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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Lark Jentsch und die Grenzboten

der Arzt Mittel und Weg gewiesen, d. h. die Bemühungen des Volkes zum Besseren,
die Eigenhilfe durch den Zusammenschluß in Verbunden sind gut und nützlich.
Doch das "utopische" Kommunismusziel der Sozialdemokratie galt ihm für ver¬
fehlt. Wie das im einzelnen gedacht war. führte eine Artikelreihe aus unter dem
Titel "Weder Kommunismus noch Kapitalismus" (Jahrg. 1892, IV). Die Aufsätze
erregten großes Aussehen und wurden darum noch vor dem Abschluß der Serie in
der Wochenschrift als Buch edlere (bei Fr. Will). Grunow, Leipzig 1893, erschienen).
Eine Ergänzung erfuhren sie durch "Neue Ziele, neue Wege" (Jahrg. 1894 I, als
Broschüre im gleichen Jahre veröffentlicht). Jentsch vertrat darin die Ansicht, der
kapitalistische Großbetrieb bleibe für alle Zeiten uuausschaltbar, nur müsse er sich
beschränken und dürfe vor allen Dingen der Landwirtschaft nicht die Wurzeln ihrer
Kraft rauben. Des Volkes Wohlsein ruhe auf einem blühenden Bauernstande.
Dieser solle geschützt und gefördert werden, insbesondere durch innere Kolonisation,
für die Gebiete im Westen des Nussenreiches dereinst als notwendiger neuer Boden
erworben werden müßten. Da die Russen die Kornkammer Europas verkommen
ließen, sei es unsere Pflicht, weltrettend einzugreifen, mit friedlicher Durchdringung
oder -- Waffengewalt. Feindschaft werde darum möglicherweise entstehen zwischen
dem Zarenreich und Deutschland, Freundschaft sei deshalb zu suchen bei dem
europäischen Westen, Frankreich und England. Diese seine "Lieblingsschrulle" (so
nannte er sie selbst) hat Jentsch wieder und wieder in den "Grenzboten" und ander¬
wärts verbreitet, noch zuletzt im Jahrg. 1915, I: "Der Feind im Osten",.1910,
III: "Wo liegt unser Kolonialland?" und endlich, eingestellt auf das nicht
mehr zaristische Rußland der Gegenwart, 1917, II: "Friede und Bündnis im Osten".
-- Neben der vernünftigen binneneuropäischen Kolonisation galt Jentsch als ein
weiteres wichtiges Hilfsmittel zur Lösung der sozialen Frage die allgemeine ein¬
deutige Verständigung über die vielsinnigen nationalökonomischen Begriffe. Er
suchte sich und anderen Klarheit zu verschaffen, indem er alle ihm nur erreichbare
volkswirtschaftliche Literatur durchstudierte und die Grundgedanken seiner Lektüre
in sehr lehrreichen Referaten für die "Grenzboten" zusammenfaßte. So erörterte er
z. B. im Jahrg. 1893 die Währungsfrage, im Jahrg. 1894 das Eigentum, im
Jahrg. 1895 das Kapital. Das Endergebnis dieser Studien war die im besten
Sinne des Wortes populäre "Volkswirtschaftslehre". Der Verlag Neubauer, Köln,
hatte bei Jentsch angefragt, ob er ihm nicht ein nationalökonomisches Handbüchlein
schreiben wollte; Grunow wurde durch den Freund natürlich sofort von der An¬
frage benachrichtigt und griff seinerseits die Idee eifrig auf. Gemäß einer Post¬
karte vom 30- August 1894 sollte das Werkchen Ostern 1895 erscheinen, es dauerte
aber bis Jahresschluß. Seitdem sind 32000 Exemplare vertrieben worden, und
eine neue (vierte) Auflage, die Jentsch noch selbst vorbereitet und um einen die
Kriegsverhältnisse berücksichtigenden Abschnitt vermehrt hat, wird in Kürze zur
Ausgabe gelangen. -- Jentschs Standpunkt gegenüber Bestrebungen, die die soziale
Frage anders als er lösen wollten, näherte sich damals dem des evangelisch-sozialen
Kongresses der neunziger Jahre. Ihm war die Sozialdemokratie nicht "ein Ge¬
misch von Verrücktheit und Niedertracht, sondern ein notwendiges Erzeugnis wirt¬
schaftlicher Zustände und weltbeherrschender geistiger Strömungen", wie er bei
Gelegenheit selbst schrieb. Und die "Grenzboten" teilten diese seine Ansicht. Als eine
Antwort an die Adresse der "Schlesischen Zeitung" führten sie im Leitartikel des
48. Heftes vom Jahre 1895 aus: "Das also ist unsere Stellung zur Sozialdemo¬
kratie. Anstatt in das Geschrei einzustimmen: schlagt sie toll, sagen wir: nein,
laßt euch von ihr informieren und lernt, was ihr zu tun habt, um sie durch gründ¬
liche Änderung der Lage unseres Volkes verschwinden zu machen." Und darum
fanden die "Grenzboten" sich stets bereit, "den Finger auf Wunden im öffentlichen
Leben zu legen, auf Mißstände aufmerksam zu machen, heilsame Anregung zu
geben", unter dem Gesichtspunkte, daß es an der Zeit wäre, für die Vernünftigen
aller Parteien, jegliches Sonderinteresse beiseite zu stellen, und sich ohne Feind¬
schaft, Haß oder Voreingenommenheit zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufinden."
(Joh. Grunow im Jubiläumsheft.) Das traf Jentschs Art und Wollen. Er charakte-


Lark Jentsch und die Grenzboten

der Arzt Mittel und Weg gewiesen, d. h. die Bemühungen des Volkes zum Besseren,
die Eigenhilfe durch den Zusammenschluß in Verbunden sind gut und nützlich.
Doch das „utopische" Kommunismusziel der Sozialdemokratie galt ihm für ver¬
fehlt. Wie das im einzelnen gedacht war. führte eine Artikelreihe aus unter dem
Titel „Weder Kommunismus noch Kapitalismus" (Jahrg. 1892, IV). Die Aufsätze
erregten großes Aussehen und wurden darum noch vor dem Abschluß der Serie in
der Wochenschrift als Buch edlere (bei Fr. Will). Grunow, Leipzig 1893, erschienen).
Eine Ergänzung erfuhren sie durch „Neue Ziele, neue Wege" (Jahrg. 1894 I, als
Broschüre im gleichen Jahre veröffentlicht). Jentsch vertrat darin die Ansicht, der
kapitalistische Großbetrieb bleibe für alle Zeiten uuausschaltbar, nur müsse er sich
beschränken und dürfe vor allen Dingen der Landwirtschaft nicht die Wurzeln ihrer
Kraft rauben. Des Volkes Wohlsein ruhe auf einem blühenden Bauernstande.
Dieser solle geschützt und gefördert werden, insbesondere durch innere Kolonisation,
für die Gebiete im Westen des Nussenreiches dereinst als notwendiger neuer Boden
erworben werden müßten. Da die Russen die Kornkammer Europas verkommen
ließen, sei es unsere Pflicht, weltrettend einzugreifen, mit friedlicher Durchdringung
oder — Waffengewalt. Feindschaft werde darum möglicherweise entstehen zwischen
dem Zarenreich und Deutschland, Freundschaft sei deshalb zu suchen bei dem
europäischen Westen, Frankreich und England. Diese seine „Lieblingsschrulle" (so
nannte er sie selbst) hat Jentsch wieder und wieder in den „Grenzboten" und ander¬
wärts verbreitet, noch zuletzt im Jahrg. 1915, I: „Der Feind im Osten",.1910,
III: „Wo liegt unser Kolonialland?" und endlich, eingestellt auf das nicht
mehr zaristische Rußland der Gegenwart, 1917, II: „Friede und Bündnis im Osten".
— Neben der vernünftigen binneneuropäischen Kolonisation galt Jentsch als ein
weiteres wichtiges Hilfsmittel zur Lösung der sozialen Frage die allgemeine ein¬
deutige Verständigung über die vielsinnigen nationalökonomischen Begriffe. Er
suchte sich und anderen Klarheit zu verschaffen, indem er alle ihm nur erreichbare
volkswirtschaftliche Literatur durchstudierte und die Grundgedanken seiner Lektüre
in sehr lehrreichen Referaten für die „Grenzboten" zusammenfaßte. So erörterte er
z. B. im Jahrg. 1893 die Währungsfrage, im Jahrg. 1894 das Eigentum, im
Jahrg. 1895 das Kapital. Das Endergebnis dieser Studien war die im besten
Sinne des Wortes populäre „Volkswirtschaftslehre". Der Verlag Neubauer, Köln,
hatte bei Jentsch angefragt, ob er ihm nicht ein nationalökonomisches Handbüchlein
schreiben wollte; Grunow wurde durch den Freund natürlich sofort von der An¬
frage benachrichtigt und griff seinerseits die Idee eifrig auf. Gemäß einer Post¬
karte vom 30- August 1894 sollte das Werkchen Ostern 1895 erscheinen, es dauerte
aber bis Jahresschluß. Seitdem sind 32000 Exemplare vertrieben worden, und
eine neue (vierte) Auflage, die Jentsch noch selbst vorbereitet und um einen die
Kriegsverhältnisse berücksichtigenden Abschnitt vermehrt hat, wird in Kürze zur
Ausgabe gelangen. — Jentschs Standpunkt gegenüber Bestrebungen, die die soziale
Frage anders als er lösen wollten, näherte sich damals dem des evangelisch-sozialen
Kongresses der neunziger Jahre. Ihm war die Sozialdemokratie nicht „ein Ge¬
misch von Verrücktheit und Niedertracht, sondern ein notwendiges Erzeugnis wirt¬
schaftlicher Zustände und weltbeherrschender geistiger Strömungen", wie er bei
Gelegenheit selbst schrieb. Und die „Grenzboten" teilten diese seine Ansicht. Als eine
Antwort an die Adresse der „Schlesischen Zeitung" führten sie im Leitartikel des
48. Heftes vom Jahre 1895 aus: „Das also ist unsere Stellung zur Sozialdemo¬
kratie. Anstatt in das Geschrei einzustimmen: schlagt sie toll, sagen wir: nein,
laßt euch von ihr informieren und lernt, was ihr zu tun habt, um sie durch gründ¬
liche Änderung der Lage unseres Volkes verschwinden zu machen." Und darum
fanden die „Grenzboten" sich stets bereit, „den Finger auf Wunden im öffentlichen
Leben zu legen, auf Mißstände aufmerksam zu machen, heilsame Anregung zu
geben", unter dem Gesichtspunkte, daß es an der Zeit wäre, für die Vernünftigen
aller Parteien, jegliches Sonderinteresse beiseite zu stellen, und sich ohne Feind¬
schaft, Haß oder Voreingenommenheit zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufinden."
(Joh. Grunow im Jubiläumsheft.) Das traf Jentschs Art und Wollen. Er charakte-


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[0178] Lark Jentsch und die Grenzboten der Arzt Mittel und Weg gewiesen, d. h. die Bemühungen des Volkes zum Besseren, die Eigenhilfe durch den Zusammenschluß in Verbunden sind gut und nützlich. Doch das „utopische" Kommunismusziel der Sozialdemokratie galt ihm für ver¬ fehlt. Wie das im einzelnen gedacht war. führte eine Artikelreihe aus unter dem Titel „Weder Kommunismus noch Kapitalismus" (Jahrg. 1892, IV). Die Aufsätze erregten großes Aussehen und wurden darum noch vor dem Abschluß der Serie in der Wochenschrift als Buch edlere (bei Fr. Will). Grunow, Leipzig 1893, erschienen). Eine Ergänzung erfuhren sie durch „Neue Ziele, neue Wege" (Jahrg. 1894 I, als Broschüre im gleichen Jahre veröffentlicht). Jentsch vertrat darin die Ansicht, der kapitalistische Großbetrieb bleibe für alle Zeiten uuausschaltbar, nur müsse er sich beschränken und dürfe vor allen Dingen der Landwirtschaft nicht die Wurzeln ihrer Kraft rauben. Des Volkes Wohlsein ruhe auf einem blühenden Bauernstande. Dieser solle geschützt und gefördert werden, insbesondere durch innere Kolonisation, für die Gebiete im Westen des Nussenreiches dereinst als notwendiger neuer Boden erworben werden müßten. Da die Russen die Kornkammer Europas verkommen ließen, sei es unsere Pflicht, weltrettend einzugreifen, mit friedlicher Durchdringung oder — Waffengewalt. Feindschaft werde darum möglicherweise entstehen zwischen dem Zarenreich und Deutschland, Freundschaft sei deshalb zu suchen bei dem europäischen Westen, Frankreich und England. Diese seine „Lieblingsschrulle" (so nannte er sie selbst) hat Jentsch wieder und wieder in den „Grenzboten" und ander¬ wärts verbreitet, noch zuletzt im Jahrg. 1915, I: „Der Feind im Osten",.1910, III: „Wo liegt unser Kolonialland?" und endlich, eingestellt auf das nicht mehr zaristische Rußland der Gegenwart, 1917, II: „Friede und Bündnis im Osten". — Neben der vernünftigen binneneuropäischen Kolonisation galt Jentsch als ein weiteres wichtiges Hilfsmittel zur Lösung der sozialen Frage die allgemeine ein¬ deutige Verständigung über die vielsinnigen nationalökonomischen Begriffe. Er suchte sich und anderen Klarheit zu verschaffen, indem er alle ihm nur erreichbare volkswirtschaftliche Literatur durchstudierte und die Grundgedanken seiner Lektüre in sehr lehrreichen Referaten für die „Grenzboten" zusammenfaßte. So erörterte er z. B. im Jahrg. 1893 die Währungsfrage, im Jahrg. 1894 das Eigentum, im Jahrg. 1895 das Kapital. Das Endergebnis dieser Studien war die im besten Sinne des Wortes populäre „Volkswirtschaftslehre". Der Verlag Neubauer, Köln, hatte bei Jentsch angefragt, ob er ihm nicht ein nationalökonomisches Handbüchlein schreiben wollte; Grunow wurde durch den Freund natürlich sofort von der An¬ frage benachrichtigt und griff seinerseits die Idee eifrig auf. Gemäß einer Post¬ karte vom 30- August 1894 sollte das Werkchen Ostern 1895 erscheinen, es dauerte aber bis Jahresschluß. Seitdem sind 32000 Exemplare vertrieben worden, und eine neue (vierte) Auflage, die Jentsch noch selbst vorbereitet und um einen die Kriegsverhältnisse berücksichtigenden Abschnitt vermehrt hat, wird in Kürze zur Ausgabe gelangen. — Jentschs Standpunkt gegenüber Bestrebungen, die die soziale Frage anders als er lösen wollten, näherte sich damals dem des evangelisch-sozialen Kongresses der neunziger Jahre. Ihm war die Sozialdemokratie nicht „ein Ge¬ misch von Verrücktheit und Niedertracht, sondern ein notwendiges Erzeugnis wirt¬ schaftlicher Zustände und weltbeherrschender geistiger Strömungen", wie er bei Gelegenheit selbst schrieb. Und die „Grenzboten" teilten diese seine Ansicht. Als eine Antwort an die Adresse der „Schlesischen Zeitung" führten sie im Leitartikel des 48. Heftes vom Jahre 1895 aus: „Das also ist unsere Stellung zur Sozialdemo¬ kratie. Anstatt in das Geschrei einzustimmen: schlagt sie toll, sagen wir: nein, laßt euch von ihr informieren und lernt, was ihr zu tun habt, um sie durch gründ¬ liche Änderung der Lage unseres Volkes verschwinden zu machen." Und darum fanden die „Grenzboten" sich stets bereit, „den Finger auf Wunden im öffentlichen Leben zu legen, auf Mißstände aufmerksam zu machen, heilsame Anregung zu geben", unter dem Gesichtspunkte, daß es an der Zeit wäre, für die Vernünftigen aller Parteien, jegliches Sonderinteresse beiseite zu stellen, und sich ohne Feind¬ schaft, Haß oder Voreingenommenheit zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufinden." (Joh. Grunow im Jubiläumsheft.) Das traf Jentschs Art und Wollen. Er charakte-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/178>, abgerufen am 22.07.2024.