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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Ueber den Zusammenbang von innerer und äußerer Politik

verständlich, daß sich "tre ^e^rse ol libert^" im Laufe der Zeit vergrößern
mußte proportional mit der zunehmenden politischen Reife der sich zu Staats¬
bürgern entwickelnden Untertanen. Wenn Preuß meint, das alte Preußen sei
vor den Ideen von 1789 zusammengebrochen und dann von den Stein-
Hardenbergschen Reformen (im Gegensatze zu der "Weisheit" Seeleys) redet,
so ist weder der erste Satz richtig, da Preußen eben nicht ein anderes Frank¬
reich war, noch die durchscheinende Beziehung zu dem zweiten gegeben. Denn
der Freiherr vom Stein wollte zwar eine Umbildung der "veralteten" Ver¬
fassungseinrichtungen, nicht aber Menschenrechte und Volkssouveränität, Ge¬
waltentrennung und soziale Gleichheit mit Abschaffung des Adels. Und Harden-
berg wünschte (in seiner bekannten knappen Formel) wohl demokratische In¬
stitutionen, aber in einem monarchischen Gemeinwesen.

Nur in der gegenseitigen Auswirkung jener polaren Faktoren. Autorität
und Freiheit, lag dünn unser politischer Fortschritt im Laufe des neunzehnten
Jahrhunderts. Trotzdem die gesellschaftliche Emanzipation zu Beginn die reiche
Fülle genossenschaftlichen Lebens für den Staat freigemacht hatte, wäre doch
das Werk der nationalen Einigung gescheitert, wenn nicht die eigentümlich-
obrigkeitlichen Kräfte dieses Staates eingegriffen hätten. Aus dem Zustand
politischer Ohnmacht hat uns doch schließlich nicht die vermehrte "liberty",
sondern das "Mvernment" herausgeholfen. Der Reichsgründungsversuch der
Paulskirche, der ein Aufgehen Preußens in Deutschland und ein parlamen¬
tarisches Regime voraussetzte, scheiterte bekanntlich und allein die Bismarcksche
Politik des kerro i^nique mit der geschlossenen Stoßkraft des preußischen "Obrig¬
keitsstaates" hat dem äußeren Gegendruck ein widerstandsfähiges Bollwerk er¬
richten können.

Und war das nötige Verständnis und Bekenntnis für die machtpolitischen
Notwendigkeiten bei dem Rechtsnachfolger des Frankfurter Parlaments im
Neuen Reich in dem Grade vorhanden, daß man sich getrauen konnte, die
Verantwortlichkeit darüber ganz in diese Hände zu legen? Wenn man nach¬
liest, was Fürst Bülow in seinem Buche über die Aufnahme der Heeres- und
Flottenvorlagen im Reichstage schreibt, wird ein Zweifel in der Antwort ge¬
stattet sein.

Doch diese Perspektive tritt uns im Kriege Lebenden weit zurück, die
Gegenwart steht wieder stärker denn je unter dem Zeichen der anderen jener
zwei Kräfte, die wir in unserem Staatskörper wie die beiden Adersysteme un¬
ablässig an der Arbeit sehen.

In der individuellen Weiterbildung lag und liegt, wie Meinecke jüngst
betont hat, der Grundzug deutschen politischen Denkens gegenüber dem west¬
lichen Begriff einer "Normalfreiheit", den die Botschaft des Präsidenten Wilson
in klassischer Prägung verkündet und der wiederum jenen von Seelen aus¬
drücklich vermiedenen Fehler eines verabsolutierenden Denkens aufweist. Als
Forderung einer proportionalen Ausgestaltung von libert^ und Mvernment


Ueber den Zusammenbang von innerer und äußerer Politik

verständlich, daß sich «tre ^e^rse ol libert^" im Laufe der Zeit vergrößern
mußte proportional mit der zunehmenden politischen Reife der sich zu Staats¬
bürgern entwickelnden Untertanen. Wenn Preuß meint, das alte Preußen sei
vor den Ideen von 1789 zusammengebrochen und dann von den Stein-
Hardenbergschen Reformen (im Gegensatze zu der „Weisheit" Seeleys) redet,
so ist weder der erste Satz richtig, da Preußen eben nicht ein anderes Frank¬
reich war, noch die durchscheinende Beziehung zu dem zweiten gegeben. Denn
der Freiherr vom Stein wollte zwar eine Umbildung der „veralteten" Ver¬
fassungseinrichtungen, nicht aber Menschenrechte und Volkssouveränität, Ge¬
waltentrennung und soziale Gleichheit mit Abschaffung des Adels. Und Harden-
berg wünschte (in seiner bekannten knappen Formel) wohl demokratische In¬
stitutionen, aber in einem monarchischen Gemeinwesen.

Nur in der gegenseitigen Auswirkung jener polaren Faktoren. Autorität
und Freiheit, lag dünn unser politischer Fortschritt im Laufe des neunzehnten
Jahrhunderts. Trotzdem die gesellschaftliche Emanzipation zu Beginn die reiche
Fülle genossenschaftlichen Lebens für den Staat freigemacht hatte, wäre doch
das Werk der nationalen Einigung gescheitert, wenn nicht die eigentümlich-
obrigkeitlichen Kräfte dieses Staates eingegriffen hätten. Aus dem Zustand
politischer Ohnmacht hat uns doch schließlich nicht die vermehrte „liberty",
sondern das „Mvernment" herausgeholfen. Der Reichsgründungsversuch der
Paulskirche, der ein Aufgehen Preußens in Deutschland und ein parlamen¬
tarisches Regime voraussetzte, scheiterte bekanntlich und allein die Bismarcksche
Politik des kerro i^nique mit der geschlossenen Stoßkraft des preußischen „Obrig¬
keitsstaates" hat dem äußeren Gegendruck ein widerstandsfähiges Bollwerk er¬
richten können.

Und war das nötige Verständnis und Bekenntnis für die machtpolitischen
Notwendigkeiten bei dem Rechtsnachfolger des Frankfurter Parlaments im
Neuen Reich in dem Grade vorhanden, daß man sich getrauen konnte, die
Verantwortlichkeit darüber ganz in diese Hände zu legen? Wenn man nach¬
liest, was Fürst Bülow in seinem Buche über die Aufnahme der Heeres- und
Flottenvorlagen im Reichstage schreibt, wird ein Zweifel in der Antwort ge¬
stattet sein.

Doch diese Perspektive tritt uns im Kriege Lebenden weit zurück, die
Gegenwart steht wieder stärker denn je unter dem Zeichen der anderen jener
zwei Kräfte, die wir in unserem Staatskörper wie die beiden Adersysteme un¬
ablässig an der Arbeit sehen.

In der individuellen Weiterbildung lag und liegt, wie Meinecke jüngst
betont hat, der Grundzug deutschen politischen Denkens gegenüber dem west¬
lichen Begriff einer „Normalfreiheit", den die Botschaft des Präsidenten Wilson
in klassischer Prägung verkündet und der wiederum jenen von Seelen aus¬
drücklich vermiedenen Fehler eines verabsolutierenden Denkens aufweist. Als
Forderung einer proportionalen Ausgestaltung von libert^ und Mvernment


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[0068] Ueber den Zusammenbang von innerer und äußerer Politik verständlich, daß sich «tre ^e^rse ol libert^" im Laufe der Zeit vergrößern mußte proportional mit der zunehmenden politischen Reife der sich zu Staats¬ bürgern entwickelnden Untertanen. Wenn Preuß meint, das alte Preußen sei vor den Ideen von 1789 zusammengebrochen und dann von den Stein- Hardenbergschen Reformen (im Gegensatze zu der „Weisheit" Seeleys) redet, so ist weder der erste Satz richtig, da Preußen eben nicht ein anderes Frank¬ reich war, noch die durchscheinende Beziehung zu dem zweiten gegeben. Denn der Freiherr vom Stein wollte zwar eine Umbildung der „veralteten" Ver¬ fassungseinrichtungen, nicht aber Menschenrechte und Volkssouveränität, Ge¬ waltentrennung und soziale Gleichheit mit Abschaffung des Adels. Und Harden- berg wünschte (in seiner bekannten knappen Formel) wohl demokratische In¬ stitutionen, aber in einem monarchischen Gemeinwesen. Nur in der gegenseitigen Auswirkung jener polaren Faktoren. Autorität und Freiheit, lag dünn unser politischer Fortschritt im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts. Trotzdem die gesellschaftliche Emanzipation zu Beginn die reiche Fülle genossenschaftlichen Lebens für den Staat freigemacht hatte, wäre doch das Werk der nationalen Einigung gescheitert, wenn nicht die eigentümlich- obrigkeitlichen Kräfte dieses Staates eingegriffen hätten. Aus dem Zustand politischer Ohnmacht hat uns doch schließlich nicht die vermehrte „liberty", sondern das „Mvernment" herausgeholfen. Der Reichsgründungsversuch der Paulskirche, der ein Aufgehen Preußens in Deutschland und ein parlamen¬ tarisches Regime voraussetzte, scheiterte bekanntlich und allein die Bismarcksche Politik des kerro i^nique mit der geschlossenen Stoßkraft des preußischen „Obrig¬ keitsstaates" hat dem äußeren Gegendruck ein widerstandsfähiges Bollwerk er¬ richten können. Und war das nötige Verständnis und Bekenntnis für die machtpolitischen Notwendigkeiten bei dem Rechtsnachfolger des Frankfurter Parlaments im Neuen Reich in dem Grade vorhanden, daß man sich getrauen konnte, die Verantwortlichkeit darüber ganz in diese Hände zu legen? Wenn man nach¬ liest, was Fürst Bülow in seinem Buche über die Aufnahme der Heeres- und Flottenvorlagen im Reichstage schreibt, wird ein Zweifel in der Antwort ge¬ stattet sein. Doch diese Perspektive tritt uns im Kriege Lebenden weit zurück, die Gegenwart steht wieder stärker denn je unter dem Zeichen der anderen jener zwei Kräfte, die wir in unserem Staatskörper wie die beiden Adersysteme un¬ ablässig an der Arbeit sehen. In der individuellen Weiterbildung lag und liegt, wie Meinecke jüngst betont hat, der Grundzug deutschen politischen Denkens gegenüber dem west¬ lichen Begriff einer „Normalfreiheit", den die Botschaft des Präsidenten Wilson in klassischer Prägung verkündet und der wiederum jenen von Seelen aus¬ drücklich vermiedenen Fehler eines verabsolutierenden Denkens aufweist. Als Forderung einer proportionalen Ausgestaltung von libert^ und Mvernment

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/68>, abgerufen am 27.07.2024.