turnier sich erhöhen; sie adelte die feine Geselligkeit mit gebildeten Frauen zur
einzigartigen, vielbewunderten Großtat französischen Geistes.

Rhetorik und Dialektik sind Künste deS Wortes und können sich frei und
machtvoll entfalten nur bei einem Volke, das dem Worte mehr Kraft und
Wirkung zuspricht, als daß es nur ein Gedachtes benennt. Auch hierin, wenn
bisherige Beobachtungen zutreffen, scheidet sich französische Art von Althellas und
schließt sich der hellenistischen an. Wenn auch bei den skeptischen Franzosen
der religiöse Glaube an eine geheimnisvolle Zauberkraft der Namen nicht in
Betracht kommen kann, das Eine und Wesentliche ist beiden Kulturen gemeinsam,
daß der Wortklang, statt nur eine Bedeutung zu vermitteln, mit suggestiver Kraft
den Hörer und Leser in die gewollten Gedanken hineinzwingt. So werden die
Worte dem Franzosen zu lebendigen Gewalten, die leibhaftig ankämpfen im
Kampf der Geister und der Waffen. Die Reden eines Gambetta und eines
Clemenceau gewinnen Wert und Wirkung einer kriegerischen Tat und machen die
Geschichte der Nation in einer Zeit der drohendsten Gefahr.

In einem Weiteren treffen Hellenismus und Franzosentuin wieder aufs
genaueste zusammen, daß beide die Philosophie vorzugsweise oder ausschließlich
als praktische Philosophie, als Anleitung zur richtigen Lebensführung, schätzen
und pflegen. Hier wie dort erscheint es auch dem vornehmsten Denker als höchste
Aufgabe, durch eigene Arbeit oder aus dem kostbaren Erbe großer Vorgänger
eine allgemeingültige Methode zu gewinnen, ein sicheres Verfahren, wie man


Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes?

es, daß in der Kaiserzeit der rhetorisch und disputatorisch Geschulte den Geschicht¬
schreiber und den Rechtsgelehrten, den Dichter und den Staatsmann verdrängte.

In Gallien, dem Heimatland so vieler Rhetorenschulen, vollzog sich dieser
Wandel durchgreifender und nachhaltiger als irgendwo sonst. Noch Hippolyte
Taine bezeichnet als vornehmstes Merkmal französischer Geistesbildung das
-S Tr-^v, I'fre c!e Kien eure oder wie er es zu nennen liebt, la raison orawire.
Die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts in Frankreich ist ihm die Entwicklung
dieser Fähigkeit: sa litterature . . . o'est Is cisveloppement ä'une faulte reMsnte,
la rsison vratoire, et par conZequent c'est lo sommeil ach sutros. Und Taine
war ehrlich und freimütig genug, hinzuzufügen: ?c>ur vers vratour, c>n n'est pas
pnilosopne.

Ihre eigentlichste Aufgabe fand die Rhetorik in der Rede vor Gericht. So
war Cicero Anwalt und Redner im politischen Prozeß. So gilt noch heute in
Frankreich ein berühmter Anwalt als der große Mann des Tages. Man könnte
versucht sein, die innere Geschichte dieses Landes seit 1870 an der Hand der großen
politischen Prozesse zu beschreiben und verständlich zu machen. Und wie im
römischen Gallien steigt der wortgewandte Advokat in die höchsten Stellungen des
Staates auf, wird heute sogar Kriegsminister, Leiter des Flugwesens und anderer
technischer Großbetriebe, wo Fachkenntnisse uns Deutschen als erstes Erfordernis
erscheinen.

Aber auch von der Verskunst hat damals die Rhetorik in Gallien-Frankreich
für immer Besitz ergriffen. Gelegentliche Ausnahmen wirken als bloßes Zwischen¬
spiel. Zwar nicht die vorgeschriebenen Kunstmittel, die^ Tropen und Figuren,
wohl aber eine stark rhetorische Grundstimmung erfüllt sogar das Rolandslied:
das gilt vom Erzähler und mehr noch von den handelnden Personen. Ein
Abälard ist nach dem Urteil eines Kenners mehr Rhetor als Philosoph; und gar
Corneille und Bossuet, Victor Hugo und Chateaubriand sind es in solchem Maße,
daß dem deutschen Hörer und Leser alles andere daneben verkümmert scheint.

Da die Überredung sich erst mit der Widerlegung des Gegners vollendet,
gehörte gleich einem Zwillingsgeschwister zur Rhetorik die Eriftik oder Dialektik.
Sie fand als Terzine und Minncfrage an den Höfen fürstlicher Frauen schon
während des zwölften Jahrhunderts Eingang in den Minnesang und Minneroman,
wie sie als gelehrte Disputation den Theologen der Universität Paris zum Probe¬
stück ihrer Gelehrsamkeit wurde. Sie entwuchs im siebzehnten Jahrhundert der
strengen schulmäßigen Form und ließ die Unterhaltung im Salon zum geistreichen
Turnier sich erhöhen; sie adelte die feine Geselligkeit mit gebildeten Frauen zur
einzigartigen, vielbewunderten Großtat französischen Geistes.

Rhetorik und Dialektik sind Künste deS Wortes und können sich frei und
machtvoll entfalten nur bei einem Volke, das dem Worte mehr Kraft und
Wirkung zuspricht, als daß es nur ein Gedachtes benennt. Auch hierin, wenn
bisherige Beobachtungen zutreffen, scheidet sich französische Art von Althellas und
schließt sich der hellenistischen an. Wenn auch bei den skeptischen Franzosen
der religiöse Glaube an eine geheimnisvolle Zauberkraft der Namen nicht in
Betracht kommen kann, das Eine und Wesentliche ist beiden Kulturen gemeinsam,
daß der Wortklang, statt nur eine Bedeutung zu vermitteln, mit suggestiver Kraft
den Hörer und Leser in die gewollten Gedanken hineinzwingt. So werden die
Worte dem Franzosen zu lebendigen Gewalten, die leibhaftig ankämpfen im
Kampf der Geister und der Waffen. Die Reden eines Gambetta und eines
Clemenceau gewinnen Wert und Wirkung einer kriegerischen Tat und machen die
Geschichte der Nation in einer Zeit der drohendsten Gefahr.

In einem Weiteren treffen Hellenismus und Franzosentuin wieder aufs
genaueste zusammen, daß beide die Philosophie vorzugsweise oder ausschließlich
als praktische Philosophie, als Anleitung zur richtigen Lebensführung, schätzen
und pflegen. Hier wie dort erscheint es auch dem vornehmsten Denker als höchste
Aufgabe, durch eigene Arbeit oder aus dem kostbaren Erbe großer Vorgänger
eine allgemeingültige Methode zu gewinnen, ein sicheres Verfahren, wie man


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[0132] Sind die Franzosen die echten Lrben althellenischer Geistes? es, daß in der Kaiserzeit der rhetorisch und disputatorisch Geschulte den Geschicht¬ schreiber und den Rechtsgelehrten, den Dichter und den Staatsmann verdrängte. In Gallien, dem Heimatland so vieler Rhetorenschulen, vollzog sich dieser Wandel durchgreifender und nachhaltiger als irgendwo sonst. Noch Hippolyte Taine bezeichnet als vornehmstes Merkmal französischer Geistesbildung das -S Tr-^v, I'fre c!e Kien eure oder wie er es zu nennen liebt, la raison orawire. Die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts in Frankreich ist ihm die Entwicklung dieser Fähigkeit: sa litterature . . . o'est Is cisveloppement ä'une faulte reMsnte, la rsison vratoire, et par conZequent c'est lo sommeil ach sutros. Und Taine war ehrlich und freimütig genug, hinzuzufügen: ?c>ur vers vratour, c>n n'est pas pnilosopne. Ihre eigentlichste Aufgabe fand die Rhetorik in der Rede vor Gericht. So war Cicero Anwalt und Redner im politischen Prozeß. So gilt noch heute in Frankreich ein berühmter Anwalt als der große Mann des Tages. Man könnte versucht sein, die innere Geschichte dieses Landes seit 1870 an der Hand der großen politischen Prozesse zu beschreiben und verständlich zu machen. Und wie im römischen Gallien steigt der wortgewandte Advokat in die höchsten Stellungen des Staates auf, wird heute sogar Kriegsminister, Leiter des Flugwesens und anderer technischer Großbetriebe, wo Fachkenntnisse uns Deutschen als erstes Erfordernis erscheinen. Aber auch von der Verskunst hat damals die Rhetorik in Gallien-Frankreich für immer Besitz ergriffen. Gelegentliche Ausnahmen wirken als bloßes Zwischen¬ spiel. Zwar nicht die vorgeschriebenen Kunstmittel, die^ Tropen und Figuren, wohl aber eine stark rhetorische Grundstimmung erfüllt sogar das Rolandslied: das gilt vom Erzähler und mehr noch von den handelnden Personen. Ein Abälard ist nach dem Urteil eines Kenners mehr Rhetor als Philosoph; und gar Corneille und Bossuet, Victor Hugo und Chateaubriand sind es in solchem Maße, daß dem deutschen Hörer und Leser alles andere daneben verkümmert scheint. Da die Überredung sich erst mit der Widerlegung des Gegners vollendet, gehörte gleich einem Zwillingsgeschwister zur Rhetorik die Eriftik oder Dialektik. Sie fand als Terzine und Minncfrage an den Höfen fürstlicher Frauen schon während des zwölften Jahrhunderts Eingang in den Minnesang und Minneroman, wie sie als gelehrte Disputation den Theologen der Universität Paris zum Probe¬ stück ihrer Gelehrsamkeit wurde. Sie entwuchs im siebzehnten Jahrhundert der strengen schulmäßigen Form und ließ die Unterhaltung im Salon zum geistreichen Turnier sich erhöhen; sie adelte die feine Geselligkeit mit gebildeten Frauen zur einzigartigen, vielbewunderten Großtat französischen Geistes. Rhetorik und Dialektik sind Künste deS Wortes und können sich frei und machtvoll entfalten nur bei einem Volke, das dem Worte mehr Kraft und Wirkung zuspricht, als daß es nur ein Gedachtes benennt. Auch hierin, wenn bisherige Beobachtungen zutreffen, scheidet sich französische Art von Althellas und schließt sich der hellenistischen an. Wenn auch bei den skeptischen Franzosen der religiöse Glaube an eine geheimnisvolle Zauberkraft der Namen nicht in Betracht kommen kann, das Eine und Wesentliche ist beiden Kulturen gemeinsam, daß der Wortklang, statt nur eine Bedeutung zu vermitteln, mit suggestiver Kraft den Hörer und Leser in die gewollten Gedanken hineinzwingt. So werden die Worte dem Franzosen zu lebendigen Gewalten, die leibhaftig ankämpfen im Kampf der Geister und der Waffen. Die Reden eines Gambetta und eines Clemenceau gewinnen Wert und Wirkung einer kriegerischen Tat und machen die Geschichte der Nation in einer Zeit der drohendsten Gefahr. In einem Weiteren treffen Hellenismus und Franzosentuin wieder aufs genaueste zusammen, daß beide die Philosophie vorzugsweise oder ausschließlich als praktische Philosophie, als Anleitung zur richtigen Lebensführung, schätzen und pflegen. Hier wie dort erscheint es auch dem vornehmsten Denker als höchste Aufgabe, durch eigene Arbeit oder aus dem kostbaren Erbe großer Vorgänger eine allgemeingültige Methode zu gewinnen, ein sicheres Verfahren, wie man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/132>, abgerufen am 23.07.2024.