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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

Es empfiehlt sich daher, wenn der Eintritt der Voraussetzung nicht in
sicherer Aussicht, der erwerbende Staat der gebotenen Zustimmung seiner Stände
nicht gewiß ist. bis zur Beseitigung des Zweifels mit dem Erlasse des ver-
fassungsündernden Reichsgesetzes zu warten. Das zur Annexion ermächtigende
Landesgesetz tritt dann dem Reichsgesetze voran.

3. Ob für den einverleibenden Staat die Erstreckung seiner Gewalt auf
das neue Gebiet eine Verfassungsänderung bedeutet oder doch nur auf Grund
eines Gesetzes erfolgen kann, läßt sich nicht allgemein, sondern nur an der Hand
der Einzelverfassung entscheiden. Soweit es zutrifft, muß die Zustimmung des
Landtages zur Annexion -- eventuell in Gestalt verfassungsändernden Gesetzes --
erlangt sein, ehe diese rechtsgültig erfolgen kann.

Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 bestimmt in Art. 2. daß
die Grenzen des Staatsgebietes nur durch Gesetz geändert werden können. Da von
"Gesetz" schlechthin die Rede ist. so genügt einfaches Gesetz, die erschwerenden For¬
men, wie sie Art. 107 für Verfassungsänderung vorschreibt, finden nicht Anwendung.

In -Bayern bedarf nach herrschender Auffassung -- v. Sende!-Piloty
"Bayer. Verfassungsrecht" 3. Aufl. Bd. I S. 205 bei Ur. 10 -- der König zu
einem Gebietserwerbe ständischer Zustimmung nicht, weder verfassungsänderndes.
noch gewöhnliches Gesetz ist erforderlich. Nicht so einfach, aber hier nicht weiter
zu verfolgen ist die Frage, in welchem Verhältnis der neue Gebietsteil zum
bayerischen Verfassungsrechte stehen würde.

IV. Die eine wie die andere Umwandlung beseitigt, wie bereits dargelegt
wurde, das Stimmrecht Elsaß-Lothringens im Bundesrate, weil die Voraus¬
setzungen des Art. 6 a der Reichsverfassung dann nicht mehr vorliegen. Bei
Erhebung zum Bundesstaate würde aber selbstverständlich auch Stimmrecht
erteilt werden, vermutlich mit der bisherigen Stimmenzahl und unter Wegfall
der jetzt bestehenden Beschränkungen. Ob im Falle der Einverleibung die
Stimmenzahl des, der annektierenden Staaten eine Mehrung erfahren würde,
ist nicht ebenso sicher, doch dürfte wahrscheinlich so beschlossen werden.

Die Zahl der Reichstagsabgeordneten, die im Gesetz über die Einführung
der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen vom 25. Juni 1873 dem Reichslande
zugebilligt ist, bleibt auch dem Bundesstaate, wofern nicht anders bestimmt wird.
Dagegen bedarf bei Einverleibung diese Frage erneuter Regelung. Es kann
nicht ohne weiteres angenommen werden, daß der vergrößerte Einzelstaat ein
entsprechendes Mehr an Reichstagsabgeordneten haben soll, während Gleich¬
behandlung des Bundesstaates mit dem Reichslande Elsaß-Lothringen in der
Abgeordnetenzahl naturgemäß ist. Gelangt das Gebiet an mehrere Einzel¬
staaten, so ist vollends Neubestimmung geboten.

Die Neuregelung ergibt in beiden Beziehungen eine Änderung der Reichs¬
verfassung. Es gilt daher die erschwerende Voraussetzung des Art. 78 der
Reichsverfassung: die Vorlage würde an vierzehn dissentierenden Stimmen im
B



Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande

Es empfiehlt sich daher, wenn der Eintritt der Voraussetzung nicht in
sicherer Aussicht, der erwerbende Staat der gebotenen Zustimmung seiner Stände
nicht gewiß ist. bis zur Beseitigung des Zweifels mit dem Erlasse des ver-
fassungsündernden Reichsgesetzes zu warten. Das zur Annexion ermächtigende
Landesgesetz tritt dann dem Reichsgesetze voran.

3. Ob für den einverleibenden Staat die Erstreckung seiner Gewalt auf
das neue Gebiet eine Verfassungsänderung bedeutet oder doch nur auf Grund
eines Gesetzes erfolgen kann, läßt sich nicht allgemein, sondern nur an der Hand
der Einzelverfassung entscheiden. Soweit es zutrifft, muß die Zustimmung des
Landtages zur Annexion — eventuell in Gestalt verfassungsändernden Gesetzes —
erlangt sein, ehe diese rechtsgültig erfolgen kann.

Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 bestimmt in Art. 2. daß
die Grenzen des Staatsgebietes nur durch Gesetz geändert werden können. Da von
„Gesetz" schlechthin die Rede ist. so genügt einfaches Gesetz, die erschwerenden For¬
men, wie sie Art. 107 für Verfassungsänderung vorschreibt, finden nicht Anwendung.

In -Bayern bedarf nach herrschender Auffassung — v. Sende!-Piloty
„Bayer. Verfassungsrecht" 3. Aufl. Bd. I S. 205 bei Ur. 10 — der König zu
einem Gebietserwerbe ständischer Zustimmung nicht, weder verfassungsänderndes.
noch gewöhnliches Gesetz ist erforderlich. Nicht so einfach, aber hier nicht weiter
zu verfolgen ist die Frage, in welchem Verhältnis der neue Gebietsteil zum
bayerischen Verfassungsrechte stehen würde.

IV. Die eine wie die andere Umwandlung beseitigt, wie bereits dargelegt
wurde, das Stimmrecht Elsaß-Lothringens im Bundesrate, weil die Voraus¬
setzungen des Art. 6 a der Reichsverfassung dann nicht mehr vorliegen. Bei
Erhebung zum Bundesstaate würde aber selbstverständlich auch Stimmrecht
erteilt werden, vermutlich mit der bisherigen Stimmenzahl und unter Wegfall
der jetzt bestehenden Beschränkungen. Ob im Falle der Einverleibung die
Stimmenzahl des, der annektierenden Staaten eine Mehrung erfahren würde,
ist nicht ebenso sicher, doch dürfte wahrscheinlich so beschlossen werden.

Die Zahl der Reichstagsabgeordneten, die im Gesetz über die Einführung
der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen vom 25. Juni 1873 dem Reichslande
zugebilligt ist, bleibt auch dem Bundesstaate, wofern nicht anders bestimmt wird.
Dagegen bedarf bei Einverleibung diese Frage erneuter Regelung. Es kann
nicht ohne weiteres angenommen werden, daß der vergrößerte Einzelstaat ein
entsprechendes Mehr an Reichstagsabgeordneten haben soll, während Gleich¬
behandlung des Bundesstaates mit dem Reichslande Elsaß-Lothringen in der
Abgeordnetenzahl naturgemäß ist. Gelangt das Gebiet an mehrere Einzel¬
staaten, so ist vollends Neubestimmung geboten.

Die Neuregelung ergibt in beiden Beziehungen eine Änderung der Reichs¬
verfassung. Es gilt daher die erschwerende Voraussetzung des Art. 78 der
Reichsverfassung: die Vorlage würde an vierzehn dissentierenden Stimmen im
B



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[0043] Reichsgewalt und Landesverfassung im Reichslande Es empfiehlt sich daher, wenn der Eintritt der Voraussetzung nicht in sicherer Aussicht, der erwerbende Staat der gebotenen Zustimmung seiner Stände nicht gewiß ist. bis zur Beseitigung des Zweifels mit dem Erlasse des ver- fassungsündernden Reichsgesetzes zu warten. Das zur Annexion ermächtigende Landesgesetz tritt dann dem Reichsgesetze voran. 3. Ob für den einverleibenden Staat die Erstreckung seiner Gewalt auf das neue Gebiet eine Verfassungsänderung bedeutet oder doch nur auf Grund eines Gesetzes erfolgen kann, läßt sich nicht allgemein, sondern nur an der Hand der Einzelverfassung entscheiden. Soweit es zutrifft, muß die Zustimmung des Landtages zur Annexion — eventuell in Gestalt verfassungsändernden Gesetzes — erlangt sein, ehe diese rechtsgültig erfolgen kann. Die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 bestimmt in Art. 2. daß die Grenzen des Staatsgebietes nur durch Gesetz geändert werden können. Da von „Gesetz" schlechthin die Rede ist. so genügt einfaches Gesetz, die erschwerenden For¬ men, wie sie Art. 107 für Verfassungsänderung vorschreibt, finden nicht Anwendung. In -Bayern bedarf nach herrschender Auffassung — v. Sende!-Piloty „Bayer. Verfassungsrecht" 3. Aufl. Bd. I S. 205 bei Ur. 10 — der König zu einem Gebietserwerbe ständischer Zustimmung nicht, weder verfassungsänderndes. noch gewöhnliches Gesetz ist erforderlich. Nicht so einfach, aber hier nicht weiter zu verfolgen ist die Frage, in welchem Verhältnis der neue Gebietsteil zum bayerischen Verfassungsrechte stehen würde. IV. Die eine wie die andere Umwandlung beseitigt, wie bereits dargelegt wurde, das Stimmrecht Elsaß-Lothringens im Bundesrate, weil die Voraus¬ setzungen des Art. 6 a der Reichsverfassung dann nicht mehr vorliegen. Bei Erhebung zum Bundesstaate würde aber selbstverständlich auch Stimmrecht erteilt werden, vermutlich mit der bisherigen Stimmenzahl und unter Wegfall der jetzt bestehenden Beschränkungen. Ob im Falle der Einverleibung die Stimmenzahl des, der annektierenden Staaten eine Mehrung erfahren würde, ist nicht ebenso sicher, doch dürfte wahrscheinlich so beschlossen werden. Die Zahl der Reichstagsabgeordneten, die im Gesetz über die Einführung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen vom 25. Juni 1873 dem Reichslande zugebilligt ist, bleibt auch dem Bundesstaate, wofern nicht anders bestimmt wird. Dagegen bedarf bei Einverleibung diese Frage erneuter Regelung. Es kann nicht ohne weiteres angenommen werden, daß der vergrößerte Einzelstaat ein entsprechendes Mehr an Reichstagsabgeordneten haben soll, während Gleich¬ behandlung des Bundesstaates mit dem Reichslande Elsaß-Lothringen in der Abgeordnetenzahl naturgemäß ist. Gelangt das Gebiet an mehrere Einzel¬ staaten, so ist vollends Neubestimmung geboten. Die Neuregelung ergibt in beiden Beziehungen eine Änderung der Reichs¬ verfassung. Es gilt daher die erschwerende Voraussetzung des Art. 78 der Reichsverfassung: die Vorlage würde an vierzehn dissentierenden Stimmen im B

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/43>, abgerufen am 01.09.2024.