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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Das Ernährungssystem auf der Anklagebank

geht, sich selbst in den Stand setzen, in wenigen Stunden anregender Lektüre das
ganze so wichtige wirtschafts-politische Zentralproblem unsrer Zukunft zu über¬
blicken, er kaufe nur die vier in diesem Aufsatz empfohlenen Schriften der Reihe
nach, wie es angegeben ist. Das Lesen der Schrift Naumanns wird sie aber um
so mehr interessieren, als sie nun befähigt sind, seinen Gedankengängen kritisch zu
folgen, was ja bei einem so glänzenden Schriftsteller immer seinen eigenen Reiz hat. --
Aber dem Leser werden aus der bisherigen Darstellung der Literatur mehr oder
minder nebelhaft auch die Hindernisse emporgewachsen sein, die der Verwirklichung
jedes mitteleuropäischen Wirtschaftsbündnisscs entgegenstehen, geschweige denn allen
den Projekten, die über ein "Mitteleuropa" zu den "Vereinigten Staaten von
Europa" hinsteuern. -- Von diesen Hemmnissen nur so viel: man vermeide in Politik
und Presse das mitteleuropäische Ziel mit neuen und unnatürlichen Hemmnissen zu
belasten. Will die Zeitschrift "Mitteleuropa" wirklich dieser schönen Aufgabe
dienen, so höre sie auf, Propaganda für die österreichische Lösung der Polenfrage
zu treiben. Der Schlüssel zur Lösung unseres Problems liegt in Auflösung,
einmal der wirtschaftlichen Spannung zwischen Osterreich und Ungarn und daneben
in der Beseitigung des Pessimismus bei den Deutschen Österreichs. Wollte die
Zeitschrift "Mitteleuropa" über diese schwierigen Dinge als unbefangener und
sorgender Freund allseitig und sachlich berichten, sie würde nicht nur eine grosze
Lücke in der Literatur ausfüllen, sondern sich auch am dereinstigen Zustandekommen
Mitteleuropas ein unschätzbares Verdienst erwürben.




Das Grnährunassystem auf der Anklagebank
Professor wittschewsky von

as abgelaufene Jahr lag schon in den letzten Zügen, als es unserem
Ernährungssystem hinterrücks noch einen Hieb versetzte, der mehr
Genugtuung als Bedauern auflöste. Denn die Unzulänglichkeit der
Ernährungspolitik hatte zu lange wie ein Alp auf uns gelastet, um
seine öffentliche Bloßstellung nicht wie das Schuldgeständnis einer
alten Sünderin schadenfroh zur Kenntnis zu nehmen. Die Rache eines Jahres
der Unterernährung erscheint der ungeheuren Mehrheit der Reichsbevölkerung wie
eine längst herbeigewünschte Quittung über begangene Fehler und geduldete Ver¬
säumnisse, wie ein zeitgemäßer Anruf an die Anwälte des Volkswohles, zuzu¬
schauen, daß das gefährdete Ernährungswesen nicht in noch schlimmere Verhängnisse
hineingerät. Die bekannte Beschwerdeschrift des Neuköllner Magistrats über seine
höchst bedauerlichen Erfahrungen bei seinem nicht ganz einwandfreien Kampfe um


Das Ernährungssystem auf der Anklagebank

geht, sich selbst in den Stand setzen, in wenigen Stunden anregender Lektüre das
ganze so wichtige wirtschafts-politische Zentralproblem unsrer Zukunft zu über¬
blicken, er kaufe nur die vier in diesem Aufsatz empfohlenen Schriften der Reihe
nach, wie es angegeben ist. Das Lesen der Schrift Naumanns wird sie aber um
so mehr interessieren, als sie nun befähigt sind, seinen Gedankengängen kritisch zu
folgen, was ja bei einem so glänzenden Schriftsteller immer seinen eigenen Reiz hat. —
Aber dem Leser werden aus der bisherigen Darstellung der Literatur mehr oder
minder nebelhaft auch die Hindernisse emporgewachsen sein, die der Verwirklichung
jedes mitteleuropäischen Wirtschaftsbündnisscs entgegenstehen, geschweige denn allen
den Projekten, die über ein „Mitteleuropa" zu den „Vereinigten Staaten von
Europa" hinsteuern. — Von diesen Hemmnissen nur so viel: man vermeide in Politik
und Presse das mitteleuropäische Ziel mit neuen und unnatürlichen Hemmnissen zu
belasten. Will die Zeitschrift „Mitteleuropa" wirklich dieser schönen Aufgabe
dienen, so höre sie auf, Propaganda für die österreichische Lösung der Polenfrage
zu treiben. Der Schlüssel zur Lösung unseres Problems liegt in Auflösung,
einmal der wirtschaftlichen Spannung zwischen Osterreich und Ungarn und daneben
in der Beseitigung des Pessimismus bei den Deutschen Österreichs. Wollte die
Zeitschrift „Mitteleuropa" über diese schwierigen Dinge als unbefangener und
sorgender Freund allseitig und sachlich berichten, sie würde nicht nur eine grosze
Lücke in der Literatur ausfüllen, sondern sich auch am dereinstigen Zustandekommen
Mitteleuropas ein unschätzbares Verdienst erwürben.




Das Grnährunassystem auf der Anklagebank
Professor wittschewsky von

as abgelaufene Jahr lag schon in den letzten Zügen, als es unserem
Ernährungssystem hinterrücks noch einen Hieb versetzte, der mehr
Genugtuung als Bedauern auflöste. Denn die Unzulänglichkeit der
Ernährungspolitik hatte zu lange wie ein Alp auf uns gelastet, um
seine öffentliche Bloßstellung nicht wie das Schuldgeständnis einer
alten Sünderin schadenfroh zur Kenntnis zu nehmen. Die Rache eines Jahres
der Unterernährung erscheint der ungeheuren Mehrheit der Reichsbevölkerung wie
eine längst herbeigewünschte Quittung über begangene Fehler und geduldete Ver¬
säumnisse, wie ein zeitgemäßer Anruf an die Anwälte des Volkswohles, zuzu¬
schauen, daß das gefährdete Ernährungswesen nicht in noch schlimmere Verhängnisse
hineingerät. Die bekannte Beschwerdeschrift des Neuköllner Magistrats über seine
höchst bedauerlichen Erfahrungen bei seinem nicht ganz einwandfreien Kampfe um


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[0051] Das Ernährungssystem auf der Anklagebank geht, sich selbst in den Stand setzen, in wenigen Stunden anregender Lektüre das ganze so wichtige wirtschafts-politische Zentralproblem unsrer Zukunft zu über¬ blicken, er kaufe nur die vier in diesem Aufsatz empfohlenen Schriften der Reihe nach, wie es angegeben ist. Das Lesen der Schrift Naumanns wird sie aber um so mehr interessieren, als sie nun befähigt sind, seinen Gedankengängen kritisch zu folgen, was ja bei einem so glänzenden Schriftsteller immer seinen eigenen Reiz hat. — Aber dem Leser werden aus der bisherigen Darstellung der Literatur mehr oder minder nebelhaft auch die Hindernisse emporgewachsen sein, die der Verwirklichung jedes mitteleuropäischen Wirtschaftsbündnisscs entgegenstehen, geschweige denn allen den Projekten, die über ein „Mitteleuropa" zu den „Vereinigten Staaten von Europa" hinsteuern. — Von diesen Hemmnissen nur so viel: man vermeide in Politik und Presse das mitteleuropäische Ziel mit neuen und unnatürlichen Hemmnissen zu belasten. Will die Zeitschrift „Mitteleuropa" wirklich dieser schönen Aufgabe dienen, so höre sie auf, Propaganda für die österreichische Lösung der Polenfrage zu treiben. Der Schlüssel zur Lösung unseres Problems liegt in Auflösung, einmal der wirtschaftlichen Spannung zwischen Osterreich und Ungarn und daneben in der Beseitigung des Pessimismus bei den Deutschen Österreichs. Wollte die Zeitschrift „Mitteleuropa" über diese schwierigen Dinge als unbefangener und sorgender Freund allseitig und sachlich berichten, sie würde nicht nur eine grosze Lücke in der Literatur ausfüllen, sondern sich auch am dereinstigen Zustandekommen Mitteleuropas ein unschätzbares Verdienst erwürben. Das Grnährunassystem auf der Anklagebank Professor wittschewsky von as abgelaufene Jahr lag schon in den letzten Zügen, als es unserem Ernährungssystem hinterrücks noch einen Hieb versetzte, der mehr Genugtuung als Bedauern auflöste. Denn die Unzulänglichkeit der Ernährungspolitik hatte zu lange wie ein Alp auf uns gelastet, um seine öffentliche Bloßstellung nicht wie das Schuldgeständnis einer alten Sünderin schadenfroh zur Kenntnis zu nehmen. Die Rache eines Jahres der Unterernährung erscheint der ungeheuren Mehrheit der Reichsbevölkerung wie eine längst herbeigewünschte Quittung über begangene Fehler und geduldete Ver¬ säumnisse, wie ein zeitgemäßer Anruf an die Anwälte des Volkswohles, zuzu¬ schauen, daß das gefährdete Ernährungswesen nicht in noch schlimmere Verhängnisse hineingerät. Die bekannte Beschwerdeschrift des Neuköllner Magistrats über seine höchst bedauerlichen Erfahrungen bei seinem nicht ganz einwandfreien Kampfe um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/51>, abgerufen am 22.07.2024.