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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Die baltische Frage und die russische Revolution

es verfehlt, den Unterschied der drei baltischen Territorien allzu scharf zu be¬
tonen. Für Deutschland kommt dieser Unterschied gar nicht in Frage, denn
es handelt sich da im Charakter wie in der Sprache um Abtönungen, für die
überhaupt nur der Einheimische das Ohr besitzt. Dem Reichsdeutschen tritt
nicht der Kurländer, Livländer, Estländer, sondern der Balle als einheitlicher
Menschenschlag gegenüber. Und schon seit der ersten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts hat im Lande selbst eine Entwicklung eingesetzt, die entschlossen dem
gut deutschen Sondersinn entgegenwirkt und das gemeinbaltische Einheitsgefühl
gegenüber dem Territorialpatriotismus stärkt und pflegt.

Es ist bekannt, daß bisher das Deutschbaltentum zahlenmäßig eine kleine
Minderheit im Lande bildete. Trotzdem hat es nicht nur geistig und ökonomisch
die Führung, sondern hat auch in allen Einrichtungen, die es geschaffen und
die dem Land sein soziales Gepräge geben, echt deutschen Geist zum Ausdruck
gebracht. Fortdauernd gedrungen, sich gegen übermächtige Gewalten fremder
Nationalität zu behaupten, haben sich Bürgertum und.Adel dabei fest zusammen¬
geschlossen und sich in Haltung und Art einander so genähert, daß auch der
baltische Pastor oder Professor im modernen Deutschland als halber "Junker"
empfunden wird. Es erübrigt sich hier, das Baltentum gegen die Vorwürfe
zu verteidigen, die sich für manche Schichten des neuen Reiches mit dieser Be¬
zeichnung verbinden. Wer das Baltentum auf dem Boden kennen gelernt hat,
in dessen einmaliger Sonderart es wurzelt, der weiß auch, daß dort der Edel¬
mann soviel bürgerlichen Unabhängig!eitssinn und bürgerliche Berufstüchtigkeit
zeigt, wie der Bürger adligen Stolz und adliges Ehrgefühl. Der baltische
Mensch ist in jener zukunftsträchtigen. aber leider in ihrer vollen geschichtlichen
Auswirkung gehemmten Epoche geboren worden, die der eigentlichen Neuzeit
vorausging. Die Traditionen des bürgerlichen Spätmittelalters, an die der
Freiherr vom Stein, Preußens großer Erneuerer, anzuknüpfen suchte, sind dort
noch unmittelbar lebendig und harren der Überleitung in die Moderne. Gleich
weit von den Extremen reaktionären Starrsinns und westeuropäischen Ultra¬
demokratismus erbten sich in den besten Vertretern des Baltentums die glück¬
lichsten urdeutschen Überlieferungen in aufgeschlossener Empfänglichkeit und
schöpferischer Kraft fort. Alle Kreise des reichsdeutschen Konservativismus und
des entschieden nationalen Liberalismus in denen der gleiche Sinn für ge¬
wachsene Kultur lebt, werden an diesem Baltentum einen treuen Bundes- und
Kampfgenossen gegenüber allen Formen eines geschichtsfeindlichen sozialen und
kulturellen Radikalismus finden-

Dieser einheitlichen baltischen Art steht im dreigliedrigen baltischen Land
-- einstmals als Livland zusammengefaßt -- ein sozial und kulturell gleich¬
artig organisiertes geographisches Gebilde gegenüber. Deutsche Institutionen
auf ursprünglich ständisch-patriarchalischer Grundlage, deutsche Kultursprache
und evangelischer Glaube geben dem baltischen Land eine Geschlossenheit, hinter
der die provinziellen Sonderbedingungen gänzlich zurücktreten. Jedenfalls ist


Die baltische Frage und die russische Revolution

es verfehlt, den Unterschied der drei baltischen Territorien allzu scharf zu be¬
tonen. Für Deutschland kommt dieser Unterschied gar nicht in Frage, denn
es handelt sich da im Charakter wie in der Sprache um Abtönungen, für die
überhaupt nur der Einheimische das Ohr besitzt. Dem Reichsdeutschen tritt
nicht der Kurländer, Livländer, Estländer, sondern der Balle als einheitlicher
Menschenschlag gegenüber. Und schon seit der ersten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts hat im Lande selbst eine Entwicklung eingesetzt, die entschlossen dem
gut deutschen Sondersinn entgegenwirkt und das gemeinbaltische Einheitsgefühl
gegenüber dem Territorialpatriotismus stärkt und pflegt.

Es ist bekannt, daß bisher das Deutschbaltentum zahlenmäßig eine kleine
Minderheit im Lande bildete. Trotzdem hat es nicht nur geistig und ökonomisch
die Führung, sondern hat auch in allen Einrichtungen, die es geschaffen und
die dem Land sein soziales Gepräge geben, echt deutschen Geist zum Ausdruck
gebracht. Fortdauernd gedrungen, sich gegen übermächtige Gewalten fremder
Nationalität zu behaupten, haben sich Bürgertum und.Adel dabei fest zusammen¬
geschlossen und sich in Haltung und Art einander so genähert, daß auch der
baltische Pastor oder Professor im modernen Deutschland als halber „Junker"
empfunden wird. Es erübrigt sich hier, das Baltentum gegen die Vorwürfe
zu verteidigen, die sich für manche Schichten des neuen Reiches mit dieser Be¬
zeichnung verbinden. Wer das Baltentum auf dem Boden kennen gelernt hat,
in dessen einmaliger Sonderart es wurzelt, der weiß auch, daß dort der Edel¬
mann soviel bürgerlichen Unabhängig!eitssinn und bürgerliche Berufstüchtigkeit
zeigt, wie der Bürger adligen Stolz und adliges Ehrgefühl. Der baltische
Mensch ist in jener zukunftsträchtigen. aber leider in ihrer vollen geschichtlichen
Auswirkung gehemmten Epoche geboren worden, die der eigentlichen Neuzeit
vorausging. Die Traditionen des bürgerlichen Spätmittelalters, an die der
Freiherr vom Stein, Preußens großer Erneuerer, anzuknüpfen suchte, sind dort
noch unmittelbar lebendig und harren der Überleitung in die Moderne. Gleich
weit von den Extremen reaktionären Starrsinns und westeuropäischen Ultra¬
demokratismus erbten sich in den besten Vertretern des Baltentums die glück¬
lichsten urdeutschen Überlieferungen in aufgeschlossener Empfänglichkeit und
schöpferischer Kraft fort. Alle Kreise des reichsdeutschen Konservativismus und
des entschieden nationalen Liberalismus in denen der gleiche Sinn für ge¬
wachsene Kultur lebt, werden an diesem Baltentum einen treuen Bundes- und
Kampfgenossen gegenüber allen Formen eines geschichtsfeindlichen sozialen und
kulturellen Radikalismus finden-

Dieser einheitlichen baltischen Art steht im dreigliedrigen baltischen Land
— einstmals als Livland zusammengefaßt — ein sozial und kulturell gleich¬
artig organisiertes geographisches Gebilde gegenüber. Deutsche Institutionen
auf ursprünglich ständisch-patriarchalischer Grundlage, deutsche Kultursprache
und evangelischer Glaube geben dem baltischen Land eine Geschlossenheit, hinter
der die provinziellen Sonderbedingungen gänzlich zurücktreten. Jedenfalls ist


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[0145] Die baltische Frage und die russische Revolution es verfehlt, den Unterschied der drei baltischen Territorien allzu scharf zu be¬ tonen. Für Deutschland kommt dieser Unterschied gar nicht in Frage, denn es handelt sich da im Charakter wie in der Sprache um Abtönungen, für die überhaupt nur der Einheimische das Ohr besitzt. Dem Reichsdeutschen tritt nicht der Kurländer, Livländer, Estländer, sondern der Balle als einheitlicher Menschenschlag gegenüber. Und schon seit der ersten Hälfte des vorigen Jahr¬ hunderts hat im Lande selbst eine Entwicklung eingesetzt, die entschlossen dem gut deutschen Sondersinn entgegenwirkt und das gemeinbaltische Einheitsgefühl gegenüber dem Territorialpatriotismus stärkt und pflegt. Es ist bekannt, daß bisher das Deutschbaltentum zahlenmäßig eine kleine Minderheit im Lande bildete. Trotzdem hat es nicht nur geistig und ökonomisch die Führung, sondern hat auch in allen Einrichtungen, die es geschaffen und die dem Land sein soziales Gepräge geben, echt deutschen Geist zum Ausdruck gebracht. Fortdauernd gedrungen, sich gegen übermächtige Gewalten fremder Nationalität zu behaupten, haben sich Bürgertum und.Adel dabei fest zusammen¬ geschlossen und sich in Haltung und Art einander so genähert, daß auch der baltische Pastor oder Professor im modernen Deutschland als halber „Junker" empfunden wird. Es erübrigt sich hier, das Baltentum gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die sich für manche Schichten des neuen Reiches mit dieser Be¬ zeichnung verbinden. Wer das Baltentum auf dem Boden kennen gelernt hat, in dessen einmaliger Sonderart es wurzelt, der weiß auch, daß dort der Edel¬ mann soviel bürgerlichen Unabhängig!eitssinn und bürgerliche Berufstüchtigkeit zeigt, wie der Bürger adligen Stolz und adliges Ehrgefühl. Der baltische Mensch ist in jener zukunftsträchtigen. aber leider in ihrer vollen geschichtlichen Auswirkung gehemmten Epoche geboren worden, die der eigentlichen Neuzeit vorausging. Die Traditionen des bürgerlichen Spätmittelalters, an die der Freiherr vom Stein, Preußens großer Erneuerer, anzuknüpfen suchte, sind dort noch unmittelbar lebendig und harren der Überleitung in die Moderne. Gleich weit von den Extremen reaktionären Starrsinns und westeuropäischen Ultra¬ demokratismus erbten sich in den besten Vertretern des Baltentums die glück¬ lichsten urdeutschen Überlieferungen in aufgeschlossener Empfänglichkeit und schöpferischer Kraft fort. Alle Kreise des reichsdeutschen Konservativismus und des entschieden nationalen Liberalismus in denen der gleiche Sinn für ge¬ wachsene Kultur lebt, werden an diesem Baltentum einen treuen Bundes- und Kampfgenossen gegenüber allen Formen eines geschichtsfeindlichen sozialen und kulturellen Radikalismus finden- Dieser einheitlichen baltischen Art steht im dreigliedrigen baltischen Land — einstmals als Livland zusammengefaßt — ein sozial und kulturell gleich¬ artig organisiertes geographisches Gebilde gegenüber. Deutsche Institutionen auf ursprünglich ständisch-patriarchalischer Grundlage, deutsche Kultursprache und evangelischer Glaube geben dem baltischen Land eine Geschlossenheit, hinter der die provinziellen Sonderbedingungen gänzlich zurücktreten. Jedenfalls ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/145>, abgerufen am 12.01.2025.