Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.Belgien als Faustpfand reichen. Denn die Engländer wissen recht gut, daß wir an eine Annexion aus Belgien als Faustpfand reichen. Denn die Engländer wissen recht gut, daß wir an eine Annexion aus <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333175"/> <fw type="header" place="top"> Belgien als Faustpfand</fw><lb/> <p xml:id="ID_251" prev="#ID_250" next="#ID_252"> reichen. Denn die Engländer wissen recht gut, daß wir an eine Annexion aus<lb/> innerpolitischen und innerbelgischen Gründen ohnehin kaum denken können. Sie<lb/> werden den Verzicht auf unsere flandrische Flottenbasis verlangen. Das wäre<lb/> in der Tat ein so großes Zugeständnis, daß wir dafür auf jeden Fall die Ein¬<lb/> räumung eines großen afrikanischen Kolonialreiches fordern können. Nach Vor¬<lb/> schlägen, die in den „Grenzboten" gemacht worden sind (1917, Ur. 42; vgl. dazu<lb/> meinen Aussatz in Ur. 46), kann Belgien für uns ein erträglicher Nachbar werden,<lb/> wenn es auf einer Grundlage neutralisiert wird, die jede Machtentfaltung uns<lb/> gegenüber ausschließt. Ein Belgien, das in der Lage bliebe, als militärisch-<lb/> politischer Machtfaktor gegen uns aufzutreten, wäre eine so große Gefahr für<lb/> uns, daß kein kolonialer Erwerb derartige Zugeständnisse rechtfertigen könnte.<lb/> Nur ein Belgien, das auf Heer und Kolonien verzichtet, das dem deutschen Handel<lb/> offen steht und dem Flamentum seine Selbständigkeit verbürgt, können wir militärisch<lb/> räumen. Wir können warten, bis England unter diesen Bedingungen bereit ist.<lb/> uns ein neues Kolonialreich zu überlassen. Es ist nicht nötig, daß dieses genau<lb/> dem alten entspricht. Wünschenswert ist vielmehr, daß es fester in sich geschlossen<lb/> und besser verteidigungsfähig ist. als das alte. Wir brauchen nicht Haus-m¬<lb/> allen-Gassen zu sein. Wo die Engländer und Amerikaner, die Franzosen oder<lb/> die Japaner ihre natürlichen Expansionsgebiete haben, da brauchen wir uns nicht<lb/> gerade dazwischenzusetzen. Mit Recht fordert Paul Leutwein in seiner Broschüre<lb/> „Mitteleuropa—Mittelafrika" (Dresden und Leipzig, „Globus" 1917) die Be¬<lb/> schränkung unseres Kolonialreiches im wesentlichen auf den schwarzen Erdteil,<lb/> wo Ostafrika und Kamerun durch bisher belgisches oder portugiesisches Gebiet<lb/> verbunden und abgerundet den Grundstock bilden können. Hier können wir er¬<lb/> zeugen, was Mesopotamien und Anatolien, auch wenn sie einst völlig erschlossen<lb/> sein werden, nicht liefern können. Wenn man so die türkischen Zukunftsaussichten<lb/> mit mittelafrikanischen verbindet, dürfte auch Dr. Karstedt, der in Ur. 60 der<lb/> „Grenzboten" (1917) in einem interessanten Aufsatz jene skeptisch beurteilt, dem<lb/> „kontinentalen" Programm deutscher Weltpolitik, das dem „kolonialen" gar nicht<lb/> schroff zu widersprechen braucht, etwas vertrauensvoller gegenübertreten. Für mich<lb/> ist es allerdings zweifellos, daß die wichtigsten Kriegsziele in Europa liegen und<lb/> daß die Schaffung einer möglichst in sich geschlossenen und unangreifbaren „kon¬<lb/> tinentalen" Basis wichtiger ist, als der Erwerb überseeischer Rohstoffgebiete, deren<lb/> Bedeutung an sich keineswegs verkleinert werden soll. Die deutsche wirtschaft¬<lb/> liche Expansion darf nicht auf den atlantischen Seeweg angewiesen bleiben, den<lb/> England und Amerika sperren können. Und Deutschland darf nicht in aller Welt<lb/> wirtschaftliche Positionen suchen, die es in unnötige Reibungen mit anderen<lb/> Weltmächten oder ungeeigneten Eingeborenen bringen, weil wir mit der politischen<lb/> und wirtschaftlichen Ordnung Mitteleuropas und dem Austausch mit dem Orient<lb/> und Rußland genug zu tun haben werden. Eine große Tropenkolonie brauchen<lb/> wir. Aber sonst dürfen wir unsere Kräfte nicht an Aufgaben verschwenden, die<lb/> dem eigentlichen Bereich unserer Kulturarbeit zu fern liegen. Karstedt hat mit<lb/> Recht Bedenken gegen einen etwa erneuten Versuch, eine deutsche Herrschaft über<lb/> Marokko anzutreten (a. a. O. S. 287). Vor dem Kriege hatten wir zu wenig<lb/> Raum für unsere natürliche Expansion. Wir waren in Europa eingeengt. Darum<lb/> suchten wir in aller Welt durch friedlichen Wettbewerb wirtschaftlich voranzu-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0078]
Belgien als Faustpfand
reichen. Denn die Engländer wissen recht gut, daß wir an eine Annexion aus
innerpolitischen und innerbelgischen Gründen ohnehin kaum denken können. Sie
werden den Verzicht auf unsere flandrische Flottenbasis verlangen. Das wäre
in der Tat ein so großes Zugeständnis, daß wir dafür auf jeden Fall die Ein¬
räumung eines großen afrikanischen Kolonialreiches fordern können. Nach Vor¬
schlägen, die in den „Grenzboten" gemacht worden sind (1917, Ur. 42; vgl. dazu
meinen Aussatz in Ur. 46), kann Belgien für uns ein erträglicher Nachbar werden,
wenn es auf einer Grundlage neutralisiert wird, die jede Machtentfaltung uns
gegenüber ausschließt. Ein Belgien, das in der Lage bliebe, als militärisch-
politischer Machtfaktor gegen uns aufzutreten, wäre eine so große Gefahr für
uns, daß kein kolonialer Erwerb derartige Zugeständnisse rechtfertigen könnte.
Nur ein Belgien, das auf Heer und Kolonien verzichtet, das dem deutschen Handel
offen steht und dem Flamentum seine Selbständigkeit verbürgt, können wir militärisch
räumen. Wir können warten, bis England unter diesen Bedingungen bereit ist.
uns ein neues Kolonialreich zu überlassen. Es ist nicht nötig, daß dieses genau
dem alten entspricht. Wünschenswert ist vielmehr, daß es fester in sich geschlossen
und besser verteidigungsfähig ist. als das alte. Wir brauchen nicht Haus-m¬
allen-Gassen zu sein. Wo die Engländer und Amerikaner, die Franzosen oder
die Japaner ihre natürlichen Expansionsgebiete haben, da brauchen wir uns nicht
gerade dazwischenzusetzen. Mit Recht fordert Paul Leutwein in seiner Broschüre
„Mitteleuropa—Mittelafrika" (Dresden und Leipzig, „Globus" 1917) die Be¬
schränkung unseres Kolonialreiches im wesentlichen auf den schwarzen Erdteil,
wo Ostafrika und Kamerun durch bisher belgisches oder portugiesisches Gebiet
verbunden und abgerundet den Grundstock bilden können. Hier können wir er¬
zeugen, was Mesopotamien und Anatolien, auch wenn sie einst völlig erschlossen
sein werden, nicht liefern können. Wenn man so die türkischen Zukunftsaussichten
mit mittelafrikanischen verbindet, dürfte auch Dr. Karstedt, der in Ur. 60 der
„Grenzboten" (1917) in einem interessanten Aufsatz jene skeptisch beurteilt, dem
„kontinentalen" Programm deutscher Weltpolitik, das dem „kolonialen" gar nicht
schroff zu widersprechen braucht, etwas vertrauensvoller gegenübertreten. Für mich
ist es allerdings zweifellos, daß die wichtigsten Kriegsziele in Europa liegen und
daß die Schaffung einer möglichst in sich geschlossenen und unangreifbaren „kon¬
tinentalen" Basis wichtiger ist, als der Erwerb überseeischer Rohstoffgebiete, deren
Bedeutung an sich keineswegs verkleinert werden soll. Die deutsche wirtschaft¬
liche Expansion darf nicht auf den atlantischen Seeweg angewiesen bleiben, den
England und Amerika sperren können. Und Deutschland darf nicht in aller Welt
wirtschaftliche Positionen suchen, die es in unnötige Reibungen mit anderen
Weltmächten oder ungeeigneten Eingeborenen bringen, weil wir mit der politischen
und wirtschaftlichen Ordnung Mitteleuropas und dem Austausch mit dem Orient
und Rußland genug zu tun haben werden. Eine große Tropenkolonie brauchen
wir. Aber sonst dürfen wir unsere Kräfte nicht an Aufgaben verschwenden, die
dem eigentlichen Bereich unserer Kulturarbeit zu fern liegen. Karstedt hat mit
Recht Bedenken gegen einen etwa erneuten Versuch, eine deutsche Herrschaft über
Marokko anzutreten (a. a. O. S. 287). Vor dem Kriege hatten wir zu wenig
Raum für unsere natürliche Expansion. Wir waren in Europa eingeengt. Darum
suchten wir in aller Welt durch friedlichen Wettbewerb wirtschaftlich voranzu-
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