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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Hjalmar Brantings Sieg

neue gewaltige Aussichten zu eröffnen. Er ist ein wichtiger taktischer Erfolg
lokal-schwedischer Natur, noch kein strategischer Sieg, der den bürgerlichen Gegner
in breiter Front aus seinen Stellungen manövriert hätte. Es ist eine mit
vielen noch nicht übersehbaren Opfern gewonnene Einzelstellung. Und das
bedeutsamste in unserem Zusammenhange: Branting selbst trägt vor allen an¬
deren die Verantwortung dafür, wenn eine der Gesamtdemokratie Europas an
sich besonders günstige Lage, wie sie durch die geplante Stockholmer Sozialisten¬
konferenz unter starker Unterstützung von bürgerlichen Kreisen und Regierungen
geschaffen war, nicht wirksamer ausgenützt zu werden vermochte. Ob es von
seinem politischen Standpunkt aus ein Fehler oder ein wohlerwogener Schritt
zur Festigung der inneren Front seiner Partei war und damit des Einflusses
der Internationalen, das wird die nächste Zukunft lehren. Und gerade von
diesem Gesichtspunkt aus, der uns dicht heran an die brennendsten Fragen der
großen Politik führt, verdient Brantings Wahlsieg die Aufmerksamkeit der deutschen
denkenden Kreise, unserer Leser.




In Brantings Wahlsieg liegt ein Zusammenbruch, liegt der Niederbruch
einer ethischen Kraft, der die schwedische Sozialdemokratie und mit ihr Branting
selbst ihren Aufstieg und ihre Stellung im schwedischen Volk, in diesem über¬
aus rechtlich denkenden, sich selbst genügsamen, von keinem Welten stürmenden
Ehrgeiz geplagten schwedischen Volk verdanken. Aus den Berichten der deutschen
Tagespresse ist dieser Gesichtspunkt nicht erkennbar, weil sie die Bedeutung der
Tatsache, daß Lindhagen, der sogenannte Jungsozialist, nach zwanzigjähriger
Parlamentstätigkeit nicht wieder gewählt worden ist. nicht genügend würdigt.
Für sie und auch für die schwedische Presse ist die Niederlage Lindhagens nichts
als ein Wahlereignis. Lindhagen selbst nur ein seiner Macht entkleideter Volks¬
tribun wie tausend andere, mit dem man sich bei dem stürmischen Drängen
der Ereignisse einstweilen nicht zu beschäftigen braucht. In Stockholm wird
das Ereignis bestenfalls als ein pikanter Beitrag zum Lokalklatsch erörtert, im
übrigen begnügt man sich mit der Erklärung, daß der schwierige Fraktions¬
genosse und persönliche Gegner Brantings, der mit seinen unbequemen Er¬
gänzungsanträgen die Verhandlungen des Parlaments oft genug zur Unerträg-
lichkeit verlängerte, im Interesse der Geschlossenheit der Parteipolitik eben aus
dem Reichstag hinaus mußte.

Hinter Lindhagens Niederlage steckt aber doch mehr. Richtig zwischen die
Probleme der Zeit gestellt, beleuchtet sie eine sich in der ganzen Welt voll¬
ziehende Kräftegruppierung: die Tatsache, daß die Sozialdemokratie aller Länder
außerhalb der Mittelmächte sich in den Dienst des internationalen Kapitalismus
stellt und dadurch Vollzieher eines wirtschaftlichen Programmpunktes der Liberalen


Hjalmar Brantings Sieg

neue gewaltige Aussichten zu eröffnen. Er ist ein wichtiger taktischer Erfolg
lokal-schwedischer Natur, noch kein strategischer Sieg, der den bürgerlichen Gegner
in breiter Front aus seinen Stellungen manövriert hätte. Es ist eine mit
vielen noch nicht übersehbaren Opfern gewonnene Einzelstellung. Und das
bedeutsamste in unserem Zusammenhange: Branting selbst trägt vor allen an¬
deren die Verantwortung dafür, wenn eine der Gesamtdemokratie Europas an
sich besonders günstige Lage, wie sie durch die geplante Stockholmer Sozialisten¬
konferenz unter starker Unterstützung von bürgerlichen Kreisen und Regierungen
geschaffen war, nicht wirksamer ausgenützt zu werden vermochte. Ob es von
seinem politischen Standpunkt aus ein Fehler oder ein wohlerwogener Schritt
zur Festigung der inneren Front seiner Partei war und damit des Einflusses
der Internationalen, das wird die nächste Zukunft lehren. Und gerade von
diesem Gesichtspunkt aus, der uns dicht heran an die brennendsten Fragen der
großen Politik führt, verdient Brantings Wahlsieg die Aufmerksamkeit der deutschen
denkenden Kreise, unserer Leser.




In Brantings Wahlsieg liegt ein Zusammenbruch, liegt der Niederbruch
einer ethischen Kraft, der die schwedische Sozialdemokratie und mit ihr Branting
selbst ihren Aufstieg und ihre Stellung im schwedischen Volk, in diesem über¬
aus rechtlich denkenden, sich selbst genügsamen, von keinem Welten stürmenden
Ehrgeiz geplagten schwedischen Volk verdanken. Aus den Berichten der deutschen
Tagespresse ist dieser Gesichtspunkt nicht erkennbar, weil sie die Bedeutung der
Tatsache, daß Lindhagen, der sogenannte Jungsozialist, nach zwanzigjähriger
Parlamentstätigkeit nicht wieder gewählt worden ist. nicht genügend würdigt.
Für sie und auch für die schwedische Presse ist die Niederlage Lindhagens nichts
als ein Wahlereignis. Lindhagen selbst nur ein seiner Macht entkleideter Volks¬
tribun wie tausend andere, mit dem man sich bei dem stürmischen Drängen
der Ereignisse einstweilen nicht zu beschäftigen braucht. In Stockholm wird
das Ereignis bestenfalls als ein pikanter Beitrag zum Lokalklatsch erörtert, im
übrigen begnügt man sich mit der Erklärung, daß der schwierige Fraktions¬
genosse und persönliche Gegner Brantings, der mit seinen unbequemen Er¬
gänzungsanträgen die Verhandlungen des Parlaments oft genug zur Unerträg-
lichkeit verlängerte, im Interesse der Geschlossenheit der Parteipolitik eben aus
dem Reichstag hinaus mußte.

Hinter Lindhagens Niederlage steckt aber doch mehr. Richtig zwischen die
Probleme der Zeit gestellt, beleuchtet sie eine sich in der ganzen Welt voll¬
ziehende Kräftegruppierung: die Tatsache, daß die Sozialdemokratie aller Länder
außerhalb der Mittelmächte sich in den Dienst des internationalen Kapitalismus
stellt und dadurch Vollzieher eines wirtschaftlichen Programmpunktes der Liberalen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/46>, abgerufen am 09.11.2024.