Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die baltische Frage und die russische Revolution

sucht in der breiten russischen Masse den Schrei der Bourgeoisie nach Kon-
stantinopel übertönt, so ist das wohl verständlich. Es ist aber sicher, daß
dieser Schrei wieder Resonanz in den Massen finden wird, sobald die Aus¬
sichten für einen Rachekrieg günstig sind. Die ungeheure zahlenmäßige Über¬
legenheit, auf die Rußland bei seinem Geburtenzuwachs in wenigen Jahr¬
zehnten rechnen darf, wird in absehbarer Zeit solche Siegesaussichten schaffen.
Und die Demokratisierung Rußlands, die auf die Dauer wahrscheinlich zu
einer rationelleren Ausnützung der russischen Volkskräfte für den zivilisatorischer
und technischen Fortschritt führen wird, wird diesen Kriegswillen auf die Dauer
der kommenden Jahrzehnte nicht lähmen, sondern steigern. Es ist ein Glück,
daß eben dies Anwachsen der russischen Gefahr die beste Gewähr für eine
dauernde Festigung des mitteleuropäischen Bündnisses bieten wird. Und man
kann hoffen, daß die unerbittliche Logik dieser Tatsachen mit der Zeit auch
das schwankende Schweden in diesen Bund hineinziehen wird. Dann aber ist
es von äußerstem Belang, ob Deutschland oder Rußland die Ostsee beherrscht.
Schieben wir schon jetzt Mitteleuropa bis an den Finnischen Meerbusen oder
gar durch Schaffung eines finnischen Pufferstaates bis zum Ozean empor, dann
ist Skandinavien bereits halb für Mitteleuropa gewonnen und für den Krieg,
den russische Eroberungsgier uns aller Voraussicht nach in einigen Jahrzehnten
aufdrängen wird, ist das Schwergewicht Mitteleuropas und damit die Zuver¬
sicht auf' dauernde Selbstbehauptung gegenüber dem unheimlich andringenden
Osten bereits heute wesentlich verstärkt.

Soviel also sagt die russische Revolution gewissermaßen negativ zur
baltischen Frage, daß für die gebotene Rechnung mit Jahrzehnten, statt mit
Jahren kein Grund vorliegt, ein friedfertiges Rußland als Ergebnis dieser
Entwicklung anzusetzen und die nötigen Sicherungsmaßnahmen irgend einzu¬
schränken. Wenn demnach also die Loslösung des zum mitteleuropäischen
Kulturbereich gehörigen Westrußlands nach wie vor geboten erscheint, so sind
alle Momente zu beachten, die gerade heute dieser Lösung entgegenkommen.
Daß die fortschreitende militärische Zersetzung des russischen Heeres uns einen
entscheidenden Sieg erleichtern müßte, falls es im Osten überhaupt noch zu
größeren Kämpfen kommen sollte, kann bereits heute als sicher angenommen
werden. Noch^bedeutsamer aber sind politische Nachrichten, die zu uns her¬
überbringen, wenn schon sie bisher noch nicht in vollem Umfange bestätigt
find. Darnach sind bereits in Livland Loslösungsbestrebungen der Letten und
Ehlen bemerkbar, wie sie schon in der Revolution von 1905/06 zutage traten.
Sollten diese Bestrebungen weiter um sich greifen und mit einer Auflösung der
Disziplin in der russischen Nordarmee Hand in Hand gehen, so könnte die
Möglichkeit einer militärischen Besetzung Livlands und Estlands in eine Nähe
rücken, wie wir es noch vor ganz kurzem kaum zu hoffen, geschweige denn zu
erwarten wagten. Ob sie freilich ausgenutzt werden solle und könne, hängt
mit den allgemeinen militärischen Dispositionen zusammen, die allein Sache


Die baltische Frage und die russische Revolution

sucht in der breiten russischen Masse den Schrei der Bourgeoisie nach Kon-
stantinopel übertönt, so ist das wohl verständlich. Es ist aber sicher, daß
dieser Schrei wieder Resonanz in den Massen finden wird, sobald die Aus¬
sichten für einen Rachekrieg günstig sind. Die ungeheure zahlenmäßige Über¬
legenheit, auf die Rußland bei seinem Geburtenzuwachs in wenigen Jahr¬
zehnten rechnen darf, wird in absehbarer Zeit solche Siegesaussichten schaffen.
Und die Demokratisierung Rußlands, die auf die Dauer wahrscheinlich zu
einer rationelleren Ausnützung der russischen Volkskräfte für den zivilisatorischer
und technischen Fortschritt führen wird, wird diesen Kriegswillen auf die Dauer
der kommenden Jahrzehnte nicht lähmen, sondern steigern. Es ist ein Glück,
daß eben dies Anwachsen der russischen Gefahr die beste Gewähr für eine
dauernde Festigung des mitteleuropäischen Bündnisses bieten wird. Und man
kann hoffen, daß die unerbittliche Logik dieser Tatsachen mit der Zeit auch
das schwankende Schweden in diesen Bund hineinziehen wird. Dann aber ist
es von äußerstem Belang, ob Deutschland oder Rußland die Ostsee beherrscht.
Schieben wir schon jetzt Mitteleuropa bis an den Finnischen Meerbusen oder
gar durch Schaffung eines finnischen Pufferstaates bis zum Ozean empor, dann
ist Skandinavien bereits halb für Mitteleuropa gewonnen und für den Krieg,
den russische Eroberungsgier uns aller Voraussicht nach in einigen Jahrzehnten
aufdrängen wird, ist das Schwergewicht Mitteleuropas und damit die Zuver¬
sicht auf' dauernde Selbstbehauptung gegenüber dem unheimlich andringenden
Osten bereits heute wesentlich verstärkt.

Soviel also sagt die russische Revolution gewissermaßen negativ zur
baltischen Frage, daß für die gebotene Rechnung mit Jahrzehnten, statt mit
Jahren kein Grund vorliegt, ein friedfertiges Rußland als Ergebnis dieser
Entwicklung anzusetzen und die nötigen Sicherungsmaßnahmen irgend einzu¬
schränken. Wenn demnach also die Loslösung des zum mitteleuropäischen
Kulturbereich gehörigen Westrußlands nach wie vor geboten erscheint, so sind
alle Momente zu beachten, die gerade heute dieser Lösung entgegenkommen.
Daß die fortschreitende militärische Zersetzung des russischen Heeres uns einen
entscheidenden Sieg erleichtern müßte, falls es im Osten überhaupt noch zu
größeren Kämpfen kommen sollte, kann bereits heute als sicher angenommen
werden. Noch^bedeutsamer aber sind politische Nachrichten, die zu uns her¬
überbringen, wenn schon sie bisher noch nicht in vollem Umfange bestätigt
find. Darnach sind bereits in Livland Loslösungsbestrebungen der Letten und
Ehlen bemerkbar, wie sie schon in der Revolution von 1905/06 zutage traten.
Sollten diese Bestrebungen weiter um sich greifen und mit einer Auflösung der
Disziplin in der russischen Nordarmee Hand in Hand gehen, so könnte die
Möglichkeit einer militärischen Besetzung Livlands und Estlands in eine Nähe
rücken, wie wir es noch vor ganz kurzem kaum zu hoffen, geschweige denn zu
erwarten wagten. Ob sie freilich ausgenutzt werden solle und könne, hängt
mit den allgemeinen militärischen Dispositionen zusammen, die allein Sache


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331989"/>
          <fw type="header" place="top"> Die baltische Frage und die russische Revolution</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_368" prev="#ID_367"> sucht in der breiten russischen Masse den Schrei der Bourgeoisie nach Kon-<lb/>
stantinopel übertönt, so ist das wohl verständlich. Es ist aber sicher, daß<lb/>
dieser Schrei wieder Resonanz in den Massen finden wird, sobald die Aus¬<lb/>
sichten für einen Rachekrieg günstig sind. Die ungeheure zahlenmäßige Über¬<lb/>
legenheit, auf die Rußland bei seinem Geburtenzuwachs in wenigen Jahr¬<lb/>
zehnten rechnen darf, wird in absehbarer Zeit solche Siegesaussichten schaffen.<lb/>
Und die Demokratisierung Rußlands, die auf die Dauer wahrscheinlich zu<lb/>
einer rationelleren Ausnützung der russischen Volkskräfte für den zivilisatorischer<lb/>
und technischen Fortschritt führen wird, wird diesen Kriegswillen auf die Dauer<lb/>
der kommenden Jahrzehnte nicht lähmen, sondern steigern. Es ist ein Glück,<lb/>
daß eben dies Anwachsen der russischen Gefahr die beste Gewähr für eine<lb/>
dauernde Festigung des mitteleuropäischen Bündnisses bieten wird. Und man<lb/>
kann hoffen, daß die unerbittliche Logik dieser Tatsachen mit der Zeit auch<lb/>
das schwankende Schweden in diesen Bund hineinziehen wird. Dann aber ist<lb/>
es von äußerstem Belang, ob Deutschland oder Rußland die Ostsee beherrscht.<lb/>
Schieben wir schon jetzt Mitteleuropa bis an den Finnischen Meerbusen oder<lb/>
gar durch Schaffung eines finnischen Pufferstaates bis zum Ozean empor, dann<lb/>
ist Skandinavien bereits halb für Mitteleuropa gewonnen und für den Krieg,<lb/>
den russische Eroberungsgier uns aller Voraussicht nach in einigen Jahrzehnten<lb/>
aufdrängen wird, ist das Schwergewicht Mitteleuropas und damit die Zuver¬<lb/>
sicht auf' dauernde Selbstbehauptung gegenüber dem unheimlich andringenden<lb/>
Osten bereits heute wesentlich verstärkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_369" next="#ID_370"> Soviel also sagt die russische Revolution gewissermaßen negativ zur<lb/>
baltischen Frage, daß für die gebotene Rechnung mit Jahrzehnten, statt mit<lb/>
Jahren kein Grund vorliegt, ein friedfertiges Rußland als Ergebnis dieser<lb/>
Entwicklung anzusetzen und die nötigen Sicherungsmaßnahmen irgend einzu¬<lb/>
schränken. Wenn demnach also die Loslösung des zum mitteleuropäischen<lb/>
Kulturbereich gehörigen Westrußlands nach wie vor geboten erscheint, so sind<lb/>
alle Momente zu beachten, die gerade heute dieser Lösung entgegenkommen.<lb/>
Daß die fortschreitende militärische Zersetzung des russischen Heeres uns einen<lb/>
entscheidenden Sieg erleichtern müßte, falls es im Osten überhaupt noch zu<lb/>
größeren Kämpfen kommen sollte, kann bereits heute als sicher angenommen<lb/>
werden. Noch^bedeutsamer aber sind politische Nachrichten, die zu uns her¬<lb/>
überbringen, wenn schon sie bisher noch nicht in vollem Umfange bestätigt<lb/>
find. Darnach sind bereits in Livland Loslösungsbestrebungen der Letten und<lb/>
Ehlen bemerkbar, wie sie schon in der Revolution von 1905/06 zutage traten.<lb/>
Sollten diese Bestrebungen weiter um sich greifen und mit einer Auflösung der<lb/>
Disziplin in der russischen Nordarmee Hand in Hand gehen, so könnte die<lb/>
Möglichkeit einer militärischen Besetzung Livlands und Estlands in eine Nähe<lb/>
rücken, wie wir es noch vor ganz kurzem kaum zu hoffen, geschweige denn zu<lb/>
erwarten wagten. Ob sie freilich ausgenutzt werden solle und könne, hängt<lb/>
mit den allgemeinen militärischen Dispositionen zusammen, die allein Sache</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0147] Die baltische Frage und die russische Revolution sucht in der breiten russischen Masse den Schrei der Bourgeoisie nach Kon- stantinopel übertönt, so ist das wohl verständlich. Es ist aber sicher, daß dieser Schrei wieder Resonanz in den Massen finden wird, sobald die Aus¬ sichten für einen Rachekrieg günstig sind. Die ungeheure zahlenmäßige Über¬ legenheit, auf die Rußland bei seinem Geburtenzuwachs in wenigen Jahr¬ zehnten rechnen darf, wird in absehbarer Zeit solche Siegesaussichten schaffen. Und die Demokratisierung Rußlands, die auf die Dauer wahrscheinlich zu einer rationelleren Ausnützung der russischen Volkskräfte für den zivilisatorischer und technischen Fortschritt führen wird, wird diesen Kriegswillen auf die Dauer der kommenden Jahrzehnte nicht lähmen, sondern steigern. Es ist ein Glück, daß eben dies Anwachsen der russischen Gefahr die beste Gewähr für eine dauernde Festigung des mitteleuropäischen Bündnisses bieten wird. Und man kann hoffen, daß die unerbittliche Logik dieser Tatsachen mit der Zeit auch das schwankende Schweden in diesen Bund hineinziehen wird. Dann aber ist es von äußerstem Belang, ob Deutschland oder Rußland die Ostsee beherrscht. Schieben wir schon jetzt Mitteleuropa bis an den Finnischen Meerbusen oder gar durch Schaffung eines finnischen Pufferstaates bis zum Ozean empor, dann ist Skandinavien bereits halb für Mitteleuropa gewonnen und für den Krieg, den russische Eroberungsgier uns aller Voraussicht nach in einigen Jahrzehnten aufdrängen wird, ist das Schwergewicht Mitteleuropas und damit die Zuver¬ sicht auf' dauernde Selbstbehauptung gegenüber dem unheimlich andringenden Osten bereits heute wesentlich verstärkt. Soviel also sagt die russische Revolution gewissermaßen negativ zur baltischen Frage, daß für die gebotene Rechnung mit Jahrzehnten, statt mit Jahren kein Grund vorliegt, ein friedfertiges Rußland als Ergebnis dieser Entwicklung anzusetzen und die nötigen Sicherungsmaßnahmen irgend einzu¬ schränken. Wenn demnach also die Loslösung des zum mitteleuropäischen Kulturbereich gehörigen Westrußlands nach wie vor geboten erscheint, so sind alle Momente zu beachten, die gerade heute dieser Lösung entgegenkommen. Daß die fortschreitende militärische Zersetzung des russischen Heeres uns einen entscheidenden Sieg erleichtern müßte, falls es im Osten überhaupt noch zu größeren Kämpfen kommen sollte, kann bereits heute als sicher angenommen werden. Noch^bedeutsamer aber sind politische Nachrichten, die zu uns her¬ überbringen, wenn schon sie bisher noch nicht in vollem Umfange bestätigt find. Darnach sind bereits in Livland Loslösungsbestrebungen der Letten und Ehlen bemerkbar, wie sie schon in der Revolution von 1905/06 zutage traten. Sollten diese Bestrebungen weiter um sich greifen und mit einer Auflösung der Disziplin in der russischen Nordarmee Hand in Hand gehen, so könnte die Möglichkeit einer militärischen Besetzung Livlands und Estlands in eine Nähe rücken, wie wir es noch vor ganz kurzem kaum zu hoffen, geschweige denn zu erwarten wagten. Ob sie freilich ausgenutzt werden solle und könne, hängt mit den allgemeinen militärischen Dispositionen zusammen, die allein Sache

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/147
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/147>, abgerufen am 12.01.2025.