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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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des Begriffs der Mecresfreiheit beseitigt und die Tragweite jener schrankenlosen
Forderungen wie die Notwendigkeit ihrer Berichtigung und Begrenzung nach,
gewiesen zu haben. Hier sollte nicht zu den Einzelheiten der ausgezeichneten und
maßvollen Schrift Stellung genommen, sondern auf ihre allgemeine und praktisch
Politische Bedeutung hingewiesen werden.


Professor Dr. Georg Steinhaufen
Raoul Nicolas "Geschichte der Vorrechte und des Einflusses Frankreichs
in Syrien und in der Levante vom Beginn des Mittelalters bis zum
Friedensvertrag von Paris 1802." Bern 1917.

Die Enthüllungen, welche unser jetziger Reichskanzler über die wahren Kriegs¬
ziele unserer Feinde kürzlich gemacht hat, gipfeln für Frankreich bekanntlich in der
Herrschaft über das linke Rheinufer und über Syrien. Der Anspruch Frankreichs
auf Syrien gründet sich auf das angebliche Protektoratsrecht der Franzosen auf
diese türkische Provinz, von dem die Türken immer behauptet haben, daß es nur
in der Einbildung der Franzosen existiere.

Gewiß hat Frankreich den syrischen Boden für eine künftige Annexion moralisch
und wirtschaftlich vortrefflich vorbereitet, einmal durch die Schulen, Waisenhäuser
und Hospitäler, die es dort überall unterhält, und sodann durch den Bau von
Eisenbahnen und Hafenanlagen, sowie durch die Gründung von zahlreichen Banken.
Fabriken und landwirtschaftlichen Unternehmungen aller Art. Als eine Folge dieser
Maßnahmen ist die Meinung aufzufassen, die in Frankreich allgemein verbreitet
ist. daß nämlich die faktische Besitzergreifung Syriens seitens Frankreich als eine
Folge feststehender verbriefter Rechte nicht nur zu rechtfertigen, sondern direkt zu
fordern sei. Diese Meinung herrschte in Frankreich bereits lauge vor dem Welt¬
kriege, sie trat z. B. auch während der Wirren, die zu der bewaffneten Intervention
w Syrien 1860 führten und im Berliner Kongreß von 1878 deutlich hervor.

Die Grundlosigkeit dieser Anschauung weist in überzeugender Weise die jüngst
in Bern erschienene Doktordissertation von Raoul Nicolas nach, eines Franzosen,
der zurzeit in der Schweiz lebt, weil er von seinen eigenen Landsleuten aus der
Heimat vertrieben wurde.

Zunächst weist Nicolas die Behauptung zurück, daß der Ursprung der späteren
Kapitulationen in den Beziehungen zwischen Karl dem Großen und dem Kalifen zu
suchen sei, vielmehr hat nach dem Tode des Kaisers jede offizielle Verbindung des
Frankenreiches mit dem mohammedanischen Orient für mehrere Jahrhunderte hin¬
durch völlig aufgehört, und erst mit König Ludwig dem Siebenten hat sich die
französische Zentralgewalt als solche auf dem syrischen Boden in dem unglücklichen
zweiten Kreuzzug des Jahres 1147 aufs neue betätigt.

Seit Beginn der Kreuzzüge beherrschten allerdings französische Familien fast
ausschließlich die eroberten Gebiete; die französische Sprache wurde fast aus¬
schließlich von den Kolonisten in Syrien gesprochen und das französische Helden¬
lied ertönte in den Palästen von Tripolis, Tyrus und Won. Damit zog auch
das politische System der Franzosen in den Königreichen und Fürstentümern
Syriens und in den dortigen italienischen und provenzalischen Handelskolonien
ein. aber von irgendeinem Untertanenverhältnis kann nirgends die Rede sein. In
einem Brief König Ludwig des Neunten, dessen langer Aufenthalt in Syrien viel


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des Begriffs der Mecresfreiheit beseitigt und die Tragweite jener schrankenlosen
Forderungen wie die Notwendigkeit ihrer Berichtigung und Begrenzung nach,
gewiesen zu haben. Hier sollte nicht zu den Einzelheiten der ausgezeichneten und
maßvollen Schrift Stellung genommen, sondern auf ihre allgemeine und praktisch
Politische Bedeutung hingewiesen werden.


Professor Dr. Georg Steinhaufen
Raoul Nicolas „Geschichte der Vorrechte und des Einflusses Frankreichs
in Syrien und in der Levante vom Beginn des Mittelalters bis zum
Friedensvertrag von Paris 1802." Bern 1917.

Die Enthüllungen, welche unser jetziger Reichskanzler über die wahren Kriegs¬
ziele unserer Feinde kürzlich gemacht hat, gipfeln für Frankreich bekanntlich in der
Herrschaft über das linke Rheinufer und über Syrien. Der Anspruch Frankreichs
auf Syrien gründet sich auf das angebliche Protektoratsrecht der Franzosen auf
diese türkische Provinz, von dem die Türken immer behauptet haben, daß es nur
in der Einbildung der Franzosen existiere.

Gewiß hat Frankreich den syrischen Boden für eine künftige Annexion moralisch
und wirtschaftlich vortrefflich vorbereitet, einmal durch die Schulen, Waisenhäuser
und Hospitäler, die es dort überall unterhält, und sodann durch den Bau von
Eisenbahnen und Hafenanlagen, sowie durch die Gründung von zahlreichen Banken.
Fabriken und landwirtschaftlichen Unternehmungen aller Art. Als eine Folge dieser
Maßnahmen ist die Meinung aufzufassen, die in Frankreich allgemein verbreitet
ist. daß nämlich die faktische Besitzergreifung Syriens seitens Frankreich als eine
Folge feststehender verbriefter Rechte nicht nur zu rechtfertigen, sondern direkt zu
fordern sei. Diese Meinung herrschte in Frankreich bereits lauge vor dem Welt¬
kriege, sie trat z. B. auch während der Wirren, die zu der bewaffneten Intervention
w Syrien 1860 führten und im Berliner Kongreß von 1878 deutlich hervor.

Die Grundlosigkeit dieser Anschauung weist in überzeugender Weise die jüngst
in Bern erschienene Doktordissertation von Raoul Nicolas nach, eines Franzosen,
der zurzeit in der Schweiz lebt, weil er von seinen eigenen Landsleuten aus der
Heimat vertrieben wurde.

Zunächst weist Nicolas die Behauptung zurück, daß der Ursprung der späteren
Kapitulationen in den Beziehungen zwischen Karl dem Großen und dem Kalifen zu
suchen sei, vielmehr hat nach dem Tode des Kaisers jede offizielle Verbindung des
Frankenreiches mit dem mohammedanischen Orient für mehrere Jahrhunderte hin¬
durch völlig aufgehört, und erst mit König Ludwig dem Siebenten hat sich die
französische Zentralgewalt als solche auf dem syrischen Boden in dem unglücklichen
zweiten Kreuzzug des Jahres 1147 aufs neue betätigt.

Seit Beginn der Kreuzzüge beherrschten allerdings französische Familien fast
ausschließlich die eroberten Gebiete; die französische Sprache wurde fast aus¬
schließlich von den Kolonisten in Syrien gesprochen und das französische Helden¬
lied ertönte in den Palästen von Tripolis, Tyrus und Won. Damit zog auch
das politische System der Franzosen in den Königreichen und Fürstentümern
Syriens und in den dortigen italienischen und provenzalischen Handelskolonien
ein. aber von irgendeinem Untertanenverhältnis kann nirgends die Rede sein. In
einem Brief König Ludwig des Neunten, dessen langer Aufenthalt in Syrien viel


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[0137] Neue Bücher des Begriffs der Mecresfreiheit beseitigt und die Tragweite jener schrankenlosen Forderungen wie die Notwendigkeit ihrer Berichtigung und Begrenzung nach, gewiesen zu haben. Hier sollte nicht zu den Einzelheiten der ausgezeichneten und maßvollen Schrift Stellung genommen, sondern auf ihre allgemeine und praktisch Politische Bedeutung hingewiesen werden. Professor Dr. Georg Steinhaufen Raoul Nicolas „Geschichte der Vorrechte und des Einflusses Frankreichs in Syrien und in der Levante vom Beginn des Mittelalters bis zum Friedensvertrag von Paris 1802." Bern 1917. Die Enthüllungen, welche unser jetziger Reichskanzler über die wahren Kriegs¬ ziele unserer Feinde kürzlich gemacht hat, gipfeln für Frankreich bekanntlich in der Herrschaft über das linke Rheinufer und über Syrien. Der Anspruch Frankreichs auf Syrien gründet sich auf das angebliche Protektoratsrecht der Franzosen auf diese türkische Provinz, von dem die Türken immer behauptet haben, daß es nur in der Einbildung der Franzosen existiere. Gewiß hat Frankreich den syrischen Boden für eine künftige Annexion moralisch und wirtschaftlich vortrefflich vorbereitet, einmal durch die Schulen, Waisenhäuser und Hospitäler, die es dort überall unterhält, und sodann durch den Bau von Eisenbahnen und Hafenanlagen, sowie durch die Gründung von zahlreichen Banken. Fabriken und landwirtschaftlichen Unternehmungen aller Art. Als eine Folge dieser Maßnahmen ist die Meinung aufzufassen, die in Frankreich allgemein verbreitet ist. daß nämlich die faktische Besitzergreifung Syriens seitens Frankreich als eine Folge feststehender verbriefter Rechte nicht nur zu rechtfertigen, sondern direkt zu fordern sei. Diese Meinung herrschte in Frankreich bereits lauge vor dem Welt¬ kriege, sie trat z. B. auch während der Wirren, die zu der bewaffneten Intervention w Syrien 1860 führten und im Berliner Kongreß von 1878 deutlich hervor. Die Grundlosigkeit dieser Anschauung weist in überzeugender Weise die jüngst in Bern erschienene Doktordissertation von Raoul Nicolas nach, eines Franzosen, der zurzeit in der Schweiz lebt, weil er von seinen eigenen Landsleuten aus der Heimat vertrieben wurde. Zunächst weist Nicolas die Behauptung zurück, daß der Ursprung der späteren Kapitulationen in den Beziehungen zwischen Karl dem Großen und dem Kalifen zu suchen sei, vielmehr hat nach dem Tode des Kaisers jede offizielle Verbindung des Frankenreiches mit dem mohammedanischen Orient für mehrere Jahrhunderte hin¬ durch völlig aufgehört, und erst mit König Ludwig dem Siebenten hat sich die französische Zentralgewalt als solche auf dem syrischen Boden in dem unglücklichen zweiten Kreuzzug des Jahres 1147 aufs neue betätigt. Seit Beginn der Kreuzzüge beherrschten allerdings französische Familien fast ausschließlich die eroberten Gebiete; die französische Sprache wurde fast aus¬ schließlich von den Kolonisten in Syrien gesprochen und das französische Helden¬ lied ertönte in den Palästen von Tripolis, Tyrus und Won. Damit zog auch das politische System der Franzosen in den Königreichen und Fürstentümern Syriens und in den dortigen italienischen und provenzalischen Handelskolonien ein. aber von irgendeinem Untertanenverhältnis kann nirgends die Rede sein. In einem Brief König Ludwig des Neunten, dessen langer Aufenthalt in Syrien viel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/137>, abgerufen am 09.11.2024.