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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Die polnische Frage

Rußlands, sondern auch das Bewußtsein der realdenkenden Polen sprach, daß
der Aufbau eines selbständigen Staates auf unüberwindliche Schwierigkeiten
stoßen würde.

Die deutschen Ausführungen über diese Frage, insofern sie überhaupt
positive Vorschläge brachten, waren zumeist undurchführbar. Es mag genügen
hervorzuheben, daß von reichsdeutscher Seite wohl unbedingt auf weitere Er¬
werbungen polnischer Lande Verzicht geleistet wurde und daß auch hier sich
Stimmen fanden, die einer Unterstellung Polens unter die Habsburgische Monarchie
das Wort redeten, also sich mit dem Wunsche der gemäßigten Polen begegneten.
Dieser Plan hat auch in Österreich den meisten Anklang gefunden. Die Rettung
Polens durch Übergang an die Habsburger war schon zu verschiedenen Zeiten
erörtert worden. Auch in Ungarn fanden sich Stimmen sür diese Lösung.
Erinnert sei daran, daß Graf Julius Andrassv schon kurze Zeit nach der Ver¬
lautbarung des oben erwähnten Aufrufes des Obersten Polnischen National-
komitees in der "Neuen Freien Presse" vom 12. September 1915 die polnischen
Forderungen billigte. Er sührt darin aus, daß die befreiten Polen einen staat¬
lichen Körper mit gesicherter staatsrechtlicher Individualität und polnischer Re¬
gierung bilden müßten. "Wird (dieser Staat) unserer Monarchie angegliedert,
so müßte er einen einheitlichen Körper mit Galizien bilden." Auch die öster¬
reichischen Deutschen kamen diesen Anschauungen sehr nahe; sie waren der
Ansicht, daß Galizien mit den etwa neu zu erwerbenden angrenzenden Gebieten
("Nordostgebiet") innerhalb der Donaumonarchie eine weitgehende Sonderstellung
erhalte; seiner Selbstverwaltung sollten im ganzen nur Rücksichten auf die ge¬
samtstaatlichen Interessen Schranken auferlegen. Zu diesem Schritte wurden
die Deutschösterreicher zumeist dadurch veranlaßt, daß sie auf diese Weise die
Polen auf gute Art aus dem Wiener Parlament herausschaffen wollten, ein
Wunsch, der bekanntlich schon seit 1882 ("Linzer Programm") bestand und
übrigens auch den schon 1868 geäußerten Absichten der Polen entsprach. Vom
polnischen Programm unterschied das deutsche unter anderem folgender be¬
merkenswerte Umstand: um Ordnung und Ruhe in Galizien zu schaffen, billigten
die Deutschen den Wunsch der Ruthenen, daß Ostgalizien eine selbständige
ruthenische Provinz im Rahmen der Monarchie werde. Die Polen forderten
dagegen das "unteilbare Galizien". Ferner war man sich in den deutschen
Kreisen bewußt, daß auch in dieser Form die polnische Frage, deren gewaltige
Schwierigkeiten schon Maria Theresia geahnt hatte, mitten im Kriege nicht zu
lösen sei. Man wußte, daß die polnischen Führer nicht einig sind und daß
von radikalen, russophilen Elementen Quertreibereien zu befürchten feien; ebenso
boten verschiedene andere Fragen (Angelegenheiten der Ruthenen, Juden, Ar¬
beiter und Bauern, wirtschaftliche Belange) die größten Schwierigkeiten. Daher
war die Ansicht verbreitet, daß vorläufig diese Gebiete militärisch zu verwalten
seien, bis ruhigere Verhältnisse die Lösung möglich machen und die Politik
Rußlands andere Bahnen einschlagen würde. Eine entsprechende Vertretung


Die polnische Frage

Rußlands, sondern auch das Bewußtsein der realdenkenden Polen sprach, daß
der Aufbau eines selbständigen Staates auf unüberwindliche Schwierigkeiten
stoßen würde.

Die deutschen Ausführungen über diese Frage, insofern sie überhaupt
positive Vorschläge brachten, waren zumeist undurchführbar. Es mag genügen
hervorzuheben, daß von reichsdeutscher Seite wohl unbedingt auf weitere Er¬
werbungen polnischer Lande Verzicht geleistet wurde und daß auch hier sich
Stimmen fanden, die einer Unterstellung Polens unter die Habsburgische Monarchie
das Wort redeten, also sich mit dem Wunsche der gemäßigten Polen begegneten.
Dieser Plan hat auch in Österreich den meisten Anklang gefunden. Die Rettung
Polens durch Übergang an die Habsburger war schon zu verschiedenen Zeiten
erörtert worden. Auch in Ungarn fanden sich Stimmen sür diese Lösung.
Erinnert sei daran, daß Graf Julius Andrassv schon kurze Zeit nach der Ver¬
lautbarung des oben erwähnten Aufrufes des Obersten Polnischen National-
komitees in der „Neuen Freien Presse" vom 12. September 1915 die polnischen
Forderungen billigte. Er sührt darin aus, daß die befreiten Polen einen staat¬
lichen Körper mit gesicherter staatsrechtlicher Individualität und polnischer Re¬
gierung bilden müßten. „Wird (dieser Staat) unserer Monarchie angegliedert,
so müßte er einen einheitlichen Körper mit Galizien bilden." Auch die öster¬
reichischen Deutschen kamen diesen Anschauungen sehr nahe; sie waren der
Ansicht, daß Galizien mit den etwa neu zu erwerbenden angrenzenden Gebieten
(„Nordostgebiet") innerhalb der Donaumonarchie eine weitgehende Sonderstellung
erhalte; seiner Selbstverwaltung sollten im ganzen nur Rücksichten auf die ge¬
samtstaatlichen Interessen Schranken auferlegen. Zu diesem Schritte wurden
die Deutschösterreicher zumeist dadurch veranlaßt, daß sie auf diese Weise die
Polen auf gute Art aus dem Wiener Parlament herausschaffen wollten, ein
Wunsch, der bekanntlich schon seit 1882 („Linzer Programm") bestand und
übrigens auch den schon 1868 geäußerten Absichten der Polen entsprach. Vom
polnischen Programm unterschied das deutsche unter anderem folgender be¬
merkenswerte Umstand: um Ordnung und Ruhe in Galizien zu schaffen, billigten
die Deutschen den Wunsch der Ruthenen, daß Ostgalizien eine selbständige
ruthenische Provinz im Rahmen der Monarchie werde. Die Polen forderten
dagegen das „unteilbare Galizien". Ferner war man sich in den deutschen
Kreisen bewußt, daß auch in dieser Form die polnische Frage, deren gewaltige
Schwierigkeiten schon Maria Theresia geahnt hatte, mitten im Kriege nicht zu
lösen sei. Man wußte, daß die polnischen Führer nicht einig sind und daß
von radikalen, russophilen Elementen Quertreibereien zu befürchten feien; ebenso
boten verschiedene andere Fragen (Angelegenheiten der Ruthenen, Juden, Ar¬
beiter und Bauern, wirtschaftliche Belange) die größten Schwierigkeiten. Daher
war die Ansicht verbreitet, daß vorläufig diese Gebiete militärisch zu verwalten
seien, bis ruhigere Verhältnisse die Lösung möglich machen und die Politik
Rußlands andere Bahnen einschlagen würde. Eine entsprechende Vertretung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/98>, abgerufen am 04.07.2024.