Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Carl Jentsch und die Grenzboten

risiert sich in dieser Hinsicht treffend in den "Wandlungen" (II. Band S. 181):
"Ich leide an einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen
Lebenserfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeits¬
gefühl, daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht." So
erhob er denn seine Stimme zur Schulreform (Jahrg. 1890,1), trat in einem
längeren Aufsatze für "Die Wünsche des höheren Lehrerstandes in Preußen" ein
(1890, IV), äußerte sich in "Gegen den Polizeistaat" über das Vereinsrecht
(.1890, IV), übte in "Was wir von den Zulukasfern lernen können" herbe
Kritik an unserem Volkswirtschaftsbetriebe (1890, IV), brandmarkte den Mi߬
brauch der hypnotischen Suggestion (18W, 1) oder fand endlich kräftige Worte
des Tadels für die vernunftwidrige Weise, mit der manche Gerichtshöfe am Buch¬
staben des Gesetzes festkleben, in den "Betrachtungen eines Laien über unsere
Rechtspflege" (1894, II; als Broschüre im gleichen Jahre erschienen). -- Die "Grenz¬
boten" waren konservativ und fortschrittlich zugleich. Sie räumten mit unvernünf¬
tigem Alten radikal auf, sie ließen aber vernünftige Tradition nicht antasten. Auch
das entsprach Jentschs Auffassung, der bekanntlich mit seinen Ansichten zwischen
zwei Stühlen zu sitzen pflegte,") freilich stets mehr links tendierend, worin der
konservative Verlegerfreund das zweckmäßige Gegengewicht bildete. Manchmal
wurde jener allerdings von dem temperamentvollen Freiheitsmanne mit fortgerissen
und druckte Beiträge ab, von denen Jentsch in seiner Grnnow-Erinnerung schrieb:
"Ich habe in den ,Grünen' so manches aussprechen dürfen, was kein anderes
bürgerliches Organ aufgenommen hätte" ("Grenzboten" 1906, Heft 18). Dafür
dankte er dem Freunde in seinen Briefen häufig um so inniger, als er wußte, daß
dieser um seinetwillen manchen alten Freund verlor (etwa nach Brief vom 31. Ja¬
nuar 1892: Prof. B), weil man nicht verstand oder nicht wahr haben wollte, daß
ihm Vaterlandsliebe die Feder führte. Und doch war es so. Im Leitartikel des
45. Heftes des Jahrgangs 1895, den er zur Abwehr von Angriffen gegen die "Grenz¬
boten" mit Grunow gemeinsam verfaßte, schrieb er: "Deshalb, weil wir die Liebe zum
Vaterlande so tief fasten, daß wir für unseres ganzen Volkes Wohl erglühen, ihm in
allen seinen Schichten die freie Entwicklung seiner herrlichen Gaben wahren wollen,
möchten uns die mit den Vaterlandslosen zusammenwerfen, die nur ... die Clique
lieben, der sie angehören. Weil wir die Deutschen weder mammonistisch entarten,
noch proletarisch verkommen lassen wollen, erregt unsere Sprache die Furcht und
den Haß derer, die den Patriotismus nur für die Gebildeten und die Reichen in
Anspruch nehmen möchten". Die "Grenzboten" waren eben, was sie heute noch
sind, national ohne parteiliche Bindung. Daran änderte nichts, daß Jentsch
bereits vom Oktober 1891 ab halb und halb Nessortredakteur spielte (Grunow
schickte ihm Manuskripte zur Durchsicht und Bearbeitung) und vom 18. August
1894 ab regelmäßig jede Woche sein "Sprüche!", so nannte er es, für die Rubrik
"Maßgebliches und Unmaßgebliches" beitrug. Herausgeber und Mitarbeiter
einigten sich stets auf das, was ihnen gemeinsam'richtig schien. Das war nur
in einem einzigen Falle schwierig. Grunow begeisterte sich für Bismarck, Jentsch
stand diesem achtungsvoll-kritisch gegenüber. Die "Grenzboten" traten seit 1880
mit Überzeugung für die Politik Bismarcks ein, gerade in jener Zeit, als er den
heftigsten Befehdungen ausgesetzt war; sie hatten schwer zu kämpfen und mußten
Haß und Hohn ertragen. Sie vertraten natürlich auch Bismarcks Polenpolitik.
Da konnte Jentsch nicht mitgehen. Er sah durch Bismarck die Germanisierung
scheitern, die unter Ledochowsky, der den Posener Pfarrern das Politisieren auf-
trieb, nach Jentsch, im besten Zuge gewesen war. Ihm galt der Sprachenerlaß nur
als unerfreuliche Ursache fremdvölkischen Hasses. Doch erkannte Jentsch das Große



*) In: Briefe vom 8. Oktober 1893 erzählt er von einem bekannten demokratischen
Politiker, oasz dieser ihn seiner Sympathie versichert habe, obgleich er (I.), als Stockkonser-
vativer im konträrsten Gegensatz zu ihm stünde. Jentsch hat sich darüber halbtot gelacht und
dem Herrn postwendend mitgeteilt, daß er, der angeblich stockkonservativ, augenblicklich in
Gefahr sei, wegen allzu demokratischer Gesinnung "die Mitarbeiterschaft am'"Schlesischen
Tageblatt" und der "Lübecker Eisenbahnzeitung" zu verlieren.
Carl Jentsch und die Grenzboten

risiert sich in dieser Hinsicht treffend in den „Wandlungen" (II. Band S. 181):
„Ich leide an einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen
Lebenserfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeits¬
gefühl, daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht." So
erhob er denn seine Stimme zur Schulreform (Jahrg. 1890,1), trat in einem
längeren Aufsatze für „Die Wünsche des höheren Lehrerstandes in Preußen" ein
(1890, IV), äußerte sich in „Gegen den Polizeistaat" über das Vereinsrecht
(.1890, IV), übte in „Was wir von den Zulukasfern lernen können" herbe
Kritik an unserem Volkswirtschaftsbetriebe (1890, IV), brandmarkte den Mi߬
brauch der hypnotischen Suggestion (18W, 1) oder fand endlich kräftige Worte
des Tadels für die vernunftwidrige Weise, mit der manche Gerichtshöfe am Buch¬
staben des Gesetzes festkleben, in den „Betrachtungen eines Laien über unsere
Rechtspflege" (1894, II; als Broschüre im gleichen Jahre erschienen). — Die „Grenz¬
boten" waren konservativ und fortschrittlich zugleich. Sie räumten mit unvernünf¬
tigem Alten radikal auf, sie ließen aber vernünftige Tradition nicht antasten. Auch
das entsprach Jentschs Auffassung, der bekanntlich mit seinen Ansichten zwischen
zwei Stühlen zu sitzen pflegte,") freilich stets mehr links tendierend, worin der
konservative Verlegerfreund das zweckmäßige Gegengewicht bildete. Manchmal
wurde jener allerdings von dem temperamentvollen Freiheitsmanne mit fortgerissen
und druckte Beiträge ab, von denen Jentsch in seiner Grnnow-Erinnerung schrieb:
„Ich habe in den ,Grünen' so manches aussprechen dürfen, was kein anderes
bürgerliches Organ aufgenommen hätte" („Grenzboten" 1906, Heft 18). Dafür
dankte er dem Freunde in seinen Briefen häufig um so inniger, als er wußte, daß
dieser um seinetwillen manchen alten Freund verlor (etwa nach Brief vom 31. Ja¬
nuar 1892: Prof. B), weil man nicht verstand oder nicht wahr haben wollte, daß
ihm Vaterlandsliebe die Feder führte. Und doch war es so. Im Leitartikel des
45. Heftes des Jahrgangs 1895, den er zur Abwehr von Angriffen gegen die „Grenz¬
boten" mit Grunow gemeinsam verfaßte, schrieb er: „Deshalb, weil wir die Liebe zum
Vaterlande so tief fasten, daß wir für unseres ganzen Volkes Wohl erglühen, ihm in
allen seinen Schichten die freie Entwicklung seiner herrlichen Gaben wahren wollen,
möchten uns die mit den Vaterlandslosen zusammenwerfen, die nur ... die Clique
lieben, der sie angehören. Weil wir die Deutschen weder mammonistisch entarten,
noch proletarisch verkommen lassen wollen, erregt unsere Sprache die Furcht und
den Haß derer, die den Patriotismus nur für die Gebildeten und die Reichen in
Anspruch nehmen möchten". Die „Grenzboten" waren eben, was sie heute noch
sind, national ohne parteiliche Bindung. Daran änderte nichts, daß Jentsch
bereits vom Oktober 1891 ab halb und halb Nessortredakteur spielte (Grunow
schickte ihm Manuskripte zur Durchsicht und Bearbeitung) und vom 18. August
1894 ab regelmäßig jede Woche sein „Sprüche!", so nannte er es, für die Rubrik
„Maßgebliches und Unmaßgebliches" beitrug. Herausgeber und Mitarbeiter
einigten sich stets auf das, was ihnen gemeinsam'richtig schien. Das war nur
in einem einzigen Falle schwierig. Grunow begeisterte sich für Bismarck, Jentsch
stand diesem achtungsvoll-kritisch gegenüber. Die „Grenzboten" traten seit 1880
mit Überzeugung für die Politik Bismarcks ein, gerade in jener Zeit, als er den
heftigsten Befehdungen ausgesetzt war; sie hatten schwer zu kämpfen und mußten
Haß und Hohn ertragen. Sie vertraten natürlich auch Bismarcks Polenpolitik.
Da konnte Jentsch nicht mitgehen. Er sah durch Bismarck die Germanisierung
scheitern, die unter Ledochowsky, der den Posener Pfarrern das Politisieren auf-
trieb, nach Jentsch, im besten Zuge gewesen war. Ihm galt der Sprachenerlaß nur
als unerfreuliche Ursache fremdvölkischen Hasses. Doch erkannte Jentsch das Große



*) In: Briefe vom 8. Oktober 1893 erzählt er von einem bekannten demokratischen
Politiker, oasz dieser ihn seiner Sympathie versichert habe, obgleich er (I.), als Stockkonser-
vativer im konträrsten Gegensatz zu ihm stünde. Jentsch hat sich darüber halbtot gelacht und
dem Herrn postwendend mitgeteilt, daß er, der angeblich stockkonservativ, augenblicklich in
Gefahr sei, wegen allzu demokratischer Gesinnung "die Mitarbeiterschaft am'„Schlesischen
Tageblatt" und der „Lübecker Eisenbahnzeitung" zu verlieren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333276"/>
          <fw type="header" place="top"> Carl Jentsch und die Grenzboten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_620" prev="#ID_619" next="#ID_621"> risiert sich in dieser Hinsicht treffend in den &#x201E;Wandlungen" (II. Band S. 181):<lb/>
&#x201E;Ich leide an einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen<lb/>
Lebenserfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeits¬<lb/>
gefühl, daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht." So<lb/>
erhob er denn seine Stimme zur Schulreform (Jahrg. 1890,1), trat in einem<lb/>
längeren Aufsatze für &#x201E;Die Wünsche des höheren Lehrerstandes in Preußen" ein<lb/>
(1890, IV), äußerte sich in &#x201E;Gegen den Polizeistaat" über das Vereinsrecht<lb/>
(.1890, IV), übte in &#x201E;Was wir von den Zulukasfern lernen können" herbe<lb/>
Kritik an unserem Volkswirtschaftsbetriebe (1890, IV), brandmarkte den Mi߬<lb/>
brauch der hypnotischen Suggestion (18W, 1) oder fand endlich kräftige Worte<lb/>
des Tadels für die vernunftwidrige Weise, mit der manche Gerichtshöfe am Buch¬<lb/>
staben des Gesetzes festkleben, in den &#x201E;Betrachtungen eines Laien über unsere<lb/>
Rechtspflege" (1894, II; als Broschüre im gleichen Jahre erschienen). &#x2014; Die &#x201E;Grenz¬<lb/>
boten" waren konservativ und fortschrittlich zugleich. Sie räumten mit unvernünf¬<lb/>
tigem Alten radikal auf, sie ließen aber vernünftige Tradition nicht antasten. Auch<lb/>
das entsprach Jentschs Auffassung, der bekanntlich mit seinen Ansichten zwischen<lb/>
zwei Stühlen zu sitzen pflegte,") freilich stets mehr links tendierend, worin der<lb/>
konservative Verlegerfreund das zweckmäßige Gegengewicht bildete. Manchmal<lb/>
wurde jener allerdings von dem temperamentvollen Freiheitsmanne mit fortgerissen<lb/>
und druckte Beiträge ab, von denen Jentsch in seiner Grnnow-Erinnerung schrieb:<lb/>
&#x201E;Ich habe in den ,Grünen' so manches aussprechen dürfen, was kein anderes<lb/>
bürgerliches Organ aufgenommen hätte" (&#x201E;Grenzboten" 1906, Heft 18). Dafür<lb/>
dankte er dem Freunde in seinen Briefen häufig um so inniger, als er wußte, daß<lb/>
dieser um seinetwillen manchen alten Freund verlor (etwa nach Brief vom 31. Ja¬<lb/>
nuar 1892: Prof. B), weil man nicht verstand oder nicht wahr haben wollte, daß<lb/>
ihm Vaterlandsliebe die Feder führte. Und doch war es so. Im Leitartikel des<lb/>
45. Heftes des Jahrgangs 1895, den er zur Abwehr von Angriffen gegen die &#x201E;Grenz¬<lb/>
boten" mit Grunow gemeinsam verfaßte, schrieb er: &#x201E;Deshalb, weil wir die Liebe zum<lb/>
Vaterlande so tief fasten, daß wir für unseres ganzen Volkes Wohl erglühen, ihm in<lb/>
allen seinen Schichten die freie Entwicklung seiner herrlichen Gaben wahren wollen,<lb/>
möchten uns die mit den Vaterlandslosen zusammenwerfen, die nur ... die Clique<lb/>
lieben, der sie angehören. Weil wir die Deutschen weder mammonistisch entarten,<lb/>
noch proletarisch verkommen lassen wollen, erregt unsere Sprache die Furcht und<lb/>
den Haß derer, die den Patriotismus nur für die Gebildeten und die Reichen in<lb/>
Anspruch nehmen möchten". Die &#x201E;Grenzboten" waren eben, was sie heute noch<lb/>
sind, national ohne parteiliche Bindung. Daran änderte nichts, daß Jentsch<lb/>
bereits vom Oktober 1891 ab halb und halb Nessortredakteur spielte (Grunow<lb/>
schickte ihm Manuskripte zur Durchsicht und Bearbeitung) und vom 18. August<lb/>
1894 ab regelmäßig jede Woche sein &#x201E;Sprüche!", so nannte er es, für die Rubrik<lb/>
&#x201E;Maßgebliches und Unmaßgebliches" beitrug. Herausgeber und Mitarbeiter<lb/>
einigten sich stets auf das, was ihnen gemeinsam'richtig schien. Das war nur<lb/>
in einem einzigen Falle schwierig. Grunow begeisterte sich für Bismarck, Jentsch<lb/>
stand diesem achtungsvoll-kritisch gegenüber. Die &#x201E;Grenzboten" traten seit 1880<lb/>
mit Überzeugung für die Politik Bismarcks ein, gerade in jener Zeit, als er den<lb/>
heftigsten Befehdungen ausgesetzt war; sie hatten schwer zu kämpfen und mußten<lb/>
Haß und Hohn ertragen. Sie vertraten natürlich auch Bismarcks Polenpolitik.<lb/>
Da konnte Jentsch nicht mitgehen. Er sah durch Bismarck die Germanisierung<lb/>
scheitern, die unter Ledochowsky, der den Posener Pfarrern das Politisieren auf-<lb/>
trieb, nach Jentsch, im besten Zuge gewesen war. Ihm galt der Sprachenerlaß nur<lb/>
als unerfreuliche Ursache fremdvölkischen Hasses. Doch erkannte Jentsch das Große</p><lb/>
          <note xml:id="FID_76" place="foot"> *) In: Briefe vom 8. Oktober 1893 erzählt er von einem bekannten demokratischen<lb/>
Politiker, oasz dieser ihn seiner Sympathie versichert habe, obgleich er (I.), als Stockkonser-<lb/>
vativer im konträrsten Gegensatz zu ihm stünde. Jentsch hat sich darüber halbtot gelacht und<lb/>
dem Herrn postwendend mitgeteilt, daß er, der angeblich stockkonservativ, augenblicklich in<lb/>
Gefahr sei, wegen allzu demokratischer Gesinnung "die Mitarbeiterschaft am'&#x201E;Schlesischen<lb/>
Tageblatt" und der &#x201E;Lübecker Eisenbahnzeitung" zu verlieren.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Carl Jentsch und die Grenzboten risiert sich in dieser Hinsicht treffend in den „Wandlungen" (II. Band S. 181): „Ich leide an einer lebhaften Sympathie mit allen Leidenden, die sich aus meinen Lebenserfahrungen zur Genüge erklärt, und an einem so reizbaren Gerechtigkeits¬ gefühl, daß mich jede Ungerechtigkeit, die ich erfahre, halb rasend macht." So erhob er denn seine Stimme zur Schulreform (Jahrg. 1890,1), trat in einem längeren Aufsatze für „Die Wünsche des höheren Lehrerstandes in Preußen" ein (1890, IV), äußerte sich in „Gegen den Polizeistaat" über das Vereinsrecht (.1890, IV), übte in „Was wir von den Zulukasfern lernen können" herbe Kritik an unserem Volkswirtschaftsbetriebe (1890, IV), brandmarkte den Mi߬ brauch der hypnotischen Suggestion (18W, 1) oder fand endlich kräftige Worte des Tadels für die vernunftwidrige Weise, mit der manche Gerichtshöfe am Buch¬ staben des Gesetzes festkleben, in den „Betrachtungen eines Laien über unsere Rechtspflege" (1894, II; als Broschüre im gleichen Jahre erschienen). — Die „Grenz¬ boten" waren konservativ und fortschrittlich zugleich. Sie räumten mit unvernünf¬ tigem Alten radikal auf, sie ließen aber vernünftige Tradition nicht antasten. Auch das entsprach Jentschs Auffassung, der bekanntlich mit seinen Ansichten zwischen zwei Stühlen zu sitzen pflegte,") freilich stets mehr links tendierend, worin der konservative Verlegerfreund das zweckmäßige Gegengewicht bildete. Manchmal wurde jener allerdings von dem temperamentvollen Freiheitsmanne mit fortgerissen und druckte Beiträge ab, von denen Jentsch in seiner Grnnow-Erinnerung schrieb: „Ich habe in den ,Grünen' so manches aussprechen dürfen, was kein anderes bürgerliches Organ aufgenommen hätte" („Grenzboten" 1906, Heft 18). Dafür dankte er dem Freunde in seinen Briefen häufig um so inniger, als er wußte, daß dieser um seinetwillen manchen alten Freund verlor (etwa nach Brief vom 31. Ja¬ nuar 1892: Prof. B), weil man nicht verstand oder nicht wahr haben wollte, daß ihm Vaterlandsliebe die Feder führte. Und doch war es so. Im Leitartikel des 45. Heftes des Jahrgangs 1895, den er zur Abwehr von Angriffen gegen die „Grenz¬ boten" mit Grunow gemeinsam verfaßte, schrieb er: „Deshalb, weil wir die Liebe zum Vaterlande so tief fasten, daß wir für unseres ganzen Volkes Wohl erglühen, ihm in allen seinen Schichten die freie Entwicklung seiner herrlichen Gaben wahren wollen, möchten uns die mit den Vaterlandslosen zusammenwerfen, die nur ... die Clique lieben, der sie angehören. Weil wir die Deutschen weder mammonistisch entarten, noch proletarisch verkommen lassen wollen, erregt unsere Sprache die Furcht und den Haß derer, die den Patriotismus nur für die Gebildeten und die Reichen in Anspruch nehmen möchten". Die „Grenzboten" waren eben, was sie heute noch sind, national ohne parteiliche Bindung. Daran änderte nichts, daß Jentsch bereits vom Oktober 1891 ab halb und halb Nessortredakteur spielte (Grunow schickte ihm Manuskripte zur Durchsicht und Bearbeitung) und vom 18. August 1894 ab regelmäßig jede Woche sein „Sprüche!", so nannte er es, für die Rubrik „Maßgebliches und Unmaßgebliches" beitrug. Herausgeber und Mitarbeiter einigten sich stets auf das, was ihnen gemeinsam'richtig schien. Das war nur in einem einzigen Falle schwierig. Grunow begeisterte sich für Bismarck, Jentsch stand diesem achtungsvoll-kritisch gegenüber. Die „Grenzboten" traten seit 1880 mit Überzeugung für die Politik Bismarcks ein, gerade in jener Zeit, als er den heftigsten Befehdungen ausgesetzt war; sie hatten schwer zu kämpfen und mußten Haß und Hohn ertragen. Sie vertraten natürlich auch Bismarcks Polenpolitik. Da konnte Jentsch nicht mitgehen. Er sah durch Bismarck die Germanisierung scheitern, die unter Ledochowsky, der den Posener Pfarrern das Politisieren auf- trieb, nach Jentsch, im besten Zuge gewesen war. Ihm galt der Sprachenerlaß nur als unerfreuliche Ursache fremdvölkischen Hasses. Doch erkannte Jentsch das Große *) In: Briefe vom 8. Oktober 1893 erzählt er von einem bekannten demokratischen Politiker, oasz dieser ihn seiner Sympathie versichert habe, obgleich er (I.), als Stockkonser- vativer im konträrsten Gegensatz zu ihm stünde. Jentsch hat sich darüber halbtot gelacht und dem Herrn postwendend mitgeteilt, daß er, der angeblich stockkonservativ, augenblicklich in Gefahr sei, wegen allzu demokratischer Gesinnung "die Mitarbeiterschaft am'„Schlesischen Tageblatt" und der „Lübecker Eisenbahnzeitung" zu verlieren.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/179>, abgerufen am 22.07.2024.