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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Die Regierungskrise

Nie waren solche Warnungen gegründeter als in diesem Falle. Ein
Vierteljahr ist erst seit Herrn Dr. Michaelis' Ernennung verflossen, aus den:
Sommer ist Herbst geworden, und schon hat ein rauher Reif sich vernichtend
auf alle Hoffnungen und Träume gelegt. Von dem Vertrauen, das dem
sechsten Kanzler bei seinem Amtsantritt so bereitwillig von allen Seiten ent¬
gegengebracht wurde, ist wenig, sehr wenig zurückgeblieben. Es fehlte nicht
viel, daß es schon bei der Reichstagstagung im August zu einem Konflikt
zwischen Negierung und Parlament und damit zu einer Krise gekommen wäre.
Jetzt, im Oktober, stehen wir unzweifelhaft vor einer wirklichen Krisis der
Reichsleitung. Zwar haben die Zwischenfälle der letzten Reichstagstagung nicht
dazu geführt, daß das von den unabhängigen Sozialdemokraten beantragte
Mißtrauensvotum gegen den Reichskanzler im Gros der bürgerlichen Parteien
aufgenommen wäre. Aber die Ablehnung dieses Mißtrauensvotums hat doch
auch keineswegs die Bedeutung einer Vertrauenserklärung. Die Linksparteien
scheuten vor einer Krise zurück, weil eine solche im Auslande unser Ansehen
von neuem erschüttern mußte, im Inlands aber der Hetze gegen den Reichstag
neue Nahrung zuführen konnte, auch mochte die Besorgnis einwirken, daß an
die Stelle Michaelis' ein Mann treten könnte, der noch weniger nach dem
Herzen der Reichstagsmehrheit ist. Bei der Rechten ist von der entschiedenen
Parteinahme für Michaelis, die anfangs hin und wieder durchblickte, auch kaum
noch etwas zu spüren. Man würde ihn hier vielleicht offen fallen lassen, wenn
nicht, genau wie auf der Linken, die Furcht vor einem fatalen Nachfolger davon
zurückhielte. Dort schreckt das Gespenst des Fürsten Bülow, hier das des
Staatssekretärs von Kühlmann und noch mehr das des Grafen Bernstorff.
Gerade aber der Zustand, daß keine unserer Parteien sich noch für Michaelis
zu erwärmen vermag, jede ihn nur noch als einen provisorischen Platzhalter
für einen unbequemen Nachfolger betrachtet, gibt der Krise den Charakter
einer schleichenden, letzten Endes unheilbaren Krankheit. Wie sich die Dinge
durch die Entwicklung des Falles Michaelis-Capelle zugespitzt haben, wird man
annehmen dürfen, daß nach der Rückkehr des Kaisers aus dem Orient die Krise,
sei es durch die Berufung eines neuen Kanzlers, sei es durch die Ersetzung
eines und des anderen Staatssekretärs, einer Lösung entgegengeführt werd'N
wird. Vielleicht, daß schon bei dem Erscheinen dieses Aufsatzes die Entscheidung
in der einen oder der anderen Richtung gefallen ist.

Wie kam es nur, daß das große Kapital von Vertrauen und Hoffnung, .
mit dem Herr Dr. Michaelis die Erbschaft seines Vorgängers antrat, in so
kurzer Zeit vertan wurde? Wir haben in ihm doch nicht etwa einen leicht¬
herzigen Verschwender zu erblicken, der sorglos mit seinem Pfunde darauf los-
gewirtschaftet hätte, sondern einen Mann von außerordentlicher, fast peinlicher
Gewissenhaftigkeit, der dort zwar, wo er seine Aufgabe und seinen Weg klar
vor sich sieht, mit freudiger Entschlossenheit vorgeht, im allgemeinen aber mit
seiner Stellungnahme und Entscheidung noch vorsichtiger, ja ängstlicher zurück-


Die Regierungskrise

Nie waren solche Warnungen gegründeter als in diesem Falle. Ein
Vierteljahr ist erst seit Herrn Dr. Michaelis' Ernennung verflossen, aus den:
Sommer ist Herbst geworden, und schon hat ein rauher Reif sich vernichtend
auf alle Hoffnungen und Träume gelegt. Von dem Vertrauen, das dem
sechsten Kanzler bei seinem Amtsantritt so bereitwillig von allen Seiten ent¬
gegengebracht wurde, ist wenig, sehr wenig zurückgeblieben. Es fehlte nicht
viel, daß es schon bei der Reichstagstagung im August zu einem Konflikt
zwischen Negierung und Parlament und damit zu einer Krise gekommen wäre.
Jetzt, im Oktober, stehen wir unzweifelhaft vor einer wirklichen Krisis der
Reichsleitung. Zwar haben die Zwischenfälle der letzten Reichstagstagung nicht
dazu geführt, daß das von den unabhängigen Sozialdemokraten beantragte
Mißtrauensvotum gegen den Reichskanzler im Gros der bürgerlichen Parteien
aufgenommen wäre. Aber die Ablehnung dieses Mißtrauensvotums hat doch
auch keineswegs die Bedeutung einer Vertrauenserklärung. Die Linksparteien
scheuten vor einer Krise zurück, weil eine solche im Auslande unser Ansehen
von neuem erschüttern mußte, im Inlands aber der Hetze gegen den Reichstag
neue Nahrung zuführen konnte, auch mochte die Besorgnis einwirken, daß an
die Stelle Michaelis' ein Mann treten könnte, der noch weniger nach dem
Herzen der Reichstagsmehrheit ist. Bei der Rechten ist von der entschiedenen
Parteinahme für Michaelis, die anfangs hin und wieder durchblickte, auch kaum
noch etwas zu spüren. Man würde ihn hier vielleicht offen fallen lassen, wenn
nicht, genau wie auf der Linken, die Furcht vor einem fatalen Nachfolger davon
zurückhielte. Dort schreckt das Gespenst des Fürsten Bülow, hier das des
Staatssekretärs von Kühlmann und noch mehr das des Grafen Bernstorff.
Gerade aber der Zustand, daß keine unserer Parteien sich noch für Michaelis
zu erwärmen vermag, jede ihn nur noch als einen provisorischen Platzhalter
für einen unbequemen Nachfolger betrachtet, gibt der Krise den Charakter
einer schleichenden, letzten Endes unheilbaren Krankheit. Wie sich die Dinge
durch die Entwicklung des Falles Michaelis-Capelle zugespitzt haben, wird man
annehmen dürfen, daß nach der Rückkehr des Kaisers aus dem Orient die Krise,
sei es durch die Berufung eines neuen Kanzlers, sei es durch die Ersetzung
eines und des anderen Staatssekretärs, einer Lösung entgegengeführt werd'N
wird. Vielleicht, daß schon bei dem Erscheinen dieses Aufsatzes die Entscheidung
in der einen oder der anderen Richtung gefallen ist.

Wie kam es nur, daß das große Kapital von Vertrauen und Hoffnung, .
mit dem Herr Dr. Michaelis die Erbschaft seines Vorgängers antrat, in so
kurzer Zeit vertan wurde? Wir haben in ihm doch nicht etwa einen leicht¬
herzigen Verschwender zu erblicken, der sorglos mit seinem Pfunde darauf los-
gewirtschaftet hätte, sondern einen Mann von außerordentlicher, fast peinlicher
Gewissenhaftigkeit, der dort zwar, wo er seine Aufgabe und seinen Weg klar
vor sich sieht, mit freudiger Entschlossenheit vorgeht, im allgemeinen aber mit
seiner Stellungnahme und Entscheidung noch vorsichtiger, ja ängstlicher zurück-


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[0110] Die Regierungskrise Nie waren solche Warnungen gegründeter als in diesem Falle. Ein Vierteljahr ist erst seit Herrn Dr. Michaelis' Ernennung verflossen, aus den: Sommer ist Herbst geworden, und schon hat ein rauher Reif sich vernichtend auf alle Hoffnungen und Träume gelegt. Von dem Vertrauen, das dem sechsten Kanzler bei seinem Amtsantritt so bereitwillig von allen Seiten ent¬ gegengebracht wurde, ist wenig, sehr wenig zurückgeblieben. Es fehlte nicht viel, daß es schon bei der Reichstagstagung im August zu einem Konflikt zwischen Negierung und Parlament und damit zu einer Krise gekommen wäre. Jetzt, im Oktober, stehen wir unzweifelhaft vor einer wirklichen Krisis der Reichsleitung. Zwar haben die Zwischenfälle der letzten Reichstagstagung nicht dazu geführt, daß das von den unabhängigen Sozialdemokraten beantragte Mißtrauensvotum gegen den Reichskanzler im Gros der bürgerlichen Parteien aufgenommen wäre. Aber die Ablehnung dieses Mißtrauensvotums hat doch auch keineswegs die Bedeutung einer Vertrauenserklärung. Die Linksparteien scheuten vor einer Krise zurück, weil eine solche im Auslande unser Ansehen von neuem erschüttern mußte, im Inlands aber der Hetze gegen den Reichstag neue Nahrung zuführen konnte, auch mochte die Besorgnis einwirken, daß an die Stelle Michaelis' ein Mann treten könnte, der noch weniger nach dem Herzen der Reichstagsmehrheit ist. Bei der Rechten ist von der entschiedenen Parteinahme für Michaelis, die anfangs hin und wieder durchblickte, auch kaum noch etwas zu spüren. Man würde ihn hier vielleicht offen fallen lassen, wenn nicht, genau wie auf der Linken, die Furcht vor einem fatalen Nachfolger davon zurückhielte. Dort schreckt das Gespenst des Fürsten Bülow, hier das des Staatssekretärs von Kühlmann und noch mehr das des Grafen Bernstorff. Gerade aber der Zustand, daß keine unserer Parteien sich noch für Michaelis zu erwärmen vermag, jede ihn nur noch als einen provisorischen Platzhalter für einen unbequemen Nachfolger betrachtet, gibt der Krise den Charakter einer schleichenden, letzten Endes unheilbaren Krankheit. Wie sich die Dinge durch die Entwicklung des Falles Michaelis-Capelle zugespitzt haben, wird man annehmen dürfen, daß nach der Rückkehr des Kaisers aus dem Orient die Krise, sei es durch die Berufung eines neuen Kanzlers, sei es durch die Ersetzung eines und des anderen Staatssekretärs, einer Lösung entgegengeführt werd'N wird. Vielleicht, daß schon bei dem Erscheinen dieses Aufsatzes die Entscheidung in der einen oder der anderen Richtung gefallen ist. Wie kam es nur, daß das große Kapital von Vertrauen und Hoffnung, . mit dem Herr Dr. Michaelis die Erbschaft seines Vorgängers antrat, in so kurzer Zeit vertan wurde? Wir haben in ihm doch nicht etwa einen leicht¬ herzigen Verschwender zu erblicken, der sorglos mit seinem Pfunde darauf los- gewirtschaftet hätte, sondern einen Mann von außerordentlicher, fast peinlicher Gewissenhaftigkeit, der dort zwar, wo er seine Aufgabe und seinen Weg klar vor sich sieht, mit freudiger Entschlossenheit vorgeht, im allgemeinen aber mit seiner Stellungnahme und Entscheidung noch vorsichtiger, ja ängstlicher zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/110>, abgerufen am 27.07.2024.