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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Das mitteleuropäische Rriegsziel

noch wußte ja jeder gebildete Deutsche, der Treitschke gelesen hatte, daß die
großdeutschen Ideen "realpolitisch" völlig unbrauchbar gewesen wären. Er
wußte, daß die deutsche Einheit nur durch den Bruch mit Österreich hatte ge¬
schmiedet werden können, und daß Bismarck verdienstlicherweise endlich mit
allen österreichischen Sentimentalitäten aufgeräumt hatte. Wir sind alle mehr
oder weniger seit dem Scheitern der Paulskirche durch unsere Geschichte zu
einem politischen Denken erzogen worden, das die Faktoren der wirtschaftlichen
und politischen Macht am höchsten wertet. In dieser Beziehung hat in be¬
stimmten Volksschichten Marx ganz ähnlich gewirkt, wie Bismarck in anderen.
Beiderseits leitete man Lehren eines gewissen ethischen Materialismus in der
Politik ab. Es entstand unter uns das beliebte Bild von den Deutschen als
den politischen Idealisten, die ihren Grundsätzen und Träumen nachsingen,
indes die anderen die Welt verteilten. Darum erzogen wir uns zum politischen,
Realismus und ließen uns immer wieder sagen, daß wir noch viel "real-
politischer" werden müßten. Das ist ja die Melodie, die auch heute noch
immer der Altdeutsche Verband angibt, die das ganze Orchester der von seinen
Gedanken beeinflußten Presse Tag für Tag nachbläst, und die aus unzähligen
Kriegszielkundgebungen immer wieder durchklingt. In Wirklichkeit wird man
aber doch Realismus in den politischen Methoden etwa unserer Agrarier, unserer
Schwerindustrie und unserer Großhandelskreise schwerlich mehr im Ernst ver¬
missen. Man beruft sich überall auf Bismarck. aber zuviel auf den Bismarck,
der mit Kürassierstiefeln auftrat. Das feine Bismarckwort von den Imponde¬
rabilien in der Politik zitiert man zwar öfters, vermag es aber kaun: in seiner
ganzen Tragweite zu ermessen. Ist also der Geist unserer Unternehmung und
unseres Nationalismus materialistisch geworden, so ist es der Geist unserer
Arbeiterbewegung, die von Marx und der ökonomischen Geschichtsauffassung
beherrscht wird, nicht minder. Dieser Materialismus des politischen Denkens
ist dem mitteleuropäischen Gedanken nicht günstig. Denn dieser Gedanke, der
mehrere Staaten zu einer höheren Einheit zusammenfassen will, fordert natürlich
von ihnen allen, also auch von unserem Staate. Unterordnung der eigenen
Interessen unter die Interessengemeinschaft. Daß auch einem Staat Rücksichten
oder gar Opfer zugemutet werden könnten, will in unserer Zeit vielen, denen
so oft die Rücksichtslosigkeit der staatlichen Interessenpolitik als oberster Grundsatz
staatsmännischer Weisheit gepredigt worden ist. natürlich nicht leicht in den
Kopf. Bethmann Hollweg hat sich im Kampfe gegen diese Anschauungen Ver-
dienste erworben, die man seinen staatsmännischen Fähigkeiten später wieder
zugute halten wird. Glücklicherweise schwimmt auch die Regierung seines Nach¬
folgers nicht im Fahrwasser der einseitigen Staatsegoisten. Das beweist z. B.
eine der jüngsten Reden des Staatssekretärs des Auswärtigen von Kühlmann,
der nach langer Zeit einmal wieder Worte fand, von Europa und europäischen
gemeinsamen Interessen zu sprechen. Wahrscheinlich haben die altdeutsch be¬
einflußten Kreise schon gewußt, wessen sie sich von Kühlmann zu versehen hatten.


Das mitteleuropäische Rriegsziel

noch wußte ja jeder gebildete Deutsche, der Treitschke gelesen hatte, daß die
großdeutschen Ideen „realpolitisch" völlig unbrauchbar gewesen wären. Er
wußte, daß die deutsche Einheit nur durch den Bruch mit Österreich hatte ge¬
schmiedet werden können, und daß Bismarck verdienstlicherweise endlich mit
allen österreichischen Sentimentalitäten aufgeräumt hatte. Wir sind alle mehr
oder weniger seit dem Scheitern der Paulskirche durch unsere Geschichte zu
einem politischen Denken erzogen worden, das die Faktoren der wirtschaftlichen
und politischen Macht am höchsten wertet. In dieser Beziehung hat in be¬
stimmten Volksschichten Marx ganz ähnlich gewirkt, wie Bismarck in anderen.
Beiderseits leitete man Lehren eines gewissen ethischen Materialismus in der
Politik ab. Es entstand unter uns das beliebte Bild von den Deutschen als
den politischen Idealisten, die ihren Grundsätzen und Träumen nachsingen,
indes die anderen die Welt verteilten. Darum erzogen wir uns zum politischen,
Realismus und ließen uns immer wieder sagen, daß wir noch viel „real-
politischer" werden müßten. Das ist ja die Melodie, die auch heute noch
immer der Altdeutsche Verband angibt, die das ganze Orchester der von seinen
Gedanken beeinflußten Presse Tag für Tag nachbläst, und die aus unzähligen
Kriegszielkundgebungen immer wieder durchklingt. In Wirklichkeit wird man
aber doch Realismus in den politischen Methoden etwa unserer Agrarier, unserer
Schwerindustrie und unserer Großhandelskreise schwerlich mehr im Ernst ver¬
missen. Man beruft sich überall auf Bismarck. aber zuviel auf den Bismarck,
der mit Kürassierstiefeln auftrat. Das feine Bismarckwort von den Imponde¬
rabilien in der Politik zitiert man zwar öfters, vermag es aber kaun: in seiner
ganzen Tragweite zu ermessen. Ist also der Geist unserer Unternehmung und
unseres Nationalismus materialistisch geworden, so ist es der Geist unserer
Arbeiterbewegung, die von Marx und der ökonomischen Geschichtsauffassung
beherrscht wird, nicht minder. Dieser Materialismus des politischen Denkens
ist dem mitteleuropäischen Gedanken nicht günstig. Denn dieser Gedanke, der
mehrere Staaten zu einer höheren Einheit zusammenfassen will, fordert natürlich
von ihnen allen, also auch von unserem Staate. Unterordnung der eigenen
Interessen unter die Interessengemeinschaft. Daß auch einem Staat Rücksichten
oder gar Opfer zugemutet werden könnten, will in unserer Zeit vielen, denen
so oft die Rücksichtslosigkeit der staatlichen Interessenpolitik als oberster Grundsatz
staatsmännischer Weisheit gepredigt worden ist. natürlich nicht leicht in den
Kopf. Bethmann Hollweg hat sich im Kampfe gegen diese Anschauungen Ver-
dienste erworben, die man seinen staatsmännischen Fähigkeiten später wieder
zugute halten wird. Glücklicherweise schwimmt auch die Regierung seines Nach¬
folgers nicht im Fahrwasser der einseitigen Staatsegoisten. Das beweist z. B.
eine der jüngsten Reden des Staatssekretärs des Auswärtigen von Kühlmann,
der nach langer Zeit einmal wieder Worte fand, von Europa und europäischen
gemeinsamen Interessen zu sprechen. Wahrscheinlich haben die altdeutsch be¬
einflußten Kreise schon gewußt, wessen sie sich von Kühlmann zu versehen hatten.


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[0119] Das mitteleuropäische Rriegsziel noch wußte ja jeder gebildete Deutsche, der Treitschke gelesen hatte, daß die großdeutschen Ideen „realpolitisch" völlig unbrauchbar gewesen wären. Er wußte, daß die deutsche Einheit nur durch den Bruch mit Österreich hatte ge¬ schmiedet werden können, und daß Bismarck verdienstlicherweise endlich mit allen österreichischen Sentimentalitäten aufgeräumt hatte. Wir sind alle mehr oder weniger seit dem Scheitern der Paulskirche durch unsere Geschichte zu einem politischen Denken erzogen worden, das die Faktoren der wirtschaftlichen und politischen Macht am höchsten wertet. In dieser Beziehung hat in be¬ stimmten Volksschichten Marx ganz ähnlich gewirkt, wie Bismarck in anderen. Beiderseits leitete man Lehren eines gewissen ethischen Materialismus in der Politik ab. Es entstand unter uns das beliebte Bild von den Deutschen als den politischen Idealisten, die ihren Grundsätzen und Träumen nachsingen, indes die anderen die Welt verteilten. Darum erzogen wir uns zum politischen, Realismus und ließen uns immer wieder sagen, daß wir noch viel „real- politischer" werden müßten. Das ist ja die Melodie, die auch heute noch immer der Altdeutsche Verband angibt, die das ganze Orchester der von seinen Gedanken beeinflußten Presse Tag für Tag nachbläst, und die aus unzähligen Kriegszielkundgebungen immer wieder durchklingt. In Wirklichkeit wird man aber doch Realismus in den politischen Methoden etwa unserer Agrarier, unserer Schwerindustrie und unserer Großhandelskreise schwerlich mehr im Ernst ver¬ missen. Man beruft sich überall auf Bismarck. aber zuviel auf den Bismarck, der mit Kürassierstiefeln auftrat. Das feine Bismarckwort von den Imponde¬ rabilien in der Politik zitiert man zwar öfters, vermag es aber kaun: in seiner ganzen Tragweite zu ermessen. Ist also der Geist unserer Unternehmung und unseres Nationalismus materialistisch geworden, so ist es der Geist unserer Arbeiterbewegung, die von Marx und der ökonomischen Geschichtsauffassung beherrscht wird, nicht minder. Dieser Materialismus des politischen Denkens ist dem mitteleuropäischen Gedanken nicht günstig. Denn dieser Gedanke, der mehrere Staaten zu einer höheren Einheit zusammenfassen will, fordert natürlich von ihnen allen, also auch von unserem Staate. Unterordnung der eigenen Interessen unter die Interessengemeinschaft. Daß auch einem Staat Rücksichten oder gar Opfer zugemutet werden könnten, will in unserer Zeit vielen, denen so oft die Rücksichtslosigkeit der staatlichen Interessenpolitik als oberster Grundsatz staatsmännischer Weisheit gepredigt worden ist. natürlich nicht leicht in den Kopf. Bethmann Hollweg hat sich im Kampfe gegen diese Anschauungen Ver- dienste erworben, die man seinen staatsmännischen Fähigkeiten später wieder zugute halten wird. Glücklicherweise schwimmt auch die Regierung seines Nach¬ folgers nicht im Fahrwasser der einseitigen Staatsegoisten. Das beweist z. B. eine der jüngsten Reden des Staatssekretärs des Auswärtigen von Kühlmann, der nach langer Zeit einmal wieder Worte fand, von Europa und europäischen gemeinsamen Interessen zu sprechen. Wahrscheinlich haben die altdeutsch be¬ einflußten Kreise schon gewußt, wessen sie sich von Kühlmann zu versehen hatten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/119>, abgerufen am 01.09.2024.