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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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wendigen Gebundenheiten erzeugen." Die in diesen Worten liegende wertvolle
Erkenntnis hat nichts mit verwaschener Jnternationalität und Humanitätsdusel im
landläufigen Sinne zu tun, führt vielmehr gerade zu vertiefter Einsicht in das
Individuelle der verschiedenen Kulturen. Versuchen wir, soweit das in Kürze
möglich ist, dem Schelerschen Leitsatz und zugleich unserer dritten nationalen Be¬
sinnung Farbe zu geben!

Beliebt in der Kriegsliteratur ist die Formel: Freiheit vom Staate bei Eng¬
ländern und Franzosen, Freiheit im Staate bei uns. Sie gibt aber nur die eine
Hälfte des Problems, denn, da neben dem Staat auch die Gesellschaft ein "Zu¬
stand ist, in welchem Freiheit verwirklicht wird", muß man fragen, ob "gesell
schaftlich" frei ist, wer seiner "staatlichen" Ketten spottet. Und da zeigt sich be-
kanntlich in den westlichen Ländern eins so weitgehende Abhängigkeit des einzelnen
von Sitte und .Konvention, von dem Faktor der öffentlichen Meinung, daß ein
etwaiges Mindermaß behördlich ausgewirkten Zwanges völlig ausgeglichen wird.
Bezeichnend dafür jene Äußerung gelegentlich der Verfässungsberatungen von Massa^
chusetts (1853): "Ein Bürger kann wohl Untertan einer'Partei sein oder einer
tatsächlichen Gewalt (I). aber niemals Untertan des Staates."

Auf die historischen Gründe dieser verschiedenen Wertschätzung des Staates
hüben und drüben einzugehen, ist hier nicht der Ort/") Bei Frankreich mag die
feinem Absolutismus ebenso wie der Restauration und dem Bonapartismus eigene
Übersteigerung des bureaukratisch-obrigkeitlichen Zwangsgedankens die Staatsidee
in Mißkredit gebracht haben, obwohl ihr von Haus aus jenes Land ebensoviel
und mehr Dank schuldet als z. B. unser solange der Prüfung auf seine "staats¬
freie Haltbarkeitsgrenze" sScheler) unterworfenes Nationalbewußtsein. Möglich,
daß gerade diese schmerzliche Entbehrung den Deutschen den Blick für die Würde
des Staates geschürft Hai, wie Treitschke sagt. Der psychologische Grund liegt
dock) wohl in der verschiedenen Auffassung, die Deutsche und Westeuropäer von
dem Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit überhaupt vertreten. In einem
früheren Hefte dieser Zeitschrift wurde auf deuGegensatz kollektivistisch universalistischer
und individualistisch-nominalistischer Weltanschauung in seiner Anwendung auf das
Problem des Staates hingewiesen."") Es darf im Anschluß an die dortigen
Äußerungen daran erinnert werden, daß der Franzose ebenso wie der Angelsachse
im Durchschnitt überzeugter Nominalist ist, d. h. also zwischen den einzelnen und
ihrer Summe, der Menschheit, keine Gemeinschaften selbständiger, vom Willen
ihrer Teile verschiedener Wesenheit bejaht. "Die Teutschen verehren den Staat,
wo wir den Mann verehren", schreibt Sidney Brooks, dasselbe, was der typisch¬
englische Philosoph Spencer ausschließlich im Hinblick auf seine Heimat in die
Formel: "Der Mann gegen den Staat" kleidet. In Frankreich anderseits ist z. B.
gegen die auch in die dortige allgemeine Staatslehre eingedrungene deutsche A uffassung
vom Staate als einer juristischen Person alsbald von heimischen Fachgrößen leb¬
haft protestiert worden. Besonders deutlich offenbart die französische Unfähigkeit
zum kollektivistischen Denken "konkreter Allgemeinheit" der oben genannte Boutroux,
obwohl ihm aus bestimmten Gründen jene Anschauungsweise sehr gelegen kommen
muß. Im Interesse seines Dogmas vom angeblichen Kampfe Frankreichs für die
Kleinstaaten verleiht er nämlich dem Begriff "Nation" die Würde einer Persön¬
lichkeit. Wer aber vermuten wollte, daß hier der Nominalist den Glauben an
die selbständige Wirklichkeit überindividueller Bildungen gewonnen habe, sähe sich
im weiteren Verlauf arg enttäuscht. Denn als Zeichen dieser "Persönlichkeit" der
Nation gilt die "freie Zustimmung der Bürger-, das nationale Bewußtsein ist
eine "Realität", insofern es den "bewußten und gewollten Zusammenklang der
individuellen Bewußtseine" darstellt. Wir plätschern also munter am sicheren und
"klaren" Strande des Individualismus und haben die Klippen und "dunklen" Tiefen




*) Vgl. meinen Aufsatz "Deutsche und westeuropäische Staatsauffassung", "Deutsche
Rundschau", 1916, Oktober und November.
**""
) Vgl. "Staat als Lebensform, "Grenzboten 1917, Ur. 48, S. 260 ff.
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wendigen Gebundenheiten erzeugen." Die in diesen Worten liegende wertvolle
Erkenntnis hat nichts mit verwaschener Jnternationalität und Humanitätsdusel im
landläufigen Sinne zu tun, führt vielmehr gerade zu vertiefter Einsicht in das
Individuelle der verschiedenen Kulturen. Versuchen wir, soweit das in Kürze
möglich ist, dem Schelerschen Leitsatz und zugleich unserer dritten nationalen Be¬
sinnung Farbe zu geben!

Beliebt in der Kriegsliteratur ist die Formel: Freiheit vom Staate bei Eng¬
ländern und Franzosen, Freiheit im Staate bei uns. Sie gibt aber nur die eine
Hälfte des Problems, denn, da neben dem Staat auch die Gesellschaft ein „Zu¬
stand ist, in welchem Freiheit verwirklicht wird", muß man fragen, ob „gesell
schaftlich" frei ist, wer seiner „staatlichen" Ketten spottet. Und da zeigt sich be-
kanntlich in den westlichen Ländern eins so weitgehende Abhängigkeit des einzelnen
von Sitte und .Konvention, von dem Faktor der öffentlichen Meinung, daß ein
etwaiges Mindermaß behördlich ausgewirkten Zwanges völlig ausgeglichen wird.
Bezeichnend dafür jene Äußerung gelegentlich der Verfässungsberatungen von Massa^
chusetts (1853): „Ein Bürger kann wohl Untertan einer'Partei sein oder einer
tatsächlichen Gewalt (I). aber niemals Untertan des Staates."

Auf die historischen Gründe dieser verschiedenen Wertschätzung des Staates
hüben und drüben einzugehen, ist hier nicht der Ort/") Bei Frankreich mag die
feinem Absolutismus ebenso wie der Restauration und dem Bonapartismus eigene
Übersteigerung des bureaukratisch-obrigkeitlichen Zwangsgedankens die Staatsidee
in Mißkredit gebracht haben, obwohl ihr von Haus aus jenes Land ebensoviel
und mehr Dank schuldet als z. B. unser solange der Prüfung auf seine „staats¬
freie Haltbarkeitsgrenze" sScheler) unterworfenes Nationalbewußtsein. Möglich,
daß gerade diese schmerzliche Entbehrung den Deutschen den Blick für die Würde
des Staates geschürft Hai, wie Treitschke sagt. Der psychologische Grund liegt
dock) wohl in der verschiedenen Auffassung, die Deutsche und Westeuropäer von
dem Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit überhaupt vertreten. In einem
früheren Hefte dieser Zeitschrift wurde auf deuGegensatz kollektivistisch universalistischer
und individualistisch-nominalistischer Weltanschauung in seiner Anwendung auf das
Problem des Staates hingewiesen."") Es darf im Anschluß an die dortigen
Äußerungen daran erinnert werden, daß der Franzose ebenso wie der Angelsachse
im Durchschnitt überzeugter Nominalist ist, d. h. also zwischen den einzelnen und
ihrer Summe, der Menschheit, keine Gemeinschaften selbständiger, vom Willen
ihrer Teile verschiedener Wesenheit bejaht. „Die Teutschen verehren den Staat,
wo wir den Mann verehren", schreibt Sidney Brooks, dasselbe, was der typisch¬
englische Philosoph Spencer ausschließlich im Hinblick auf seine Heimat in die
Formel: „Der Mann gegen den Staat" kleidet. In Frankreich anderseits ist z. B.
gegen die auch in die dortige allgemeine Staatslehre eingedrungene deutsche A uffassung
vom Staate als einer juristischen Person alsbald von heimischen Fachgrößen leb¬
haft protestiert worden. Besonders deutlich offenbart die französische Unfähigkeit
zum kollektivistischen Denken „konkreter Allgemeinheit" der oben genannte Boutroux,
obwohl ihm aus bestimmten Gründen jene Anschauungsweise sehr gelegen kommen
muß. Im Interesse seines Dogmas vom angeblichen Kampfe Frankreichs für die
Kleinstaaten verleiht er nämlich dem Begriff „Nation" die Würde einer Persön¬
lichkeit. Wer aber vermuten wollte, daß hier der Nominalist den Glauben an
die selbständige Wirklichkeit überindividueller Bildungen gewonnen habe, sähe sich
im weiteren Verlauf arg enttäuscht. Denn als Zeichen dieser „Persönlichkeit" der
Nation gilt die „freie Zustimmung der Bürger-, das nationale Bewußtsein ist
eine „Realität", insofern es den „bewußten und gewollten Zusammenklang der
individuellen Bewußtseine" darstellt. Wir plätschern also munter am sicheren und
„klaren" Strande des Individualismus und haben die Klippen und „dunklen" Tiefen




*) Vgl. meinen Aufsatz „Deutsche und westeuropäische Staatsauffassung", „Deutsche
Rundschau", 1916, Oktober und November.
**""
) Vgl. „Staat als Lebensform, „Grenzboten 1917, Ur. 48, S. 260 ff.
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[0232] Nationale Besinnungen wendigen Gebundenheiten erzeugen." Die in diesen Worten liegende wertvolle Erkenntnis hat nichts mit verwaschener Jnternationalität und Humanitätsdusel im landläufigen Sinne zu tun, führt vielmehr gerade zu vertiefter Einsicht in das Individuelle der verschiedenen Kulturen. Versuchen wir, soweit das in Kürze möglich ist, dem Schelerschen Leitsatz und zugleich unserer dritten nationalen Be¬ sinnung Farbe zu geben! Beliebt in der Kriegsliteratur ist die Formel: Freiheit vom Staate bei Eng¬ ländern und Franzosen, Freiheit im Staate bei uns. Sie gibt aber nur die eine Hälfte des Problems, denn, da neben dem Staat auch die Gesellschaft ein „Zu¬ stand ist, in welchem Freiheit verwirklicht wird", muß man fragen, ob „gesell schaftlich" frei ist, wer seiner „staatlichen" Ketten spottet. Und da zeigt sich be- kanntlich in den westlichen Ländern eins so weitgehende Abhängigkeit des einzelnen von Sitte und .Konvention, von dem Faktor der öffentlichen Meinung, daß ein etwaiges Mindermaß behördlich ausgewirkten Zwanges völlig ausgeglichen wird. Bezeichnend dafür jene Äußerung gelegentlich der Verfässungsberatungen von Massa^ chusetts (1853): „Ein Bürger kann wohl Untertan einer'Partei sein oder einer tatsächlichen Gewalt (I). aber niemals Untertan des Staates." Auf die historischen Gründe dieser verschiedenen Wertschätzung des Staates hüben und drüben einzugehen, ist hier nicht der Ort/") Bei Frankreich mag die feinem Absolutismus ebenso wie der Restauration und dem Bonapartismus eigene Übersteigerung des bureaukratisch-obrigkeitlichen Zwangsgedankens die Staatsidee in Mißkredit gebracht haben, obwohl ihr von Haus aus jenes Land ebensoviel und mehr Dank schuldet als z. B. unser solange der Prüfung auf seine „staats¬ freie Haltbarkeitsgrenze" sScheler) unterworfenes Nationalbewußtsein. Möglich, daß gerade diese schmerzliche Entbehrung den Deutschen den Blick für die Würde des Staates geschürft Hai, wie Treitschke sagt. Der psychologische Grund liegt dock) wohl in der verschiedenen Auffassung, die Deutsche und Westeuropäer von dem Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit überhaupt vertreten. In einem früheren Hefte dieser Zeitschrift wurde auf deuGegensatz kollektivistisch universalistischer und individualistisch-nominalistischer Weltanschauung in seiner Anwendung auf das Problem des Staates hingewiesen."") Es darf im Anschluß an die dortigen Äußerungen daran erinnert werden, daß der Franzose ebenso wie der Angelsachse im Durchschnitt überzeugter Nominalist ist, d. h. also zwischen den einzelnen und ihrer Summe, der Menschheit, keine Gemeinschaften selbständiger, vom Willen ihrer Teile verschiedener Wesenheit bejaht. „Die Teutschen verehren den Staat, wo wir den Mann verehren", schreibt Sidney Brooks, dasselbe, was der typisch¬ englische Philosoph Spencer ausschließlich im Hinblick auf seine Heimat in die Formel: „Der Mann gegen den Staat" kleidet. In Frankreich anderseits ist z. B. gegen die auch in die dortige allgemeine Staatslehre eingedrungene deutsche A uffassung vom Staate als einer juristischen Person alsbald von heimischen Fachgrößen leb¬ haft protestiert worden. Besonders deutlich offenbart die französische Unfähigkeit zum kollektivistischen Denken „konkreter Allgemeinheit" der oben genannte Boutroux, obwohl ihm aus bestimmten Gründen jene Anschauungsweise sehr gelegen kommen muß. Im Interesse seines Dogmas vom angeblichen Kampfe Frankreichs für die Kleinstaaten verleiht er nämlich dem Begriff „Nation" die Würde einer Persön¬ lichkeit. Wer aber vermuten wollte, daß hier der Nominalist den Glauben an die selbständige Wirklichkeit überindividueller Bildungen gewonnen habe, sähe sich im weiteren Verlauf arg enttäuscht. Denn als Zeichen dieser „Persönlichkeit" der Nation gilt die „freie Zustimmung der Bürger-, das nationale Bewußtsein ist eine „Realität", insofern es den „bewußten und gewollten Zusammenklang der individuellen Bewußtseine" darstellt. Wir plätschern also munter am sicheren und „klaren" Strande des Individualismus und haben die Klippen und „dunklen" Tiefen *) Vgl. meinen Aufsatz „Deutsche und westeuropäische Staatsauffassung", „Deutsche Rundschau", 1916, Oktober und November. **"" ) Vgl. „Staat als Lebensform, „Grenzboten 1917, Ur. 48, S. 260 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/232>, abgerufen am 22.07.2024.