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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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möglich, wenn außer der Gewähr voller
Freiheit in der Ausübung des Volksstimm¬
rechtes auch von vornherein volle Klar¬
heit über drei Hauptfragen durch völkerrecht¬
lichen Vertrag gesichert wird: Wer soll stimm¬
berechtigt sein? Welches Stimmverhältnis soll
entscheidend sein? Wie soll gestimmt werden
direkt oder indirekt?

Die erste Frage kann nicht so gelöst wer¬
den wie beim Volksstimmrecht im inneren
Staatsrecht. Eine Beschränkung auf einen
relativ so kleinen Personenkreis, wie ihn die
Wahlberechtigten zur Volksvertretung vielfach
darstellen, würde der Tendenz des Plebiszits,
die Stimme des Volkes selbst zu hören, wider¬
sprechen. Auch da, wo das allgemeine, gleiche
Wahlrecht gilt, muß über diesen staatsrecht¬
lichen Kreis hinaus noch ein weiterer "kon¬
zentrischer" Kreis gezogen werden, in dein
für Frauen, Arme und Minderjährige Raum
ist. Die zweite Frage darf ebenfalls nicht
schemntisch nach dem im inneren Staatsrecht
regelmäßig maßgebenden Prinzip der ein¬
fachen Majorität behandelt werden. Kann
auch andererseits nicht Einstimmigkeit" ge¬
fordert werden, so muß doch eine "über¬
wältigende" Mehrheit Voraussetzung einer der¬
artig gewaltigen Veränderung sein, wie sie
der Übergang eines ganzen Volkes in einen
anderen Staatsverband bedeutet. Das Pro¬
blem wird noch verwickelter, wenn nicht das
ganze bisherige Gebiet des abstimmenden
Volkes als Einheit behandelt, sondern bczirks-
odcr gemeindeweise gestimmt wird. Die dritte
Frage ist, ob direkt gestimmt werden soll (wie
bei den "UrWahlen" im inneren Staatsrecht)
oder indirekt durch repräsentive Körperschaften
der Landesbevölkerung -- Gemeinde-, Bezirks¬
oder Landesparlamcnte. Und auchchier wird
die Frage der Ermittlung der wahren Volks¬
stimmung noch schwieriger, wenn derartige
Körperschaften noch gar nicht vorhanden sind
und es zweifelhaft ist, wie und von wem sie
aus dem bisherigen "Chaos" geschaffen wer¬
den, oder sozusagen durch "Urzeugung" ent¬
stehen können.

Alle diese Schwierigkeiten haben viele
Völkerrechtslehrer zu dem Schlüsse geführt,
daß infolge der "Wertlosigkeit des Abstim¬
mungsergebnisses" die Volksabstimmungen
"aufgehört haben, ein brauchbares Institut

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des Völkerrechts" zu sein (so Holtzendorff,
Stoerk, Lasson u. a. in., während von der
älteren Schule Bluntschli warm für sie ein¬
trat). Aber dieselben Schwierigkeiten be¬
gegnen uns auch auf dem Gebiete des inner¬
staatlichen Wahlrechtes. Und doch bleibt dieses
unbestritten ein nicht nur brauchbares, son¬
dern notwendiges Rechtsinstitut. Gerade bei
staatsrechtlichen Problemen und Bedenken läßt
sich nur zu oft ("ut so auch im vorliegenden
Falle) ein bekanntes Dichterwort in umge¬
kehrtem Sinne anwenden: "Leicht beieinander
wohnen die -- Tatsachen, doch hart im Geiste '
stoßen sich die -- Begriffe". Und so wird
auch hier die Praxis des Völkerrechtes als
möglich erweisen, was die Theorie als "un¬
möglich" oder unbrauchbar erklärte und durch
den Ausbau eines sorgfältig und gerecht durch¬
geführten Systems, wahrer Rechtsnormen
zeigen, daß das Volksstimmrecht im Völker¬
recht derselben funktionellen Sicherheit fähig
ist, wie das Volksstimmrecht im Staatsrecht.

I)r. M. de Jorge
Die Politik der Offenen Tür und der

Weltkriczi.

Wer die deutsche Weltpolitik vor
dem Kriege mit einem kurzen und treffenden
Schlagworte charakterisieren wollte, bezeichnete
sie am besten als die Politik der Offenen Tür.
So Pflegte sie sich auch selbst zu bezeichnen.
Seitdem Fürst Bülow zu Beginn der neuen
Weltpolitik das Wort von dem deutschen An¬
spruch auf einen Platz an der Sonne ge¬
sprochen hatte, wurden die amtlichen Stellen
nicht müde, das Streben nach der Offenen
Tür als das Wesen deutscher Wellpolitik zu
verkünden. Nicht minder waren Publizistik
und Wissenschaft Jahr für Jahr eifrig bemüht,
dies Wesen nach allen Seiten nicht nur zu
schildern, sondern auch zu rechtfertigen. Diese
ständige und ausgiebige öffentliche Erörterung
in Verbindung mit der praktischen Durch¬
führung dieser Politik hat sie bald zu einer
so allgemein bekannten Weltgröße gemacht,
daß sich eine nähere Beschreibung noch heute
erübrigt.

Der Ausdehnung der deutschen Wirtschaft
in aller Welt sollte die Tür offen gehalten
und wenn nötig neu geöffnet werden. Von
Anfang an war das Ziel dieser Politik in
erster Linie Ausdehnung des deutschen wirt¬
schaftlichen Einflusses, erst in zweiter Linie

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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möglich, wenn außer der Gewähr voller
Freiheit in der Ausübung des Volksstimm¬
rechtes auch von vornherein volle Klar¬
heit über drei Hauptfragen durch völkerrecht¬
lichen Vertrag gesichert wird: Wer soll stimm¬
berechtigt sein? Welches Stimmverhältnis soll
entscheidend sein? Wie soll gestimmt werden
direkt oder indirekt?

Die erste Frage kann nicht so gelöst wer¬
den wie beim Volksstimmrecht im inneren
Staatsrecht. Eine Beschränkung auf einen
relativ so kleinen Personenkreis, wie ihn die
Wahlberechtigten zur Volksvertretung vielfach
darstellen, würde der Tendenz des Plebiszits,
die Stimme des Volkes selbst zu hören, wider¬
sprechen. Auch da, wo das allgemeine, gleiche
Wahlrecht gilt, muß über diesen staatsrecht¬
lichen Kreis hinaus noch ein weiterer „kon¬
zentrischer" Kreis gezogen werden, in dein
für Frauen, Arme und Minderjährige Raum
ist. Die zweite Frage darf ebenfalls nicht
schemntisch nach dem im inneren Staatsrecht
regelmäßig maßgebenden Prinzip der ein¬
fachen Majorität behandelt werden. Kann
auch andererseits nicht Einstimmigkeit» ge¬
fordert werden, so muß doch eine „über¬
wältigende" Mehrheit Voraussetzung einer der¬
artig gewaltigen Veränderung sein, wie sie
der Übergang eines ganzen Volkes in einen
anderen Staatsverband bedeutet. Das Pro¬
blem wird noch verwickelter, wenn nicht das
ganze bisherige Gebiet des abstimmenden
Volkes als Einheit behandelt, sondern bczirks-
odcr gemeindeweise gestimmt wird. Die dritte
Frage ist, ob direkt gestimmt werden soll (wie
bei den „UrWahlen" im inneren Staatsrecht)
oder indirekt durch repräsentive Körperschaften
der Landesbevölkerung — Gemeinde-, Bezirks¬
oder Landesparlamcnte. Und auchchier wird
die Frage der Ermittlung der wahren Volks¬
stimmung noch schwieriger, wenn derartige
Körperschaften noch gar nicht vorhanden sind
und es zweifelhaft ist, wie und von wem sie
aus dem bisherigen „Chaos" geschaffen wer¬
den, oder sozusagen durch „Urzeugung" ent¬
stehen können.

Alle diese Schwierigkeiten haben viele
Völkerrechtslehrer zu dem Schlüsse geführt,
daß infolge der „Wertlosigkeit des Abstim¬
mungsergebnisses" die Volksabstimmungen
„aufgehört haben, ein brauchbares Institut

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des Völkerrechts" zu sein (so Holtzendorff,
Stoerk, Lasson u. a. in., während von der
älteren Schule Bluntschli warm für sie ein¬
trat). Aber dieselben Schwierigkeiten be¬
gegnen uns auch auf dem Gebiete des inner¬
staatlichen Wahlrechtes. Und doch bleibt dieses
unbestritten ein nicht nur brauchbares, son¬
dern notwendiges Rechtsinstitut. Gerade bei
staatsrechtlichen Problemen und Bedenken läßt
sich nur zu oft (»ut so auch im vorliegenden
Falle) ein bekanntes Dichterwort in umge¬
kehrtem Sinne anwenden: „Leicht beieinander
wohnen die — Tatsachen, doch hart im Geiste '
stoßen sich die — Begriffe". Und so wird
auch hier die Praxis des Völkerrechtes als
möglich erweisen, was die Theorie als „un¬
möglich" oder unbrauchbar erklärte und durch
den Ausbau eines sorgfältig und gerecht durch¬
geführten Systems, wahrer Rechtsnormen
zeigen, daß das Volksstimmrecht im Völker¬
recht derselben funktionellen Sicherheit fähig
ist, wie das Volksstimmrecht im Staatsrecht.

I)r. M. de Jorge
Die Politik der Offenen Tür und der

Weltkriczi.

Wer die deutsche Weltpolitik vor
dem Kriege mit einem kurzen und treffenden
Schlagworte charakterisieren wollte, bezeichnete
sie am besten als die Politik der Offenen Tür.
So Pflegte sie sich auch selbst zu bezeichnen.
Seitdem Fürst Bülow zu Beginn der neuen
Weltpolitik das Wort von dem deutschen An¬
spruch auf einen Platz an der Sonne ge¬
sprochen hatte, wurden die amtlichen Stellen
nicht müde, das Streben nach der Offenen
Tür als das Wesen deutscher Wellpolitik zu
verkünden. Nicht minder waren Publizistik
und Wissenschaft Jahr für Jahr eifrig bemüht,
dies Wesen nach allen Seiten nicht nur zu
schildern, sondern auch zu rechtfertigen. Diese
ständige und ausgiebige öffentliche Erörterung
in Verbindung mit der praktischen Durch¬
führung dieser Politik hat sie bald zu einer
so allgemein bekannten Weltgröße gemacht,
daß sich eine nähere Beschreibung noch heute
erübrigt.

Der Ausdehnung der deutschen Wirtschaft
in aller Welt sollte die Tür offen gehalten
und wenn nötig neu geöffnet werden. Von
Anfang an war das Ziel dieser Politik in
erster Linie Ausdehnung des deutschen wirt¬
schaftlichen Einflusses, erst in zweiter Linie

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[0114] Maßgebliches und Unmaßgebliches möglich, wenn außer der Gewähr voller Freiheit in der Ausübung des Volksstimm¬ rechtes auch von vornherein volle Klar¬ heit über drei Hauptfragen durch völkerrecht¬ lichen Vertrag gesichert wird: Wer soll stimm¬ berechtigt sein? Welches Stimmverhältnis soll entscheidend sein? Wie soll gestimmt werden direkt oder indirekt? Die erste Frage kann nicht so gelöst wer¬ den wie beim Volksstimmrecht im inneren Staatsrecht. Eine Beschränkung auf einen relativ so kleinen Personenkreis, wie ihn die Wahlberechtigten zur Volksvertretung vielfach darstellen, würde der Tendenz des Plebiszits, die Stimme des Volkes selbst zu hören, wider¬ sprechen. Auch da, wo das allgemeine, gleiche Wahlrecht gilt, muß über diesen staatsrecht¬ lichen Kreis hinaus noch ein weiterer „kon¬ zentrischer" Kreis gezogen werden, in dein für Frauen, Arme und Minderjährige Raum ist. Die zweite Frage darf ebenfalls nicht schemntisch nach dem im inneren Staatsrecht regelmäßig maßgebenden Prinzip der ein¬ fachen Majorität behandelt werden. Kann auch andererseits nicht Einstimmigkeit» ge¬ fordert werden, so muß doch eine „über¬ wältigende" Mehrheit Voraussetzung einer der¬ artig gewaltigen Veränderung sein, wie sie der Übergang eines ganzen Volkes in einen anderen Staatsverband bedeutet. Das Pro¬ blem wird noch verwickelter, wenn nicht das ganze bisherige Gebiet des abstimmenden Volkes als Einheit behandelt, sondern bczirks- odcr gemeindeweise gestimmt wird. Die dritte Frage ist, ob direkt gestimmt werden soll (wie bei den „UrWahlen" im inneren Staatsrecht) oder indirekt durch repräsentive Körperschaften der Landesbevölkerung — Gemeinde-, Bezirks¬ oder Landesparlamcnte. Und auchchier wird die Frage der Ermittlung der wahren Volks¬ stimmung noch schwieriger, wenn derartige Körperschaften noch gar nicht vorhanden sind und es zweifelhaft ist, wie und von wem sie aus dem bisherigen „Chaos" geschaffen wer¬ den, oder sozusagen durch „Urzeugung" ent¬ stehen können. Alle diese Schwierigkeiten haben viele Völkerrechtslehrer zu dem Schlüsse geführt, daß infolge der „Wertlosigkeit des Abstim¬ mungsergebnisses" die Volksabstimmungen „aufgehört haben, ein brauchbares Institut des Völkerrechts" zu sein (so Holtzendorff, Stoerk, Lasson u. a. in., während von der älteren Schule Bluntschli warm für sie ein¬ trat). Aber dieselben Schwierigkeiten be¬ gegnen uns auch auf dem Gebiete des inner¬ staatlichen Wahlrechtes. Und doch bleibt dieses unbestritten ein nicht nur brauchbares, son¬ dern notwendiges Rechtsinstitut. Gerade bei staatsrechtlichen Problemen und Bedenken läßt sich nur zu oft (»ut so auch im vorliegenden Falle) ein bekanntes Dichterwort in umge¬ kehrtem Sinne anwenden: „Leicht beieinander wohnen die — Tatsachen, doch hart im Geiste ' stoßen sich die — Begriffe". Und so wird auch hier die Praxis des Völkerrechtes als möglich erweisen, was die Theorie als „un¬ möglich" oder unbrauchbar erklärte und durch den Ausbau eines sorgfältig und gerecht durch¬ geführten Systems, wahrer Rechtsnormen zeigen, daß das Volksstimmrecht im Völker¬ recht derselben funktionellen Sicherheit fähig ist, wie das Volksstimmrecht im Staatsrecht. I)r. M. de Jorge Die Politik der Offenen Tür und der Weltkriczi. Wer die deutsche Weltpolitik vor dem Kriege mit einem kurzen und treffenden Schlagworte charakterisieren wollte, bezeichnete sie am besten als die Politik der Offenen Tür. So Pflegte sie sich auch selbst zu bezeichnen. Seitdem Fürst Bülow zu Beginn der neuen Weltpolitik das Wort von dem deutschen An¬ spruch auf einen Platz an der Sonne ge¬ sprochen hatte, wurden die amtlichen Stellen nicht müde, das Streben nach der Offenen Tür als das Wesen deutscher Wellpolitik zu verkünden. Nicht minder waren Publizistik und Wissenschaft Jahr für Jahr eifrig bemüht, dies Wesen nach allen Seiten nicht nur zu schildern, sondern auch zu rechtfertigen. Diese ständige und ausgiebige öffentliche Erörterung in Verbindung mit der praktischen Durch¬ führung dieser Politik hat sie bald zu einer so allgemein bekannten Weltgröße gemacht, daß sich eine nähere Beschreibung noch heute erübrigt. Der Ausdehnung der deutschen Wirtschaft in aller Welt sollte die Tür offen gehalten und wenn nötig neu geöffnet werden. Von Anfang an war das Ziel dieser Politik in erster Linie Ausdehnung des deutschen wirt¬ schaftlichen Einflusses, erst in zweiter Linie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/114>, abgerufen am 23.07.2024.