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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Der Kampf "in das kommunale Wahlrecht

so dürfen wir weiter gegen Gefahren, die von einem sozialdemokratischen Regiment
drohen, keineswegs die Augen verschließen. Es gibt auch eine einseitige und
darum kurzsichtige nrmenfreundliche Politik. Man wendet finanzielle Mittel un¬
zweckmäßig an, was sich hinterher bitter rächt. So wenig wir bestreiten. daß sich
innerhalb der Sozialdemokratie Männer finden, die Verständnis für solche Ge¬
fahren besitzen, so ist doch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie gegenüber dem
unverständigen Trieb einer großen Masse nicht aufkommen. I)r. Reiche verwertet
auch die Klagen über den "kommunalen Klüngel", der sich bei der Anlage von
Straßen begünstigt, und versichert, solche Ubelstünde würden mit dem sozial¬
demokratischen Regiment aufhören. Wir wollen nicht in die Erörterung der Frage
eintreten, ob die herkömmlichen Klagen über diesen "Klüngel" nicht übertrieben
lind; setzen wir selbst den Fall, sie seien vollauf begründet -- glaubt irgend jemand
wirklich, daß die Möglichkeit solcher Ubelstünde mit dem neuen Regiment aufhören
werde? Keineswegs! Wir brauchen hier nicht auf die Verfassungsänderungen
im alten Rom und in den mittelalterlichen Städten zurückzugreifen, welche den
Beweis liefern, daß in dieser Beziehung die Verfassungsänderung wesentlich nur
einen Wechsel des herrschenden Personenkreises hervorbrachte, daß aber die Mi߬
stünde an sich nicht aufhörten. Die Erinnerung an manche Begebnisse in der
Geschichte der sozialdemokratischen Kassen und sonstigen Verbandseinrichtungen
lehrt ja, daß mit der "breitesten Demokratie" der "Klüngel" sehr wohl vereinbar
ist. Wir fürchten, daß er sich bei einem einseitig sozialdemokratischen Regiment
sogar verstärken würde. Denn die Kontrolle, die mit dem starken Anteil einer
Vielheit von Parteien an der städtischen Verwaltung gegeben ist, und die das
beste Mittel gegen den "Klüngel" darstellt, fiele damit fort.

Bei den Betrachtungen über die Wirkungen des sozialdemokratischen Regi¬
ments auf Ortspolizei und Schulwesen geht Dr. Reiche überall von der Voraus¬
setzung aus, daß der Staat gewissen Gefahren, die er für diese Gebiete zugibt,
steuern könne und werde. Gewiß, wein: der Staat von dem starken Einfluß der
Sozialdemokratie unabhängig bleibt! Allein daran ist ja bei der Einführung deS -
Reichstagswahlrechts in Preußen nicht zu denken! Dieses soll ja gerade den
sozialdemokratischen Einfluß auf die allgemeine Staatsverwaltung sichern! Ver¬
gegenwärtigen wir uns einen Fall, den Dr. Reiche bespricht: ein von dem sozial-
demokratischen Magistrat angestellter Lehrer mißbraucht die Geschichtsstunde für
Parteipolitische Bestrebungen. Dann soll "die Aufsichtsbehörde, Direktor oder
Provinzialschulkollegium", dem betreffenden Lehrer ein anderes Fach, Latein oder
Erdkunde, übertragen. Ja, wenn die Stadt aber schon zum Direktor einen Sozial-
demokraten ernannt hat! Dr. Reiche meint freilich: "Der Anstellung sozial¬
demokratischer Oberlehrer oder gar Direktoren kann der Staat stets durch Ver-
saqung der Bestätigung vorbeugen". Gewiß, wenn der Staat unabhängig ist.
Allein man setze den Fall, der Staat habe die Bestätigung versagt: wie sehr
würde der Kultusminister dafür im Abgeordnetenhaus mitgenommen werden!
Um einem Mißverständnis zu begegnen, bemerke ich, daß ich hier die allgemeine
Frage der Verwendung sozialbemokratischer Lehrkräfte unerörtert lasse.

In Bezug auf die Ortspolizei äußerte steh Dr. Reiche dahin, daß "die
Folge der Demokratisierung der Kommunen" sein werde und müsse, daß in noch
viel höherem Maß als bisher die Ortspolizei "königlich" wird; insbesondere müsse
es da geschehen, "wo man der herrschend gewordenen Sozialdemokratie die Polizei¬
verwaltung, also die diskretionäre Ausübung der Staatshoheit, nicht anvertrauen
kann". Hier wird wiederum die Voraussetzung gemacht, daß der Staat unab¬
hängig bleibt. Aber man setze den Fall, daß der Minister des Innern im "neu
orientierten" Abgeordnetenhaus wegen der Absicht, einer sozialdemokratischen Stadt¬
gemeinde die Pvlizeiverwaltung abzunehmen, interpelliert wird -- wir brauchen
die Situation nicht auszumalen! Freilich stimme ich Dr. Reiche darin zu, daß
die Demokratisierung die Selbstverwaltung sehr beschränken wird; aber nicht die
Demokratisierung der Gemeinden speziell, -sondern des Staates im Ganzen. Es
lst ja eine bekannte Tatsache, daß, je demokratischer ein Staat ist, die Freiheit


-1")"
Der Kampf »in das kommunale Wahlrecht

so dürfen wir weiter gegen Gefahren, die von einem sozialdemokratischen Regiment
drohen, keineswegs die Augen verschließen. Es gibt auch eine einseitige und
darum kurzsichtige nrmenfreundliche Politik. Man wendet finanzielle Mittel un¬
zweckmäßig an, was sich hinterher bitter rächt. So wenig wir bestreiten. daß sich
innerhalb der Sozialdemokratie Männer finden, die Verständnis für solche Ge¬
fahren besitzen, so ist doch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie gegenüber dem
unverständigen Trieb einer großen Masse nicht aufkommen. I)r. Reiche verwertet
auch die Klagen über den „kommunalen Klüngel", der sich bei der Anlage von
Straßen begünstigt, und versichert, solche Ubelstünde würden mit dem sozial¬
demokratischen Regiment aufhören. Wir wollen nicht in die Erörterung der Frage
eintreten, ob die herkömmlichen Klagen über diesen „Klüngel" nicht übertrieben
lind; setzen wir selbst den Fall, sie seien vollauf begründet — glaubt irgend jemand
wirklich, daß die Möglichkeit solcher Ubelstünde mit dem neuen Regiment aufhören
werde? Keineswegs! Wir brauchen hier nicht auf die Verfassungsänderungen
im alten Rom und in den mittelalterlichen Städten zurückzugreifen, welche den
Beweis liefern, daß in dieser Beziehung die Verfassungsänderung wesentlich nur
einen Wechsel des herrschenden Personenkreises hervorbrachte, daß aber die Mi߬
stünde an sich nicht aufhörten. Die Erinnerung an manche Begebnisse in der
Geschichte der sozialdemokratischen Kassen und sonstigen Verbandseinrichtungen
lehrt ja, daß mit der „breitesten Demokratie" der „Klüngel" sehr wohl vereinbar
ist. Wir fürchten, daß er sich bei einem einseitig sozialdemokratischen Regiment
sogar verstärken würde. Denn die Kontrolle, die mit dem starken Anteil einer
Vielheit von Parteien an der städtischen Verwaltung gegeben ist, und die das
beste Mittel gegen den „Klüngel" darstellt, fiele damit fort.

Bei den Betrachtungen über die Wirkungen des sozialdemokratischen Regi¬
ments auf Ortspolizei und Schulwesen geht Dr. Reiche überall von der Voraus¬
setzung aus, daß der Staat gewissen Gefahren, die er für diese Gebiete zugibt,
steuern könne und werde. Gewiß, wein: der Staat von dem starken Einfluß der
Sozialdemokratie unabhängig bleibt! Allein daran ist ja bei der Einführung deS -
Reichstagswahlrechts in Preußen nicht zu denken! Dieses soll ja gerade den
sozialdemokratischen Einfluß auf die allgemeine Staatsverwaltung sichern! Ver¬
gegenwärtigen wir uns einen Fall, den Dr. Reiche bespricht: ein von dem sozial-
demokratischen Magistrat angestellter Lehrer mißbraucht die Geschichtsstunde für
Parteipolitische Bestrebungen. Dann soll „die Aufsichtsbehörde, Direktor oder
Provinzialschulkollegium", dem betreffenden Lehrer ein anderes Fach, Latein oder
Erdkunde, übertragen. Ja, wenn die Stadt aber schon zum Direktor einen Sozial-
demokraten ernannt hat! Dr. Reiche meint freilich: „Der Anstellung sozial¬
demokratischer Oberlehrer oder gar Direktoren kann der Staat stets durch Ver-
saqung der Bestätigung vorbeugen". Gewiß, wenn der Staat unabhängig ist.
Allein man setze den Fall, der Staat habe die Bestätigung versagt: wie sehr
würde der Kultusminister dafür im Abgeordnetenhaus mitgenommen werden!
Um einem Mißverständnis zu begegnen, bemerke ich, daß ich hier die allgemeine
Frage der Verwendung sozialbemokratischer Lehrkräfte unerörtert lasse.

In Bezug auf die Ortspolizei äußerte steh Dr. Reiche dahin, daß „die
Folge der Demokratisierung der Kommunen" sein werde und müsse, daß in noch
viel höherem Maß als bisher die Ortspolizei „königlich" wird; insbesondere müsse
es da geschehen, „wo man der herrschend gewordenen Sozialdemokratie die Polizei¬
verwaltung, also die diskretionäre Ausübung der Staatshoheit, nicht anvertrauen
kann". Hier wird wiederum die Voraussetzung gemacht, daß der Staat unab¬
hängig bleibt. Aber man setze den Fall, daß der Minister des Innern im „neu
orientierten" Abgeordnetenhaus wegen der Absicht, einer sozialdemokratischen Stadt¬
gemeinde die Pvlizeiverwaltung abzunehmen, interpelliert wird — wir brauchen
die Situation nicht auszumalen! Freilich stimme ich Dr. Reiche darin zu, daß
die Demokratisierung die Selbstverwaltung sehr beschränken wird; aber nicht die
Demokratisierung der Gemeinden speziell, -sondern des Staates im Ganzen. Es
lst ja eine bekannte Tatsache, daß, je demokratischer ein Staat ist, die Freiheit


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[0295] Der Kampf »in das kommunale Wahlrecht so dürfen wir weiter gegen Gefahren, die von einem sozialdemokratischen Regiment drohen, keineswegs die Augen verschließen. Es gibt auch eine einseitige und darum kurzsichtige nrmenfreundliche Politik. Man wendet finanzielle Mittel un¬ zweckmäßig an, was sich hinterher bitter rächt. So wenig wir bestreiten. daß sich innerhalb der Sozialdemokratie Männer finden, die Verständnis für solche Ge¬ fahren besitzen, so ist doch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie gegenüber dem unverständigen Trieb einer großen Masse nicht aufkommen. I)r. Reiche verwertet auch die Klagen über den „kommunalen Klüngel", der sich bei der Anlage von Straßen begünstigt, und versichert, solche Ubelstünde würden mit dem sozial¬ demokratischen Regiment aufhören. Wir wollen nicht in die Erörterung der Frage eintreten, ob die herkömmlichen Klagen über diesen „Klüngel" nicht übertrieben lind; setzen wir selbst den Fall, sie seien vollauf begründet — glaubt irgend jemand wirklich, daß die Möglichkeit solcher Ubelstünde mit dem neuen Regiment aufhören werde? Keineswegs! Wir brauchen hier nicht auf die Verfassungsänderungen im alten Rom und in den mittelalterlichen Städten zurückzugreifen, welche den Beweis liefern, daß in dieser Beziehung die Verfassungsänderung wesentlich nur einen Wechsel des herrschenden Personenkreises hervorbrachte, daß aber die Mi߬ stünde an sich nicht aufhörten. Die Erinnerung an manche Begebnisse in der Geschichte der sozialdemokratischen Kassen und sonstigen Verbandseinrichtungen lehrt ja, daß mit der „breitesten Demokratie" der „Klüngel" sehr wohl vereinbar ist. Wir fürchten, daß er sich bei einem einseitig sozialdemokratischen Regiment sogar verstärken würde. Denn die Kontrolle, die mit dem starken Anteil einer Vielheit von Parteien an der städtischen Verwaltung gegeben ist, und die das beste Mittel gegen den „Klüngel" darstellt, fiele damit fort. Bei den Betrachtungen über die Wirkungen des sozialdemokratischen Regi¬ ments auf Ortspolizei und Schulwesen geht Dr. Reiche überall von der Voraus¬ setzung aus, daß der Staat gewissen Gefahren, die er für diese Gebiete zugibt, steuern könne und werde. Gewiß, wein: der Staat von dem starken Einfluß der Sozialdemokratie unabhängig bleibt! Allein daran ist ja bei der Einführung deS - Reichstagswahlrechts in Preußen nicht zu denken! Dieses soll ja gerade den sozialdemokratischen Einfluß auf die allgemeine Staatsverwaltung sichern! Ver¬ gegenwärtigen wir uns einen Fall, den Dr. Reiche bespricht: ein von dem sozial- demokratischen Magistrat angestellter Lehrer mißbraucht die Geschichtsstunde für Parteipolitische Bestrebungen. Dann soll „die Aufsichtsbehörde, Direktor oder Provinzialschulkollegium", dem betreffenden Lehrer ein anderes Fach, Latein oder Erdkunde, übertragen. Ja, wenn die Stadt aber schon zum Direktor einen Sozial- demokraten ernannt hat! Dr. Reiche meint freilich: „Der Anstellung sozial¬ demokratischer Oberlehrer oder gar Direktoren kann der Staat stets durch Ver- saqung der Bestätigung vorbeugen". Gewiß, wenn der Staat unabhängig ist. Allein man setze den Fall, der Staat habe die Bestätigung versagt: wie sehr würde der Kultusminister dafür im Abgeordnetenhaus mitgenommen werden! Um einem Mißverständnis zu begegnen, bemerke ich, daß ich hier die allgemeine Frage der Verwendung sozialbemokratischer Lehrkräfte unerörtert lasse. In Bezug auf die Ortspolizei äußerte steh Dr. Reiche dahin, daß „die Folge der Demokratisierung der Kommunen" sein werde und müsse, daß in noch viel höherem Maß als bisher die Ortspolizei „königlich" wird; insbesondere müsse es da geschehen, „wo man der herrschend gewordenen Sozialdemokratie die Polizei¬ verwaltung, also die diskretionäre Ausübung der Staatshoheit, nicht anvertrauen kann". Hier wird wiederum die Voraussetzung gemacht, daß der Staat unab¬ hängig bleibt. Aber man setze den Fall, daß der Minister des Innern im „neu orientierten" Abgeordnetenhaus wegen der Absicht, einer sozialdemokratischen Stadt¬ gemeinde die Pvlizeiverwaltung abzunehmen, interpelliert wird — wir brauchen die Situation nicht auszumalen! Freilich stimme ich Dr. Reiche darin zu, daß die Demokratisierung die Selbstverwaltung sehr beschränken wird; aber nicht die Demokratisierung der Gemeinden speziell, -sondern des Staates im Ganzen. Es lst ja eine bekannte Tatsache, daß, je demokratischer ein Staat ist, die Freiheit -1«)«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/295>, abgerufen am 22.07.2024.