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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Deutschkunde oder Germanistik?

flächlich berührt, wenn man von vaterländischen Sinn spricht, entspringt nicht
aus einem Stückwerk. Es müssen hier Instinkte wachgerufen werden, ein
deutsches Gemeingefühl, das aus einem einzelnen Wissenschaftszweig schwerlich
kräftig hervorbricht. Es muß alles zusammenkommen, an dem unser Sonder¬
wesen sich ausdrückt, Sage und Geschichte. Kultur und deutsche Zivilisations-
form, Sprache, Literatur und Wissenschaft, bildende Kunst und Musik,
Frömmigkeit und Philosophie, ja selbst Landwirtschaft und Handwerk. In¬
dustrie und Technik, sofern sie nicht internationales Gepräge tragen, kurz alles,
woran und insoweit deutsche Art erkennbar ist.

Es ist klar, daß niemand die Gesamtgebiete, die hier aufgezählt sind,
Schülern völlig zu übermitteln vermag. Ist doch an vielen Punkten das
spezifisch Deutsche noch gar nicht scharf erkannt und hervorgehoben worden.
Und doch bleibt die ideale Forderung bestehen, daß wenigstens diejenigen Gebiete
von unserer Jugend bewußt überblickt werden, an denen deutsches Wesen be¬
sonders klar und in seinem Werden und Sichentfalten unzweifelhaft erkannt zu
werden vermag.

Aber haben wir denn nicht schon bisher dafür genug getan? Deutsche
Literatur und Geschichte, deutsche Sprache und Geographie -- haben sie nicht
tausendfältig Gelegenheit geboten, dem deutschen Jungen das Anderssein gegen¬
über fremder Wesensart bewußt zu machen, zumal wenn daneben ein fremd¬
sprachlicher Unterricht, in entsprechender Richtung eingestellt, die Vergleiche bot?

Durch den Lehrplan der Gymnasien und Realanstalten in Deutschland
geht der Deutschunterricht mit einem Ansatz von durchschnittlich drei wöchent¬
lichen Stunden, und es wird darin tüchtig gearbeitet, zumal doch auch der
ganze technische Teil (Grammatik. Orthographie, Aufsatz) in dieser knappen Zeit
bewältigt werden muß; auch die Reifeprüfung enthält überall wenigstens den
deutschen Aufsatz. Aber ist das, was man da als Deutschunterricht ausgibt,
d. h. die Schulung im sprachlichen Ausdruck und die Kenntnis einer Anzahl
literarischer Werke, unter den heutigen Voraussetzungen noch genug? Mehr:
war es früher genug? Hat nicht schon bisher die geringe Pflege, die deutscher
Kultur, deutscher Art gewidmet war. zu lebhafter Klage herausgefordert, z. B.
daß für die deutsche Kunst nur nebenbei ein Plätzchen gewonnen werden konnte,
auf Kosten des Pensums? Und gibt es ein Kulturelement, das dem Wesen
eines Volkes besser Ausdruck verliehe als die Kunst?

Erträglich wäre die Lage noch gewesen, wenn wenigstens das deutsche
Schrifttum in breitester Weise den Schülern bekannt geworden wäre. Aber
war das in den wenigen Stunden und bei dem eifersüchtigen Wettbewerb aller
Fächer um die karge Freizeit des Schülers möglich? Ein mehr oder minder
flüchtiger Überblick über die Literatur bis zur Zeit Goethes, die wichtigsten
Dichtungen der klassischen Zeit, das war das Durchschnittsergebnis. Hier und
da beschäftigte sich ein Außenseiter mit Romantik, einzelne Werke von Grill-
parzer. Hebbel, Ludwig, Heyse, Raabe, Storm. Keller, Meiler sind immer


Deutschkunde oder Germanistik?

flächlich berührt, wenn man von vaterländischen Sinn spricht, entspringt nicht
aus einem Stückwerk. Es müssen hier Instinkte wachgerufen werden, ein
deutsches Gemeingefühl, das aus einem einzelnen Wissenschaftszweig schwerlich
kräftig hervorbricht. Es muß alles zusammenkommen, an dem unser Sonder¬
wesen sich ausdrückt, Sage und Geschichte. Kultur und deutsche Zivilisations-
form, Sprache, Literatur und Wissenschaft, bildende Kunst und Musik,
Frömmigkeit und Philosophie, ja selbst Landwirtschaft und Handwerk. In¬
dustrie und Technik, sofern sie nicht internationales Gepräge tragen, kurz alles,
woran und insoweit deutsche Art erkennbar ist.

Es ist klar, daß niemand die Gesamtgebiete, die hier aufgezählt sind,
Schülern völlig zu übermitteln vermag. Ist doch an vielen Punkten das
spezifisch Deutsche noch gar nicht scharf erkannt und hervorgehoben worden.
Und doch bleibt die ideale Forderung bestehen, daß wenigstens diejenigen Gebiete
von unserer Jugend bewußt überblickt werden, an denen deutsches Wesen be¬
sonders klar und in seinem Werden und Sichentfalten unzweifelhaft erkannt zu
werden vermag.

Aber haben wir denn nicht schon bisher dafür genug getan? Deutsche
Literatur und Geschichte, deutsche Sprache und Geographie — haben sie nicht
tausendfältig Gelegenheit geboten, dem deutschen Jungen das Anderssein gegen¬
über fremder Wesensart bewußt zu machen, zumal wenn daneben ein fremd¬
sprachlicher Unterricht, in entsprechender Richtung eingestellt, die Vergleiche bot?

Durch den Lehrplan der Gymnasien und Realanstalten in Deutschland
geht der Deutschunterricht mit einem Ansatz von durchschnittlich drei wöchent¬
lichen Stunden, und es wird darin tüchtig gearbeitet, zumal doch auch der
ganze technische Teil (Grammatik. Orthographie, Aufsatz) in dieser knappen Zeit
bewältigt werden muß; auch die Reifeprüfung enthält überall wenigstens den
deutschen Aufsatz. Aber ist das, was man da als Deutschunterricht ausgibt,
d. h. die Schulung im sprachlichen Ausdruck und die Kenntnis einer Anzahl
literarischer Werke, unter den heutigen Voraussetzungen noch genug? Mehr:
war es früher genug? Hat nicht schon bisher die geringe Pflege, die deutscher
Kultur, deutscher Art gewidmet war. zu lebhafter Klage herausgefordert, z. B.
daß für die deutsche Kunst nur nebenbei ein Plätzchen gewonnen werden konnte,
auf Kosten des Pensums? Und gibt es ein Kulturelement, das dem Wesen
eines Volkes besser Ausdruck verliehe als die Kunst?

Erträglich wäre die Lage noch gewesen, wenn wenigstens das deutsche
Schrifttum in breitester Weise den Schülern bekannt geworden wäre. Aber
war das in den wenigen Stunden und bei dem eifersüchtigen Wettbewerb aller
Fächer um die karge Freizeit des Schülers möglich? Ein mehr oder minder
flüchtiger Überblick über die Literatur bis zur Zeit Goethes, die wichtigsten
Dichtungen der klassischen Zeit, das war das Durchschnittsergebnis. Hier und
da beschäftigte sich ein Außenseiter mit Romantik, einzelne Werke von Grill-
parzer. Hebbel, Ludwig, Heyse, Raabe, Storm. Keller, Meiler sind immer


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[0152] Deutschkunde oder Germanistik? flächlich berührt, wenn man von vaterländischen Sinn spricht, entspringt nicht aus einem Stückwerk. Es müssen hier Instinkte wachgerufen werden, ein deutsches Gemeingefühl, das aus einem einzelnen Wissenschaftszweig schwerlich kräftig hervorbricht. Es muß alles zusammenkommen, an dem unser Sonder¬ wesen sich ausdrückt, Sage und Geschichte. Kultur und deutsche Zivilisations- form, Sprache, Literatur und Wissenschaft, bildende Kunst und Musik, Frömmigkeit und Philosophie, ja selbst Landwirtschaft und Handwerk. In¬ dustrie und Technik, sofern sie nicht internationales Gepräge tragen, kurz alles, woran und insoweit deutsche Art erkennbar ist. Es ist klar, daß niemand die Gesamtgebiete, die hier aufgezählt sind, Schülern völlig zu übermitteln vermag. Ist doch an vielen Punkten das spezifisch Deutsche noch gar nicht scharf erkannt und hervorgehoben worden. Und doch bleibt die ideale Forderung bestehen, daß wenigstens diejenigen Gebiete von unserer Jugend bewußt überblickt werden, an denen deutsches Wesen be¬ sonders klar und in seinem Werden und Sichentfalten unzweifelhaft erkannt zu werden vermag. Aber haben wir denn nicht schon bisher dafür genug getan? Deutsche Literatur und Geschichte, deutsche Sprache und Geographie — haben sie nicht tausendfältig Gelegenheit geboten, dem deutschen Jungen das Anderssein gegen¬ über fremder Wesensart bewußt zu machen, zumal wenn daneben ein fremd¬ sprachlicher Unterricht, in entsprechender Richtung eingestellt, die Vergleiche bot? Durch den Lehrplan der Gymnasien und Realanstalten in Deutschland geht der Deutschunterricht mit einem Ansatz von durchschnittlich drei wöchent¬ lichen Stunden, und es wird darin tüchtig gearbeitet, zumal doch auch der ganze technische Teil (Grammatik. Orthographie, Aufsatz) in dieser knappen Zeit bewältigt werden muß; auch die Reifeprüfung enthält überall wenigstens den deutschen Aufsatz. Aber ist das, was man da als Deutschunterricht ausgibt, d. h. die Schulung im sprachlichen Ausdruck und die Kenntnis einer Anzahl literarischer Werke, unter den heutigen Voraussetzungen noch genug? Mehr: war es früher genug? Hat nicht schon bisher die geringe Pflege, die deutscher Kultur, deutscher Art gewidmet war. zu lebhafter Klage herausgefordert, z. B. daß für die deutsche Kunst nur nebenbei ein Plätzchen gewonnen werden konnte, auf Kosten des Pensums? Und gibt es ein Kulturelement, das dem Wesen eines Volkes besser Ausdruck verliehe als die Kunst? Erträglich wäre die Lage noch gewesen, wenn wenigstens das deutsche Schrifttum in breitester Weise den Schülern bekannt geworden wäre. Aber war das in den wenigen Stunden und bei dem eifersüchtigen Wettbewerb aller Fächer um die karge Freizeit des Schülers möglich? Ein mehr oder minder flüchtiger Überblick über die Literatur bis zur Zeit Goethes, die wichtigsten Dichtungen der klassischen Zeit, das war das Durchschnittsergebnis. Hier und da beschäftigte sich ein Außenseiter mit Romantik, einzelne Werke von Grill- parzer. Hebbel, Ludwig, Heyse, Raabe, Storm. Keller, Meiler sind immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/152>, abgerufen am 13.01.2025.