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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Sind die Franzosen die echten Erben althellenischer Geistes?

Diese dauernde Sachlage läßt sich schon äußerlich an der Reihenfolge er¬
messen, in der die Autoren des griechisch-römischen Altertums in Frankreich der
allgemeinen Geistesbildung zugeführt wurden. Vergil, Ovid und Terenz las man
schon in den Nonnenklöstern des Mittelalters. Als dann in der ersten Hälfte des
sechzehnten Jahrhunderts Ausgaben und Übersetzungen in Menge durch den Druck
verbreitet wurden, da wirkte kein griechischer Dichter so tief, wie die meist aus
Byzanz stammende Sammlung anakreontischer Lieder; und kein Philosoph war so
begehrt, wie Plutarch,, in Amyots berühmter Bearbeitung. Von Platon erschien
als erste vollständige Übertragung die von Victor Cousin seit 1821, von Homer
als erste künstlerische Nachbildung die des Dichters Leconte de Liste, 1866--67.
Von Anfang bis heute mußte Theokrit gegen Vergil, den Jdyllendichter, zurück¬
treten, Sophokles gegen Seneka, Pindar gegen Ovid, der Poetiker Aristoteles
gegen Horaz, Platon gegen Cicero, und der wenig beachtete Aristophanes gegen
Plautus und Terenz. Als der Rektor der Universität Paris, Charles Rollin, den
jungen Theologen das Lesen griechischer Urtexte anempfahl, nannte er ihnen mit
anderen Lukian und Plutarch, Demosthenes und "einige Gesänge Homers", aber
er verschwieg ihnen die Tragiker und Aristophanes. Pindar, Platon und sogar
Aristoteles, um dessen zuverlässigen Text sich zwar die Araber, nicht aber scholastische
Theologen, noch die Humanisten gekümmert hatten.

An keiner anderen Stelle kommen wir den Quellen französischer Wesensart
so nahe, wie wenn wir die grundsätzliche Streitfrage aufsuchen, in der sich der
Hellenismus und alles, was von ihm abstammt, sür immer von Althellas ge-
schieden hat. Es ist der uralte, nie endende, weil tief im Menschen begründete
Kampf zwischen Rhetorik und Philosophie, zwischen zweckvoller Rede und freier
Forschung, die ganz nur der Sache dient und dienen will. Es ist im Grunde
die Frage, an der sich heute und überall die Geister scheiden: was soll überhaupt
die Arbeit des menschlichen Geistes? Soll sie der Lebenserhaltung dienen als
bloße Fertigkeit, als Mittel zum Zweck? Oder trägt sie Würde und Wert in sich
selber, und hat das tätige Leben sich ihr zu fügen und von ihr erst Richtung und
Weg zu erwarten? Wer soll jetzt und künftig Recht behalten, Pythagoras oder
Sokrates, Gorgias oder Platon, Jsokrcites oder Aristoteles, Rhetorik oder Philo¬
sophie, ckiLore oder Sayers?

Mit unermüdlicher Geduld hatte Sokrates von Sophisten und Rhetoren
Sachkunde und Fachkenntnisse gefordert. Aus der Welt des Geistigen hatte Platon
eine unendliche Wissenschaft vorahnend ergriffen. Mit dem schärfsten Blick für
Gleiches und Ungleiches hatte Aristoteles den Sachzusammenhang der Einzel¬
wissenschaften festgelegt.

Er wies die Rhetorik aus der Philosophie hinaus und brachte sie an ihre
richtige Stelle im Lehrplan seines Unterrichts. Auch ihre Ergänzung, die Eristik
oder Dialektik, erhob er zur Wissenschaft, indem er sie als Logik oder Lehre von
den Syllogismen auf ihren Wahrheitsgehalt untersuchte. Beide Unterrichtsgegen-
stände waren ihm aber keine Wissenschaften, sondern bloße Fertigkeiten, nicht
iTno^^, sondern Siloah^, da sie nicht sachliche, sondern formale Kenntnisse, kein
Wissen, sondern ein bloßes Meinen vermitteln.

Aristotelische Sachlichkeit hatte gesiegt. Der Rhetor war geschlagen. Für
etwa hundert Jahre mußte er hinter dem Philosophen zurückbleiben und ihm die
Erziehung der Jugend überlassen, bis gegen Ende des dritten Jahrhunderts
vor Christus Rhetorik und Eristik sich wieder vordrängten. Erst als im zweiten
Jahrhundert die beiden alten Gegner im Wettbewerb den Beifall und Lohn des
weltbeherrschenden Römers suchten, da fiel die Entscheidung. Und sie konnte nicht
anders fallen, als von diesem weltklugen Herrenvolk zu erwarten war. Sogar
Cicero, der Schüler der athenischen Akademie, ordnete die Philosophie, d. h. die
sachliche Forschung, ebenso grundsätzlich der Rhetorik unter, wie einst der Gründer
der Akademie die Rhetorik im Dialog Phaidros zur Helferin der Philosophie
herabgedrückt hatte. Auch hier galt der Satz: Koma locmta ost. So geschah


Sind die Franzosen die echten Erben althellenischer Geistes?

Diese dauernde Sachlage läßt sich schon äußerlich an der Reihenfolge er¬
messen, in der die Autoren des griechisch-römischen Altertums in Frankreich der
allgemeinen Geistesbildung zugeführt wurden. Vergil, Ovid und Terenz las man
schon in den Nonnenklöstern des Mittelalters. Als dann in der ersten Hälfte des
sechzehnten Jahrhunderts Ausgaben und Übersetzungen in Menge durch den Druck
verbreitet wurden, da wirkte kein griechischer Dichter so tief, wie die meist aus
Byzanz stammende Sammlung anakreontischer Lieder; und kein Philosoph war so
begehrt, wie Plutarch,, in Amyots berühmter Bearbeitung. Von Platon erschien
als erste vollständige Übertragung die von Victor Cousin seit 1821, von Homer
als erste künstlerische Nachbildung die des Dichters Leconte de Liste, 1866—67.
Von Anfang bis heute mußte Theokrit gegen Vergil, den Jdyllendichter, zurück¬
treten, Sophokles gegen Seneka, Pindar gegen Ovid, der Poetiker Aristoteles
gegen Horaz, Platon gegen Cicero, und der wenig beachtete Aristophanes gegen
Plautus und Terenz. Als der Rektor der Universität Paris, Charles Rollin, den
jungen Theologen das Lesen griechischer Urtexte anempfahl, nannte er ihnen mit
anderen Lukian und Plutarch, Demosthenes und „einige Gesänge Homers", aber
er verschwieg ihnen die Tragiker und Aristophanes. Pindar, Platon und sogar
Aristoteles, um dessen zuverlässigen Text sich zwar die Araber, nicht aber scholastische
Theologen, noch die Humanisten gekümmert hatten.

An keiner anderen Stelle kommen wir den Quellen französischer Wesensart
so nahe, wie wenn wir die grundsätzliche Streitfrage aufsuchen, in der sich der
Hellenismus und alles, was von ihm abstammt, sür immer von Althellas ge-
schieden hat. Es ist der uralte, nie endende, weil tief im Menschen begründete
Kampf zwischen Rhetorik und Philosophie, zwischen zweckvoller Rede und freier
Forschung, die ganz nur der Sache dient und dienen will. Es ist im Grunde
die Frage, an der sich heute und überall die Geister scheiden: was soll überhaupt
die Arbeit des menschlichen Geistes? Soll sie der Lebenserhaltung dienen als
bloße Fertigkeit, als Mittel zum Zweck? Oder trägt sie Würde und Wert in sich
selber, und hat das tätige Leben sich ihr zu fügen und von ihr erst Richtung und
Weg zu erwarten? Wer soll jetzt und künftig Recht behalten, Pythagoras oder
Sokrates, Gorgias oder Platon, Jsokrcites oder Aristoteles, Rhetorik oder Philo¬
sophie, ckiLore oder Sayers?

Mit unermüdlicher Geduld hatte Sokrates von Sophisten und Rhetoren
Sachkunde und Fachkenntnisse gefordert. Aus der Welt des Geistigen hatte Platon
eine unendliche Wissenschaft vorahnend ergriffen. Mit dem schärfsten Blick für
Gleiches und Ungleiches hatte Aristoteles den Sachzusammenhang der Einzel¬
wissenschaften festgelegt.

Er wies die Rhetorik aus der Philosophie hinaus und brachte sie an ihre
richtige Stelle im Lehrplan seines Unterrichts. Auch ihre Ergänzung, die Eristik
oder Dialektik, erhob er zur Wissenschaft, indem er sie als Logik oder Lehre von
den Syllogismen auf ihren Wahrheitsgehalt untersuchte. Beide Unterrichtsgegen-
stände waren ihm aber keine Wissenschaften, sondern bloße Fertigkeiten, nicht
iTno^^, sondern Siloah^, da sie nicht sachliche, sondern formale Kenntnisse, kein
Wissen, sondern ein bloßes Meinen vermitteln.

Aristotelische Sachlichkeit hatte gesiegt. Der Rhetor war geschlagen. Für
etwa hundert Jahre mußte er hinter dem Philosophen zurückbleiben und ihm die
Erziehung der Jugend überlassen, bis gegen Ende des dritten Jahrhunderts
vor Christus Rhetorik und Eristik sich wieder vordrängten. Erst als im zweiten
Jahrhundert die beiden alten Gegner im Wettbewerb den Beifall und Lohn des
weltbeherrschenden Römers suchten, da fiel die Entscheidung. Und sie konnte nicht
anders fallen, als von diesem weltklugen Herrenvolk zu erwarten war. Sogar
Cicero, der Schüler der athenischen Akademie, ordnete die Philosophie, d. h. die
sachliche Forschung, ebenso grundsätzlich der Rhetorik unter, wie einst der Gründer
der Akademie die Rhetorik im Dialog Phaidros zur Helferin der Philosophie
herabgedrückt hatte. Auch hier galt der Satz: Koma locmta ost. So geschah


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[0131] Sind die Franzosen die echten Erben althellenischer Geistes? Diese dauernde Sachlage läßt sich schon äußerlich an der Reihenfolge er¬ messen, in der die Autoren des griechisch-römischen Altertums in Frankreich der allgemeinen Geistesbildung zugeführt wurden. Vergil, Ovid und Terenz las man schon in den Nonnenklöstern des Mittelalters. Als dann in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts Ausgaben und Übersetzungen in Menge durch den Druck verbreitet wurden, da wirkte kein griechischer Dichter so tief, wie die meist aus Byzanz stammende Sammlung anakreontischer Lieder; und kein Philosoph war so begehrt, wie Plutarch,, in Amyots berühmter Bearbeitung. Von Platon erschien als erste vollständige Übertragung die von Victor Cousin seit 1821, von Homer als erste künstlerische Nachbildung die des Dichters Leconte de Liste, 1866—67. Von Anfang bis heute mußte Theokrit gegen Vergil, den Jdyllendichter, zurück¬ treten, Sophokles gegen Seneka, Pindar gegen Ovid, der Poetiker Aristoteles gegen Horaz, Platon gegen Cicero, und der wenig beachtete Aristophanes gegen Plautus und Terenz. Als der Rektor der Universität Paris, Charles Rollin, den jungen Theologen das Lesen griechischer Urtexte anempfahl, nannte er ihnen mit anderen Lukian und Plutarch, Demosthenes und „einige Gesänge Homers", aber er verschwieg ihnen die Tragiker und Aristophanes. Pindar, Platon und sogar Aristoteles, um dessen zuverlässigen Text sich zwar die Araber, nicht aber scholastische Theologen, noch die Humanisten gekümmert hatten. An keiner anderen Stelle kommen wir den Quellen französischer Wesensart so nahe, wie wenn wir die grundsätzliche Streitfrage aufsuchen, in der sich der Hellenismus und alles, was von ihm abstammt, sür immer von Althellas ge- schieden hat. Es ist der uralte, nie endende, weil tief im Menschen begründete Kampf zwischen Rhetorik und Philosophie, zwischen zweckvoller Rede und freier Forschung, die ganz nur der Sache dient und dienen will. Es ist im Grunde die Frage, an der sich heute und überall die Geister scheiden: was soll überhaupt die Arbeit des menschlichen Geistes? Soll sie der Lebenserhaltung dienen als bloße Fertigkeit, als Mittel zum Zweck? Oder trägt sie Würde und Wert in sich selber, und hat das tätige Leben sich ihr zu fügen und von ihr erst Richtung und Weg zu erwarten? Wer soll jetzt und künftig Recht behalten, Pythagoras oder Sokrates, Gorgias oder Platon, Jsokrcites oder Aristoteles, Rhetorik oder Philo¬ sophie, ckiLore oder Sayers? Mit unermüdlicher Geduld hatte Sokrates von Sophisten und Rhetoren Sachkunde und Fachkenntnisse gefordert. Aus der Welt des Geistigen hatte Platon eine unendliche Wissenschaft vorahnend ergriffen. Mit dem schärfsten Blick für Gleiches und Ungleiches hatte Aristoteles den Sachzusammenhang der Einzel¬ wissenschaften festgelegt. Er wies die Rhetorik aus der Philosophie hinaus und brachte sie an ihre richtige Stelle im Lehrplan seines Unterrichts. Auch ihre Ergänzung, die Eristik oder Dialektik, erhob er zur Wissenschaft, indem er sie als Logik oder Lehre von den Syllogismen auf ihren Wahrheitsgehalt untersuchte. Beide Unterrichtsgegen- stände waren ihm aber keine Wissenschaften, sondern bloße Fertigkeiten, nicht iTno^^, sondern Siloah^, da sie nicht sachliche, sondern formale Kenntnisse, kein Wissen, sondern ein bloßes Meinen vermitteln. Aristotelische Sachlichkeit hatte gesiegt. Der Rhetor war geschlagen. Für etwa hundert Jahre mußte er hinter dem Philosophen zurückbleiben und ihm die Erziehung der Jugend überlassen, bis gegen Ende des dritten Jahrhunderts vor Christus Rhetorik und Eristik sich wieder vordrängten. Erst als im zweiten Jahrhundert die beiden alten Gegner im Wettbewerb den Beifall und Lohn des weltbeherrschenden Römers suchten, da fiel die Entscheidung. Und sie konnte nicht anders fallen, als von diesem weltklugen Herrenvolk zu erwarten war. Sogar Cicero, der Schüler der athenischen Akademie, ordnete die Philosophie, d. h. die sachliche Forschung, ebenso grundsätzlich der Rhetorik unter, wie einst der Gründer der Akademie die Rhetorik im Dialog Phaidros zur Helferin der Philosophie herabgedrückt hatte. Auch hier galt der Satz: Koma locmta ost. So geschah

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/131>, abgerufen am 23.07.2024.