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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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Preußen am Wendepunkt

Preußen am Wendepunkt

in 11. Januar haben die Beratungen der Wahlrechtskommission
begonnen. In das schon bei den Plenardebatten stürmisch erregte
Meer der Meinungen, dessen Wogen sich über Weihnachten beruhigt
hatten, kommt aus obigem Anlaß neue Bewegung. Noch weiß
niemand, wohin sie führen wird, nur das eine ist klar, wir stehen
an einem Wendepunkte der preußisch-deutschen Geschichte. Auch auf dem Gebiete
der inneren Politik beginnt eine neue Epoche.

Der am W. November 1917 dem Landtag zugegangene "Entwurf eines
Gesetzes, betreffend die Wahlen zum Hause der Abgeordneten" schlägt vor, in
Preußen das (wenigstens formell) allgemeine, aber abgestufte Dreiklassenwahlrecht,
durch ein (formell und materiell) allgemeines und überdies "gleiches" zu ersetzen,
das in den deutschen Südstaaten schon besteht. Wie einst beim Übergang vom
Absolutismus zum konstitutionellen Versassungsstaate nimmt auch diesmal die
Wellenbewegung der politischen "Lautverschiebung" ihren Lauf vom Gebirge
zum Meer.

Beide Erscheinungen sind Teilvorgänge jenes großen Prozesses der "Demo¬
kratisierung" des Erdteils, den man nach den Erfahrungen von anderthalb Jahr-
Hunderten als Dominante unseres politischen Lebens ansehen kann. Das Urteil
über ihn hängt ab von der Bedeutung, die dem Schlagwort "Demokratisierung"
gegeben wird. Denn dies ist wie alle seinesgleichen -- man gedenke nur der Lehre
vom "monarchischen Prinzip" im neunzehnten Jahrhundert -- vieldeutig und
tendenziöser Ausbeutung zugänglich. Versteht man darunter die Gewinnung der
Massen für den Staat und des Staates für die Massen, also Verbreitung und
dadurch erhöhte Sicherung des Staatsgedankens, so ist hier zweifellos von der
Menschheit, die im übrigen ja durchaus nicht "gegebene" Forderung einer stetigen
Vorwärtsentwicklung erfüllt -- soweit die unseren Blicken zugängliche kurze Weg¬
strecke eine richtige Beobachtung gestattet.

Indem das Staatsbewußtsein nicht nur wie einst den Herrscher mit seinen
militärischen und zivilem "Beamten" erfüllt, sondern immer weitere Kreise aus
dumpfer Verpuppung bloßer Passivuntertanenschaft zu staatsbürgerlichen Leben
erwachen, vollzieht sich natürlich auch eine Neuverteilung politischer Funktionen
und Rechte. Der staatliche Organismus hat gleichsam neue Zellen angesetzt, die
in Leistung und Gegenleistung als vollwertige Elemente des Ganzen gelten wollen.

Man äußert Sorgen über die Folgen einer "Demokratisierung" unseres
Staatslebens. Sie haben mit rückschrittlicher Gesinnung und Mißtrauen gegen¬
über der Masse unserer Volksgenossen nichts zu tun, in ihnen offenbart sich viel¬
mehr eine ganz berechtigte Stimmung der unbekannten Zukunft gegenüber. Man
ist sich über die Tragweite und Auswirkung neuer Einrichtungen noch nicht im
klaren, hat aber andererseits aus der Geschichte die unwiderlegbaren Zeugnisse für
den Verfall von Staaten aus Gründen des gestörten Gleichgewichts der Gewalten.
Jene Besorgnis richtet sich also ehrlicherweise nie gegen den Prozeß der "Politi¬
sierung" immer zahlreicherer Individuen; wie dürfte sie das auch, wächst doch


Grenzlwten I 1918 8
Preußen am Wendepunkt

Preußen am Wendepunkt

in 11. Januar haben die Beratungen der Wahlrechtskommission
begonnen. In das schon bei den Plenardebatten stürmisch erregte
Meer der Meinungen, dessen Wogen sich über Weihnachten beruhigt
hatten, kommt aus obigem Anlaß neue Bewegung. Noch weiß
niemand, wohin sie führen wird, nur das eine ist klar, wir stehen
an einem Wendepunkte der preußisch-deutschen Geschichte. Auch auf dem Gebiete
der inneren Politik beginnt eine neue Epoche.

Der am W. November 1917 dem Landtag zugegangene „Entwurf eines
Gesetzes, betreffend die Wahlen zum Hause der Abgeordneten" schlägt vor, in
Preußen das (wenigstens formell) allgemeine, aber abgestufte Dreiklassenwahlrecht,
durch ein (formell und materiell) allgemeines und überdies „gleiches" zu ersetzen,
das in den deutschen Südstaaten schon besteht. Wie einst beim Übergang vom
Absolutismus zum konstitutionellen Versassungsstaate nimmt auch diesmal die
Wellenbewegung der politischen „Lautverschiebung" ihren Lauf vom Gebirge
zum Meer.

Beide Erscheinungen sind Teilvorgänge jenes großen Prozesses der „Demo¬
kratisierung" des Erdteils, den man nach den Erfahrungen von anderthalb Jahr-
Hunderten als Dominante unseres politischen Lebens ansehen kann. Das Urteil
über ihn hängt ab von der Bedeutung, die dem Schlagwort „Demokratisierung"
gegeben wird. Denn dies ist wie alle seinesgleichen — man gedenke nur der Lehre
vom „monarchischen Prinzip" im neunzehnten Jahrhundert — vieldeutig und
tendenziöser Ausbeutung zugänglich. Versteht man darunter die Gewinnung der
Massen für den Staat und des Staates für die Massen, also Verbreitung und
dadurch erhöhte Sicherung des Staatsgedankens, so ist hier zweifellos von der
Menschheit, die im übrigen ja durchaus nicht „gegebene" Forderung einer stetigen
Vorwärtsentwicklung erfüllt — soweit die unseren Blicken zugängliche kurze Weg¬
strecke eine richtige Beobachtung gestattet.

Indem das Staatsbewußtsein nicht nur wie einst den Herrscher mit seinen
militärischen und zivilem „Beamten" erfüllt, sondern immer weitere Kreise aus
dumpfer Verpuppung bloßer Passivuntertanenschaft zu staatsbürgerlichen Leben
erwachen, vollzieht sich natürlich auch eine Neuverteilung politischer Funktionen
und Rechte. Der staatliche Organismus hat gleichsam neue Zellen angesetzt, die
in Leistung und Gegenleistung als vollwertige Elemente des Ganzen gelten wollen.

Man äußert Sorgen über die Folgen einer „Demokratisierung" unseres
Staatslebens. Sie haben mit rückschrittlicher Gesinnung und Mißtrauen gegen¬
über der Masse unserer Volksgenossen nichts zu tun, in ihnen offenbart sich viel¬
mehr eine ganz berechtigte Stimmung der unbekannten Zukunft gegenüber. Man
ist sich über die Tragweite und Auswirkung neuer Einrichtungen noch nicht im
klaren, hat aber andererseits aus der Geschichte die unwiderlegbaren Zeugnisse für
den Verfall von Staaten aus Gründen des gestörten Gleichgewichts der Gewalten.
Jene Besorgnis richtet sich also ehrlicherweise nie gegen den Prozeß der „Politi¬
sierung" immer zahlreicherer Individuen; wie dürfte sie das auch, wächst doch


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[0109] Preußen am Wendepunkt Preußen am Wendepunkt in 11. Januar haben die Beratungen der Wahlrechtskommission begonnen. In das schon bei den Plenardebatten stürmisch erregte Meer der Meinungen, dessen Wogen sich über Weihnachten beruhigt hatten, kommt aus obigem Anlaß neue Bewegung. Noch weiß niemand, wohin sie führen wird, nur das eine ist klar, wir stehen an einem Wendepunkte der preußisch-deutschen Geschichte. Auch auf dem Gebiete der inneren Politik beginnt eine neue Epoche. Der am W. November 1917 dem Landtag zugegangene „Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Wahlen zum Hause der Abgeordneten" schlägt vor, in Preußen das (wenigstens formell) allgemeine, aber abgestufte Dreiklassenwahlrecht, durch ein (formell und materiell) allgemeines und überdies „gleiches" zu ersetzen, das in den deutschen Südstaaten schon besteht. Wie einst beim Übergang vom Absolutismus zum konstitutionellen Versassungsstaate nimmt auch diesmal die Wellenbewegung der politischen „Lautverschiebung" ihren Lauf vom Gebirge zum Meer. Beide Erscheinungen sind Teilvorgänge jenes großen Prozesses der „Demo¬ kratisierung" des Erdteils, den man nach den Erfahrungen von anderthalb Jahr- Hunderten als Dominante unseres politischen Lebens ansehen kann. Das Urteil über ihn hängt ab von der Bedeutung, die dem Schlagwort „Demokratisierung" gegeben wird. Denn dies ist wie alle seinesgleichen — man gedenke nur der Lehre vom „monarchischen Prinzip" im neunzehnten Jahrhundert — vieldeutig und tendenziöser Ausbeutung zugänglich. Versteht man darunter die Gewinnung der Massen für den Staat und des Staates für die Massen, also Verbreitung und dadurch erhöhte Sicherung des Staatsgedankens, so ist hier zweifellos von der Menschheit, die im übrigen ja durchaus nicht „gegebene" Forderung einer stetigen Vorwärtsentwicklung erfüllt — soweit die unseren Blicken zugängliche kurze Weg¬ strecke eine richtige Beobachtung gestattet. Indem das Staatsbewußtsein nicht nur wie einst den Herrscher mit seinen militärischen und zivilem „Beamten" erfüllt, sondern immer weitere Kreise aus dumpfer Verpuppung bloßer Passivuntertanenschaft zu staatsbürgerlichen Leben erwachen, vollzieht sich natürlich auch eine Neuverteilung politischer Funktionen und Rechte. Der staatliche Organismus hat gleichsam neue Zellen angesetzt, die in Leistung und Gegenleistung als vollwertige Elemente des Ganzen gelten wollen. Man äußert Sorgen über die Folgen einer „Demokratisierung" unseres Staatslebens. Sie haben mit rückschrittlicher Gesinnung und Mißtrauen gegen¬ über der Masse unserer Volksgenossen nichts zu tun, in ihnen offenbart sich viel¬ mehr eine ganz berechtigte Stimmung der unbekannten Zukunft gegenüber. Man ist sich über die Tragweite und Auswirkung neuer Einrichtungen noch nicht im klaren, hat aber andererseits aus der Geschichte die unwiderlegbaren Zeugnisse für den Verfall von Staaten aus Gründen des gestörten Gleichgewichts der Gewalten. Jene Besorgnis richtet sich also ehrlicherweise nie gegen den Prozeß der „Politi¬ sierung" immer zahlreicherer Individuen; wie dürfte sie das auch, wächst doch Grenzlwten I 1918 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/109>, abgerufen am 22.07.2024.