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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als Lebensform

9er Staat als Lebensform
Heinrich Gelo Meisner von

elche Bedeutung hat der an sich so farblose Terminus Staat
(status, Zustand) im Laufe der Jahrhunderte gewonnen, seit die
Renaissance ihn zum ersten Male in prägnanten Sinne anerkennt!
Kaum einem anderen Wort der menschlichen Sprache begegnete
ein solcher Reichtum von Prädikaten, Vergleichen, Symboli¬
sierungen und Definitionen. In ihm offenbart sich der ganze Widerspruch
menschlicher Natur. Seine Gläubigen verklären ihn zu mystischer Weihe, bei den
Gegnern wird er der Verachtung preisgegeben (so in Frankreich -- nach dem
Urteile eines Franzosen selbst -- von der Akademie bis zum Anarchisten).
Den einen ist er die Quelle, anderen das Hemmnis allen Fortschrittes. Finden
jene die Verwirklichung höchster Freiheit nur im Staate und durch ihn, so er¬
streben diese möglichste Freiheit vom Staate, der in ihren Augen eine
leidige obrigkeitliche Zwangseinrichtung darstellt. Hier gilt er als "Souverän"
und "lebendiger Gott auf Erden" (Hegel, Treitschke), dort als "Nachtwächter"
(Manchesterschule), falscher Götze (Romantiker, Nietzsche), oder Klassenherr¬
schaft (Marx).

Ungezählte geben ihr Leben hin für den "Staat", während ihm andere
tödliche Feindschaft schwören und selber nach dem Leben trachten. Man erhöht
ihn zu einer lebendigen überindividuellen Persönlichkeit, einem Organismus,
und man erniedrigt ihn wiederum auch zu einer künstlichen "Einrichtung" von
Gnaden eben der gleichen Individuen. Ja soweit geht das Widerspruchsvolle
(zugleich eben aber auch das Bedeutsame) seiner Erscheinung, daß er im Urteil
ein und desselben Betrachters sein Janusantlitz beibehält. Wir können es alle
Tage erleben, wie der Spießer trotz felsenfesten Vertrauen und eingefleischtem
Respekt für alles "Staatliche" jeden Augenblick auf den "Staat" schimpft, wenn
irgendwie die Mühle nicht nach seinen Wünschen geht. Ein Fetisch, der zum
Prügeljungen wirbt

In der Gegenwart strahlt der Name des Staates im hellsten Glanz. So
manchen einenden Gedanken hat der Weltkrieg zerstört. Dieses Zeichen blieb
aufrecht, wo Hoffnungen schwanden, Bindungen sich lösten, und in dem all¬
gemeinen Chaos ward es den suchenden Blicken der Menschen Orientierungs¬
merkmal und Symbol. Ungeahnte Kräfte gingen von ihm aus und strömten
zu ihm hin. Tausende, die bisher von den Alltagssorgen des atomisierten
Individuums sich erdrücken ließen, durchdrang nun mit einem Male das un¬
bekannte Gefühl der Gemeinschaft, die Ahnung überindividueller Potenzen. In
anderen, die sie schon immer als kostbares Gut gepflegt hatten, verstärkte sich
das Bewußtsein ihres Wertes.

Das große "Staatserlebnis" drängte zu begrifflichem Ausdruck. Der aber
sollte über das logische Erfassen hinaus möglichst plastische Anschauung ver-


Der Staat als Lebensform

9er Staat als Lebensform
Heinrich Gelo Meisner von

elche Bedeutung hat der an sich so farblose Terminus Staat
(status, Zustand) im Laufe der Jahrhunderte gewonnen, seit die
Renaissance ihn zum ersten Male in prägnanten Sinne anerkennt!
Kaum einem anderen Wort der menschlichen Sprache begegnete
ein solcher Reichtum von Prädikaten, Vergleichen, Symboli¬
sierungen und Definitionen. In ihm offenbart sich der ganze Widerspruch
menschlicher Natur. Seine Gläubigen verklären ihn zu mystischer Weihe, bei den
Gegnern wird er der Verachtung preisgegeben (so in Frankreich — nach dem
Urteile eines Franzosen selbst — von der Akademie bis zum Anarchisten).
Den einen ist er die Quelle, anderen das Hemmnis allen Fortschrittes. Finden
jene die Verwirklichung höchster Freiheit nur im Staate und durch ihn, so er¬
streben diese möglichste Freiheit vom Staate, der in ihren Augen eine
leidige obrigkeitliche Zwangseinrichtung darstellt. Hier gilt er als „Souverän"
und „lebendiger Gott auf Erden" (Hegel, Treitschke), dort als „Nachtwächter"
(Manchesterschule), falscher Götze (Romantiker, Nietzsche), oder Klassenherr¬
schaft (Marx).

Ungezählte geben ihr Leben hin für den „Staat", während ihm andere
tödliche Feindschaft schwören und selber nach dem Leben trachten. Man erhöht
ihn zu einer lebendigen überindividuellen Persönlichkeit, einem Organismus,
und man erniedrigt ihn wiederum auch zu einer künstlichen „Einrichtung" von
Gnaden eben der gleichen Individuen. Ja soweit geht das Widerspruchsvolle
(zugleich eben aber auch das Bedeutsame) seiner Erscheinung, daß er im Urteil
ein und desselben Betrachters sein Janusantlitz beibehält. Wir können es alle
Tage erleben, wie der Spießer trotz felsenfesten Vertrauen und eingefleischtem
Respekt für alles „Staatliche" jeden Augenblick auf den „Staat" schimpft, wenn
irgendwie die Mühle nicht nach seinen Wünschen geht. Ein Fetisch, der zum
Prügeljungen wirbt

In der Gegenwart strahlt der Name des Staates im hellsten Glanz. So
manchen einenden Gedanken hat der Weltkrieg zerstört. Dieses Zeichen blieb
aufrecht, wo Hoffnungen schwanden, Bindungen sich lösten, und in dem all¬
gemeinen Chaos ward es den suchenden Blicken der Menschen Orientierungs¬
merkmal und Symbol. Ungeahnte Kräfte gingen von ihm aus und strömten
zu ihm hin. Tausende, die bisher von den Alltagssorgen des atomisierten
Individuums sich erdrücken ließen, durchdrang nun mit einem Male das un¬
bekannte Gefühl der Gemeinschaft, die Ahnung überindividueller Potenzen. In
anderen, die sie schon immer als kostbares Gut gepflegt hatten, verstärkte sich
das Bewußtsein ihres Wertes.

Das große „Staatserlebnis" drängte zu begrifflichem Ausdruck. Der aber
sollte über das logische Erfassen hinaus möglichst plastische Anschauung ver-


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[0262] Der Staat als Lebensform 9er Staat als Lebensform Heinrich Gelo Meisner von elche Bedeutung hat der an sich so farblose Terminus Staat (status, Zustand) im Laufe der Jahrhunderte gewonnen, seit die Renaissance ihn zum ersten Male in prägnanten Sinne anerkennt! Kaum einem anderen Wort der menschlichen Sprache begegnete ein solcher Reichtum von Prädikaten, Vergleichen, Symboli¬ sierungen und Definitionen. In ihm offenbart sich der ganze Widerspruch menschlicher Natur. Seine Gläubigen verklären ihn zu mystischer Weihe, bei den Gegnern wird er der Verachtung preisgegeben (so in Frankreich — nach dem Urteile eines Franzosen selbst — von der Akademie bis zum Anarchisten). Den einen ist er die Quelle, anderen das Hemmnis allen Fortschrittes. Finden jene die Verwirklichung höchster Freiheit nur im Staate und durch ihn, so er¬ streben diese möglichste Freiheit vom Staate, der in ihren Augen eine leidige obrigkeitliche Zwangseinrichtung darstellt. Hier gilt er als „Souverän" und „lebendiger Gott auf Erden" (Hegel, Treitschke), dort als „Nachtwächter" (Manchesterschule), falscher Götze (Romantiker, Nietzsche), oder Klassenherr¬ schaft (Marx). Ungezählte geben ihr Leben hin für den „Staat", während ihm andere tödliche Feindschaft schwören und selber nach dem Leben trachten. Man erhöht ihn zu einer lebendigen überindividuellen Persönlichkeit, einem Organismus, und man erniedrigt ihn wiederum auch zu einer künstlichen „Einrichtung" von Gnaden eben der gleichen Individuen. Ja soweit geht das Widerspruchsvolle (zugleich eben aber auch das Bedeutsame) seiner Erscheinung, daß er im Urteil ein und desselben Betrachters sein Janusantlitz beibehält. Wir können es alle Tage erleben, wie der Spießer trotz felsenfesten Vertrauen und eingefleischtem Respekt für alles „Staatliche" jeden Augenblick auf den „Staat" schimpft, wenn irgendwie die Mühle nicht nach seinen Wünschen geht. Ein Fetisch, der zum Prügeljungen wirbt In der Gegenwart strahlt der Name des Staates im hellsten Glanz. So manchen einenden Gedanken hat der Weltkrieg zerstört. Dieses Zeichen blieb aufrecht, wo Hoffnungen schwanden, Bindungen sich lösten, und in dem all¬ gemeinen Chaos ward es den suchenden Blicken der Menschen Orientierungs¬ merkmal und Symbol. Ungeahnte Kräfte gingen von ihm aus und strömten zu ihm hin. Tausende, die bisher von den Alltagssorgen des atomisierten Individuums sich erdrücken ließen, durchdrang nun mit einem Male das un¬ bekannte Gefühl der Gemeinschaft, die Ahnung überindividueller Potenzen. In anderen, die sie schon immer als kostbares Gut gepflegt hatten, verstärkte sich das Bewußtsein ihres Wertes. Das große „Staatserlebnis" drängte zu begrifflichem Ausdruck. Der aber sollte über das logische Erfassen hinaus möglichst plastische Anschauung ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/262>, abgerufen am 09.11.2024.