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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Neue Bücher
Max Dessoir, "Vom Jenseits der Seele". Vortag Ferdinand Ente. Stutt¬
gart 1917. M. 11.-.

Die kritischen Betrachtungen über die Geheimwissenschaften von Max Dessoir
erscheinen zum geeignetsten Augenblick. Heute, wo mittelalterliche Prophezeiungen
über den Weltkrieg von Hand zu Hand gehen, wo Werke mystischer Weltanschauung
Riesenabsatz finden, ist es besonders erwünscht, daß die Stimme der Vernunft
mit der ganzen Prätension einer kühl-beobachtenden Wissenschasilichkeit sich geltend
macht gegenüber einem taschenspielerkunst-gewandten Spiritismus oder einer all-
weisen Theosophie.

Es gibt wohl Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich unserem Erkennen
entziehen und vielleicht ewig entziehen werden, wie das Urrätsel der Seele.
Diese durch spiritistische Halbdunkelapparate lösen zu wollen, ist ein Unterfangen,
das der ernsten Wissenschaft nur Achselzucken abgefordert hat. Mit Dessoir kann
man daS vielleicht bedauern. Oder auch nicht. Denn gerade durch ihre Selbst
beschränkung auf das rein Tatsächliche der Bewußseinsvorgänge hat die experi-
mentelle Psychologie unserer Tage so großartige und für die Lebenspraxis so
hochbedeutsame Fortschritte gemacht, daß man die Beiseitestellung des eigentlichen
Leib-Seele-Problems und dessen in taufenden von Jahren nicht vorwärts ge¬
kommenen spekulativen Deduktionen keineswegs als bedauerlich zu empfinden
braucht. Die menschliche Individualität freilich sucht -- begreiflicherweise -- un¬
geduldig eine sofortige Erklärung für das Übersinnliche, das ihr begegnet, und
klammert sich naturgemäß an besonders greifbare "Beweise", wie sie die Zauberer
aller Jahrhunderte und aller Völkerrassen zu eigenen: Nutz und Frommen zu
produzieren verstanden haben oder wie sie ethisch Hochgesinnte zu didaktischen
Zwecken zu propagieren für gut befanden. Der sehnsuchtbefangene Wahrheit¬
sucher läßt sich leicht blenden! ihm sei Dessoirs Buch als kritischer Wegweiser und
Warner dringendst empfohlen. Er findet darin die notwendige Einführung in
das Wissen von den Bewußtseinsvorgängen (Unterbewußtsein, Bewußtseinsspaltung),
von Traum, Hypnose und Suggestion. Im Anschluß an den "Fall Piper" wird
sodann das erste Problem des Unbegreiflichen und darum zum Wunderbaren ge¬
stempelten erörtert: der sogenannte seelische Automatismus. Man versteht darunter die
Fähigkeit gewisser Menschen, im hypnoseähnlichen Zustande des "Trance" Geister-




Neue Bücher
Max Dessoir, „Vom Jenseits der Seele". Vortag Ferdinand Ente. Stutt¬
gart 1917. M. 11.-.

Die kritischen Betrachtungen über die Geheimwissenschaften von Max Dessoir
erscheinen zum geeignetsten Augenblick. Heute, wo mittelalterliche Prophezeiungen
über den Weltkrieg von Hand zu Hand gehen, wo Werke mystischer Weltanschauung
Riesenabsatz finden, ist es besonders erwünscht, daß die Stimme der Vernunft
mit der ganzen Prätension einer kühl-beobachtenden Wissenschasilichkeit sich geltend
macht gegenüber einem taschenspielerkunst-gewandten Spiritismus oder einer all-
weisen Theosophie.

Es gibt wohl Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich unserem Erkennen
entziehen und vielleicht ewig entziehen werden, wie das Urrätsel der Seele.
Diese durch spiritistische Halbdunkelapparate lösen zu wollen, ist ein Unterfangen,
das der ernsten Wissenschaft nur Achselzucken abgefordert hat. Mit Dessoir kann
man daS vielleicht bedauern. Oder auch nicht. Denn gerade durch ihre Selbst
beschränkung auf das rein Tatsächliche der Bewußseinsvorgänge hat die experi-
mentelle Psychologie unserer Tage so großartige und für die Lebenspraxis so
hochbedeutsame Fortschritte gemacht, daß man die Beiseitestellung des eigentlichen
Leib-Seele-Problems und dessen in taufenden von Jahren nicht vorwärts ge¬
kommenen spekulativen Deduktionen keineswegs als bedauerlich zu empfinden
braucht. Die menschliche Individualität freilich sucht — begreiflicherweise — un¬
geduldig eine sofortige Erklärung für das Übersinnliche, das ihr begegnet, und
klammert sich naturgemäß an besonders greifbare „Beweise", wie sie die Zauberer
aller Jahrhunderte und aller Völkerrassen zu eigenen: Nutz und Frommen zu
produzieren verstanden haben oder wie sie ethisch Hochgesinnte zu didaktischen
Zwecken zu propagieren für gut befanden. Der sehnsuchtbefangene Wahrheit¬
sucher läßt sich leicht blenden! ihm sei Dessoirs Buch als kritischer Wegweiser und
Warner dringendst empfohlen. Er findet darin die notwendige Einführung in
das Wissen von den Bewußtseinsvorgängen (Unterbewußtsein, Bewußtseinsspaltung),
von Traum, Hypnose und Suggestion. Im Anschluß an den „Fall Piper" wird
sodann das erste Problem des Unbegreiflichen und darum zum Wunderbaren ge¬
stempelten erörtert: der sogenannte seelische Automatismus. Man versteht darunter die
Fähigkeit gewisser Menschen, im hypnoseähnlichen Zustande des „Trance" Geister-


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[0362] [Abbildung] Neue Bücher Max Dessoir, „Vom Jenseits der Seele". Vortag Ferdinand Ente. Stutt¬ gart 1917. M. 11.-. Die kritischen Betrachtungen über die Geheimwissenschaften von Max Dessoir erscheinen zum geeignetsten Augenblick. Heute, wo mittelalterliche Prophezeiungen über den Weltkrieg von Hand zu Hand gehen, wo Werke mystischer Weltanschauung Riesenabsatz finden, ist es besonders erwünscht, daß die Stimme der Vernunft mit der ganzen Prätension einer kühl-beobachtenden Wissenschasilichkeit sich geltend macht gegenüber einem taschenspielerkunst-gewandten Spiritismus oder einer all- weisen Theosophie. Es gibt wohl Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich unserem Erkennen entziehen und vielleicht ewig entziehen werden, wie das Urrätsel der Seele. Diese durch spiritistische Halbdunkelapparate lösen zu wollen, ist ein Unterfangen, das der ernsten Wissenschaft nur Achselzucken abgefordert hat. Mit Dessoir kann man daS vielleicht bedauern. Oder auch nicht. Denn gerade durch ihre Selbst beschränkung auf das rein Tatsächliche der Bewußseinsvorgänge hat die experi- mentelle Psychologie unserer Tage so großartige und für die Lebenspraxis so hochbedeutsame Fortschritte gemacht, daß man die Beiseitestellung des eigentlichen Leib-Seele-Problems und dessen in taufenden von Jahren nicht vorwärts ge¬ kommenen spekulativen Deduktionen keineswegs als bedauerlich zu empfinden braucht. Die menschliche Individualität freilich sucht — begreiflicherweise — un¬ geduldig eine sofortige Erklärung für das Übersinnliche, das ihr begegnet, und klammert sich naturgemäß an besonders greifbare „Beweise", wie sie die Zauberer aller Jahrhunderte und aller Völkerrassen zu eigenen: Nutz und Frommen zu produzieren verstanden haben oder wie sie ethisch Hochgesinnte zu didaktischen Zwecken zu propagieren für gut befanden. Der sehnsuchtbefangene Wahrheit¬ sucher läßt sich leicht blenden! ihm sei Dessoirs Buch als kritischer Wegweiser und Warner dringendst empfohlen. Er findet darin die notwendige Einführung in das Wissen von den Bewußtseinsvorgängen (Unterbewußtsein, Bewußtseinsspaltung), von Traum, Hypnose und Suggestion. Im Anschluß an den „Fall Piper" wird sodann das erste Problem des Unbegreiflichen und darum zum Wunderbaren ge¬ stempelten erörtert: der sogenannte seelische Automatismus. Man versteht darunter die Fähigkeit gewisser Menschen, im hypnoseähnlichen Zustande des „Trance" Geister-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/362>, abgerufen am 24.07.2024.