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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Martin Luther, der deutsche Reformator

seiner religiösen Entwicklung ist, daß Leben, Erfahrung, gefühls- und willens¬
mäßiges Erfassen früher da sind als Gedanke und Formulierung, welch letztere,
sei es langsam und zaudernd, sei es sprungweise nachkommen, ist es Aar, daß
das von ihm begründete evangelische Christentum den Stempel seiner persön¬
lichen Art tragen mußte und nicht etwa eine bloße Wiederherstellung der
Religion des neuen Testamentes sein konnte. Natürlich war es seine Absicht,
lediglich zu restaurieren. Die heilige Schrift war sein Rechtstitel, fest liegt
seine Hand auf dem Bibelbuch. Wohl nennt er sich mehrfach mit starkem
Selbstbewußtsein den deutschen Propheten, aber nicht in dem Sinn, in dem
wir das Wort neuerdings zu gebrauche" pflegen. Aber er ist auch Prophet
in unserem Sinne, Träger neuer Gottesoffenbarung gewesen, und nicht bloß,
was er sein wollte, Reformator. Kein Zweifel, der Geist des neuen Testaments
ist in ihm lebendig, niemand hat vor ihm Paulus so kongenial verstanden,
und doch, mag er sich noch so sehr bemühen, die heilige Schrift auszuschöpfen
und, was er original erlebt, in biblische Begriffe zu kleiden, in seinem Gesamt¬
entwurf und mit vielen charakteristischen Einzelzügen ist unser evangelisches
Christentum, das wir ihm verdanken, spezifisch lutherisch. Luther erneuert
nicht den Rigorismus evangelischer Forderungen Jesu wie der heilige Franz,
nicht den Enthusiasmus der Geistesreligion Pauli oder die urchristliche Apo-
kalyptik, wie so manche Sektierer und Schwärmer vor ihm und nach ihm. Die
paulinische Rechtfertigungslehre ist der Kristall, der hineingetaucht in die ge¬
sättigte Lösung seines religiösen Erlebens rasch und sicher die neue Gestalt
seines Glaubens aufschießen läßt. Der dunkle Hintergrund eines tiefen
Sündengefühls, das dem zarten Gewissen Luthers in der katholischen Bu߬
disziplin durch die Gesetzes- und Gerichtspredigt seiner Zeit erwachsen war, bleibt
bestehen -- Paulus hat sich, vom Geist beflügelt, darüber emporgeschwungen --,
davon aber hebt sich in starker Kontrastwirkung ab das selige Erleben der Gnade
des Höchsten, der sich in Christo als Liebe offenbart, durch den Glauben, der -- und
nun kommt der reiche, köstliche lutherische Glaubensbegriff -- zugleich ein
demütiges Sichschenkenlassen und kühnes Ergreifen, schweigendes Leiden und
Stillehalten und heroische Tat, Sprung und Wagnis ist, der Gott und Christo
zu Füßen sinkt und zugleich mit ihnen verschmilzt, der, von Ehrfurchtsschauern
umwittert/in seinem Kern kindliches Vertrauen ist, den Glauben, der sich allein
hält an Gott und göttliche Offenbarung und der infolgedessen keiner menschlichen
Vermittlung bedarf -- damit füllt die katholische Hierarchie --, der im Christen¬
leben ein und alles ist, so daß unmöglich außerhalb seiner hellen Sphäre auf
magische Weise göttliche Kraftzufuhr stattfinden kann -- damit ist das katholische
Sakrament entwurzelt --, so daß ebenso unmöglich abseits von dem Pfade,
auf dem er leicht und sicher wandelt, eine übernatürliche Heiligkeit selbstquälerisch
und mühsam erklommen werden kann -- damit hat katholische Werkgerechtigkeit
und Askese ein Ende --, den Glauben, der süßer Friede und zugleich quellendes
L.ben ist, der frei und mit Lust, aus innerer Notwendigkeit ohne allen Zwang --


Martin Luther, der deutsche Reformator

seiner religiösen Entwicklung ist, daß Leben, Erfahrung, gefühls- und willens¬
mäßiges Erfassen früher da sind als Gedanke und Formulierung, welch letztere,
sei es langsam und zaudernd, sei es sprungweise nachkommen, ist es Aar, daß
das von ihm begründete evangelische Christentum den Stempel seiner persön¬
lichen Art tragen mußte und nicht etwa eine bloße Wiederherstellung der
Religion des neuen Testamentes sein konnte. Natürlich war es seine Absicht,
lediglich zu restaurieren. Die heilige Schrift war sein Rechtstitel, fest liegt
seine Hand auf dem Bibelbuch. Wohl nennt er sich mehrfach mit starkem
Selbstbewußtsein den deutschen Propheten, aber nicht in dem Sinn, in dem
wir das Wort neuerdings zu gebrauche» pflegen. Aber er ist auch Prophet
in unserem Sinne, Träger neuer Gottesoffenbarung gewesen, und nicht bloß,
was er sein wollte, Reformator. Kein Zweifel, der Geist des neuen Testaments
ist in ihm lebendig, niemand hat vor ihm Paulus so kongenial verstanden,
und doch, mag er sich noch so sehr bemühen, die heilige Schrift auszuschöpfen
und, was er original erlebt, in biblische Begriffe zu kleiden, in seinem Gesamt¬
entwurf und mit vielen charakteristischen Einzelzügen ist unser evangelisches
Christentum, das wir ihm verdanken, spezifisch lutherisch. Luther erneuert
nicht den Rigorismus evangelischer Forderungen Jesu wie der heilige Franz,
nicht den Enthusiasmus der Geistesreligion Pauli oder die urchristliche Apo-
kalyptik, wie so manche Sektierer und Schwärmer vor ihm und nach ihm. Die
paulinische Rechtfertigungslehre ist der Kristall, der hineingetaucht in die ge¬
sättigte Lösung seines religiösen Erlebens rasch und sicher die neue Gestalt
seines Glaubens aufschießen läßt. Der dunkle Hintergrund eines tiefen
Sündengefühls, das dem zarten Gewissen Luthers in der katholischen Bu߬
disziplin durch die Gesetzes- und Gerichtspredigt seiner Zeit erwachsen war, bleibt
bestehen — Paulus hat sich, vom Geist beflügelt, darüber emporgeschwungen —,
davon aber hebt sich in starker Kontrastwirkung ab das selige Erleben der Gnade
des Höchsten, der sich in Christo als Liebe offenbart, durch den Glauben, der — und
nun kommt der reiche, köstliche lutherische Glaubensbegriff — zugleich ein
demütiges Sichschenkenlassen und kühnes Ergreifen, schweigendes Leiden und
Stillehalten und heroische Tat, Sprung und Wagnis ist, der Gott und Christo
zu Füßen sinkt und zugleich mit ihnen verschmilzt, der, von Ehrfurchtsschauern
umwittert/in seinem Kern kindliches Vertrauen ist, den Glauben, der sich allein
hält an Gott und göttliche Offenbarung und der infolgedessen keiner menschlichen
Vermittlung bedarf — damit füllt die katholische Hierarchie —, der im Christen¬
leben ein und alles ist, so daß unmöglich außerhalb seiner hellen Sphäre auf
magische Weise göttliche Kraftzufuhr stattfinden kann — damit ist das katholische
Sakrament entwurzelt —, so daß ebenso unmöglich abseits von dem Pfade,
auf dem er leicht und sicher wandelt, eine übernatürliche Heiligkeit selbstquälerisch
und mühsam erklommen werden kann — damit hat katholische Werkgerechtigkeit
und Askese ein Ende —, den Glauben, der süßer Friede und zugleich quellendes
L.ben ist, der frei und mit Lust, aus innerer Notwendigkeit ohne allen Zwang —


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[0154] Martin Luther, der deutsche Reformator seiner religiösen Entwicklung ist, daß Leben, Erfahrung, gefühls- und willens¬ mäßiges Erfassen früher da sind als Gedanke und Formulierung, welch letztere, sei es langsam und zaudernd, sei es sprungweise nachkommen, ist es Aar, daß das von ihm begründete evangelische Christentum den Stempel seiner persön¬ lichen Art tragen mußte und nicht etwa eine bloße Wiederherstellung der Religion des neuen Testamentes sein konnte. Natürlich war es seine Absicht, lediglich zu restaurieren. Die heilige Schrift war sein Rechtstitel, fest liegt seine Hand auf dem Bibelbuch. Wohl nennt er sich mehrfach mit starkem Selbstbewußtsein den deutschen Propheten, aber nicht in dem Sinn, in dem wir das Wort neuerdings zu gebrauche» pflegen. Aber er ist auch Prophet in unserem Sinne, Träger neuer Gottesoffenbarung gewesen, und nicht bloß, was er sein wollte, Reformator. Kein Zweifel, der Geist des neuen Testaments ist in ihm lebendig, niemand hat vor ihm Paulus so kongenial verstanden, und doch, mag er sich noch so sehr bemühen, die heilige Schrift auszuschöpfen und, was er original erlebt, in biblische Begriffe zu kleiden, in seinem Gesamt¬ entwurf und mit vielen charakteristischen Einzelzügen ist unser evangelisches Christentum, das wir ihm verdanken, spezifisch lutherisch. Luther erneuert nicht den Rigorismus evangelischer Forderungen Jesu wie der heilige Franz, nicht den Enthusiasmus der Geistesreligion Pauli oder die urchristliche Apo- kalyptik, wie so manche Sektierer und Schwärmer vor ihm und nach ihm. Die paulinische Rechtfertigungslehre ist der Kristall, der hineingetaucht in die ge¬ sättigte Lösung seines religiösen Erlebens rasch und sicher die neue Gestalt seines Glaubens aufschießen läßt. Der dunkle Hintergrund eines tiefen Sündengefühls, das dem zarten Gewissen Luthers in der katholischen Bu߬ disziplin durch die Gesetzes- und Gerichtspredigt seiner Zeit erwachsen war, bleibt bestehen — Paulus hat sich, vom Geist beflügelt, darüber emporgeschwungen —, davon aber hebt sich in starker Kontrastwirkung ab das selige Erleben der Gnade des Höchsten, der sich in Christo als Liebe offenbart, durch den Glauben, der — und nun kommt der reiche, köstliche lutherische Glaubensbegriff — zugleich ein demütiges Sichschenkenlassen und kühnes Ergreifen, schweigendes Leiden und Stillehalten und heroische Tat, Sprung und Wagnis ist, der Gott und Christo zu Füßen sinkt und zugleich mit ihnen verschmilzt, der, von Ehrfurchtsschauern umwittert/in seinem Kern kindliches Vertrauen ist, den Glauben, der sich allein hält an Gott und göttliche Offenbarung und der infolgedessen keiner menschlichen Vermittlung bedarf — damit füllt die katholische Hierarchie —, der im Christen¬ leben ein und alles ist, so daß unmöglich außerhalb seiner hellen Sphäre auf magische Weise göttliche Kraftzufuhr stattfinden kann — damit ist das katholische Sakrament entwurzelt —, so daß ebenso unmöglich abseits von dem Pfade, auf dem er leicht und sicher wandelt, eine übernatürliche Heiligkeit selbstquälerisch und mühsam erklommen werden kann — damit hat katholische Werkgerechtigkeit und Askese ein Ende —, den Glauben, der süßer Friede und zugleich quellendes L.ben ist, der frei und mit Lust, aus innerer Notwendigkeit ohne allen Zwang —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/154>, abgerufen am 01.09.2024.