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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsche Nationalcharakter und das Ausland

Mischen Kriegszielen ihres französischen Erbfeindes. Nur daß sie im Hinblick auf
ihre Eroberungen im französischen Kolonialreiche Frankreichs Lage in Europa
nicht verbessern, sondern verschlechtern wollten. Das erkannten die Diplomaten
der französischen Republik, die in der langen ehrenvollen Geschichte der französischen
Diplomatie nicht die schlechteste Figur machen, sehr bald. Sie durchschauten die
englische Großmut und wußten hinter den freundlichen Mienen die Züge deS
Neides und Hasses in der Physiognomie ihres Erbfeindes wohl zu entdecken.
Deshalb lehnten sie das englische Angebot ab. Das mit großen Opfern an fran¬
zösischem Blute erkaufte Belgien war ihnen nicht feil.

Man sieht aus diesen alten englisch'französischen Verhandlungen vor allem
eines: gerade im Hinblick auf die außerordentlich schweren überseeischen Verluste
und besonders im Hinblick auf die Kolonialverluste werden die Kriegsziele der
damals siegreichen französischen Republik in Europa nicht herabgestimmt, sondern
im Gegenteil nur um so weiter hinausgerückt und in der Folge standhaft und
rücksichtslos festgehalten. Einer der letzten großen napoleonischen Waffenplötze,
der sich heldenmütig gegen England und seine festländischen Verbündeten noch
1(814 verteidigte, war Antwerpen.

Gewiß läßt sich dies französische Verfahren nicht ohne tief eingreifende
sinngemäße Änderungen auf die Gegenwart und auf die kriegspolitischen Pflichten
und Notwendigkeiten Deutschlands übertragen. Aber über den inneren Zusammen-
hang zwischen außereuropäischen Kolonialverlusten und europäischen Kriegszielen
belehrt es doch jeden, der nicht in den Illusionen deutscher Versöhnungspolitik
befangen ist und sich überdies gegenwärtig hält, daß die Frage nach der Freiheit
der Meere im Zeitalter der Revolution und des Kaiserreiches ebenso ungelöst war
wie heute, woraus England schon damals unendlichen Gewinn zog. Nicht obwohl,
sondern weil Deutschland außerhalb Europas so große Einbuße erlitten hat, und
weil sich diese Einbuße durch überseeische Friedensartikel allein schwerlich ein¬
bringen läßt, gerade deshalb müssen die zukünftigen deutschen Unterhändler nach
dem Vorgange ihrer standhaften und rücksichtslosen französischen Kollegen ihren
Blick unverwandt auf Deutschlands europäische Pflichten und europäische Kriegs-
ziele richten. Dann werden sie befähigt sein, aus einer gründlichen Betrachtung
des Verhältnisses der Kriegsziele zu den Kolonialverlustcn Folgerungen zu ziehen,
die nicht nur kolonialpolitisch, sondern auch weltpolitisch hieb- und stichfest sind.




Aer deutsche Nationalcharakter und das Ausland
Dr, Richard Müller von

an hat oft, wenn man die Reden der uns feindlichen Staatsmänner
liest, das Gefühl, als führten diese Leute gar nicht gegen uns, die
Deutschen, Krieg, sondern gegen eine tolle Karikatur von uns, ein
Hirngespinst, ein groteskes Phantasma. Wäre die grausige Re¬
alität des Kanonendonners nicht, könnte man meinen, ein ganzes
Heer von Don Quixotes sei gegen uns ausgezogen, das die Wirklichkeit vo? seinen


Der deutsche Nationalcharakter und das Ausland

Mischen Kriegszielen ihres französischen Erbfeindes. Nur daß sie im Hinblick auf
ihre Eroberungen im französischen Kolonialreiche Frankreichs Lage in Europa
nicht verbessern, sondern verschlechtern wollten. Das erkannten die Diplomaten
der französischen Republik, die in der langen ehrenvollen Geschichte der französischen
Diplomatie nicht die schlechteste Figur machen, sehr bald. Sie durchschauten die
englische Großmut und wußten hinter den freundlichen Mienen die Züge deS
Neides und Hasses in der Physiognomie ihres Erbfeindes wohl zu entdecken.
Deshalb lehnten sie das englische Angebot ab. Das mit großen Opfern an fran¬
zösischem Blute erkaufte Belgien war ihnen nicht feil.

Man sieht aus diesen alten englisch'französischen Verhandlungen vor allem
eines: gerade im Hinblick auf die außerordentlich schweren überseeischen Verluste
und besonders im Hinblick auf die Kolonialverluste werden die Kriegsziele der
damals siegreichen französischen Republik in Europa nicht herabgestimmt, sondern
im Gegenteil nur um so weiter hinausgerückt und in der Folge standhaft und
rücksichtslos festgehalten. Einer der letzten großen napoleonischen Waffenplötze,
der sich heldenmütig gegen England und seine festländischen Verbündeten noch
1(814 verteidigte, war Antwerpen.

Gewiß läßt sich dies französische Verfahren nicht ohne tief eingreifende
sinngemäße Änderungen auf die Gegenwart und auf die kriegspolitischen Pflichten
und Notwendigkeiten Deutschlands übertragen. Aber über den inneren Zusammen-
hang zwischen außereuropäischen Kolonialverlusten und europäischen Kriegszielen
belehrt es doch jeden, der nicht in den Illusionen deutscher Versöhnungspolitik
befangen ist und sich überdies gegenwärtig hält, daß die Frage nach der Freiheit
der Meere im Zeitalter der Revolution und des Kaiserreiches ebenso ungelöst war
wie heute, woraus England schon damals unendlichen Gewinn zog. Nicht obwohl,
sondern weil Deutschland außerhalb Europas so große Einbuße erlitten hat, und
weil sich diese Einbuße durch überseeische Friedensartikel allein schwerlich ein¬
bringen läßt, gerade deshalb müssen die zukünftigen deutschen Unterhändler nach
dem Vorgange ihrer standhaften und rücksichtslosen französischen Kollegen ihren
Blick unverwandt auf Deutschlands europäische Pflichten und europäische Kriegs-
ziele richten. Dann werden sie befähigt sein, aus einer gründlichen Betrachtung
des Verhältnisses der Kriegsziele zu den Kolonialverlustcn Folgerungen zu ziehen,
die nicht nur kolonialpolitisch, sondern auch weltpolitisch hieb- und stichfest sind.




Aer deutsche Nationalcharakter und das Ausland
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an hat oft, wenn man die Reden der uns feindlichen Staatsmänner
liest, das Gefühl, als führten diese Leute gar nicht gegen uns, die
Deutschen, Krieg, sondern gegen eine tolle Karikatur von uns, ein
Hirngespinst, ein groteskes Phantasma. Wäre die grausige Re¬
alität des Kanonendonners nicht, könnte man meinen, ein ganzes
Heer von Don Quixotes sei gegen uns ausgezogen, das die Wirklichkeit vo? seinen


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[0339] Der deutsche Nationalcharakter und das Ausland Mischen Kriegszielen ihres französischen Erbfeindes. Nur daß sie im Hinblick auf ihre Eroberungen im französischen Kolonialreiche Frankreichs Lage in Europa nicht verbessern, sondern verschlechtern wollten. Das erkannten die Diplomaten der französischen Republik, die in der langen ehrenvollen Geschichte der französischen Diplomatie nicht die schlechteste Figur machen, sehr bald. Sie durchschauten die englische Großmut und wußten hinter den freundlichen Mienen die Züge deS Neides und Hasses in der Physiognomie ihres Erbfeindes wohl zu entdecken. Deshalb lehnten sie das englische Angebot ab. Das mit großen Opfern an fran¬ zösischem Blute erkaufte Belgien war ihnen nicht feil. Man sieht aus diesen alten englisch'französischen Verhandlungen vor allem eines: gerade im Hinblick auf die außerordentlich schweren überseeischen Verluste und besonders im Hinblick auf die Kolonialverluste werden die Kriegsziele der damals siegreichen französischen Republik in Europa nicht herabgestimmt, sondern im Gegenteil nur um so weiter hinausgerückt und in der Folge standhaft und rücksichtslos festgehalten. Einer der letzten großen napoleonischen Waffenplötze, der sich heldenmütig gegen England und seine festländischen Verbündeten noch 1(814 verteidigte, war Antwerpen. Gewiß läßt sich dies französische Verfahren nicht ohne tief eingreifende sinngemäße Änderungen auf die Gegenwart und auf die kriegspolitischen Pflichten und Notwendigkeiten Deutschlands übertragen. Aber über den inneren Zusammen- hang zwischen außereuropäischen Kolonialverlusten und europäischen Kriegszielen belehrt es doch jeden, der nicht in den Illusionen deutscher Versöhnungspolitik befangen ist und sich überdies gegenwärtig hält, daß die Frage nach der Freiheit der Meere im Zeitalter der Revolution und des Kaiserreiches ebenso ungelöst war wie heute, woraus England schon damals unendlichen Gewinn zog. Nicht obwohl, sondern weil Deutschland außerhalb Europas so große Einbuße erlitten hat, und weil sich diese Einbuße durch überseeische Friedensartikel allein schwerlich ein¬ bringen läßt, gerade deshalb müssen die zukünftigen deutschen Unterhändler nach dem Vorgange ihrer standhaften und rücksichtslosen französischen Kollegen ihren Blick unverwandt auf Deutschlands europäische Pflichten und europäische Kriegs- ziele richten. Dann werden sie befähigt sein, aus einer gründlichen Betrachtung des Verhältnisses der Kriegsziele zu den Kolonialverlustcn Folgerungen zu ziehen, die nicht nur kolonialpolitisch, sondern auch weltpolitisch hieb- und stichfest sind. Aer deutsche Nationalcharakter und das Ausland Dr, Richard Müller von an hat oft, wenn man die Reden der uns feindlichen Staatsmänner liest, das Gefühl, als führten diese Leute gar nicht gegen uns, die Deutschen, Krieg, sondern gegen eine tolle Karikatur von uns, ein Hirngespinst, ein groteskes Phantasma. Wäre die grausige Re¬ alität des Kanonendonners nicht, könnte man meinen, ein ganzes Heer von Don Quixotes sei gegen uns ausgezogen, das die Wirklichkeit vo? seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/339>, abgerufen am 09.11.2024.