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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Die baltische Frage und die russische Revolution

Zeugnis militärischer Autoritäten belegt. Im übrigen sind hier nicht nur die
Kenner des Landkrieges, sondern auch die Fachleute der Marine zu hören.
Und für diese ist noch klarer, daß eine deutsche Seegeltung in der Ostsee nach
althanseatischer Überlieferung nicht möglich ist, wenn die Hälfte des Rigaschen
Meerbusens in russischem Hoheitsbereich bleibt. Dabei ist noch gar nicht einmal
mit der Tatsache gerechnet, daß es dem rücksichtslosen englischen Machtwillen
bei der Schwäche des revolutionierten Rußland gelingen könnte, sich doch noch
auf den Ostseeinseln und in den nördlichen baltischen Provinzen einzunisten.
Welche Bedrohung allen übrigen Ostseestaaten dies englische Geschwür am
Körper Europas bedeuten müßte, ist wohl selbst dem Harmlosesten offensichtlich.

Soweit der strategische Gesichtspunkt. An zweite Stelle tritt der national¬
politische. Bekanntlich wird das baltische Land zur Hälfte von einer lettischen.
Zur Hälfte von einer chemischen Urbevölkerung und sozialen Unterschicht bewohnt.
Die Sprachgrenze geht mitten durch Livland, würde also lediglich Kurland
dem Deutschen Reich einverleibt, so wäre mit einem Male eine lettische Jrredenta
geschaffen, die als Ferment einer fortdauernden Gärung wirken würde. In
Kurland sind gegenwärtig selbst die einheimischen deutschen Kreise erstaunt,
wieviele Letten jetzt mit einem Male deutsch können, die diese Kenntnis in den
letzten Jahrzehnten hartnäckig verleugnet haben. Ebenso sind unsere zum Teil
feldgrauen Lehrer überrascht, mit welcher Leichtigkeit in den neueröffneten
deutschen Volksschulen die Lettenkinder die deutsche Sprache erlernen. Diese
Erfahrungen geben guten Grund zur Hoffnung, daß der deutschen Sprache die
völlige Herrschaft im Lande schnell wiedergewonnen und ihre Geltung bald
dadurch noch erweitert werden kann, böß durch deutsche Einwanderung
(Kolonisten aus dem inneren Rußland und Krieger) das deutsche Element auch
rein zahlenmäßig zur Übermacht erhoben wird. Als günstiger Umstand kommt
dem entgegen, daß ein namhafter Prozentsatz der Letten mit den zurückflutenden
russischen Truppen geflohen ist.

Alle diese Hoffnungen einer gedeihlichen Entwicklung würden durchkreuzt,
wenn dicht vor den Toren der zurückgewonnenen deutschen Kolonie im lettischen
Teil Livlands eine Absplitterung des lettischen Stammes sich dem deutschen
Einfluß entziehen und so vom Russentum zur ständigen Beunruhigung des
Deutschtums auch in Kurland benutzt werden könnte. Das muß unbedingt
vermieden werden, und deshalb ist eine Angliederung des gesamten baltischen
Landes vom nationalpolitischen Gesichtspunkt entschieden zu fordern. Diese
Einstellung weist aber noch weiter. Auch das baltische Deutschtum selber kommt
für eine solche Betrachtung in Frage. Dieses hat sich vom Ursprungsort der
Kolonisation. Riga, strahlenförmig im Land ausgedehnt. Deshalb bedeutet
Livland, das den Kern des Baltikums bildet, nicht nur geographisch, sondern
auch kulturell und ökonomisch insofern den Mittelpunkt des Landes, als dorß
die bedeutendste Handels- und Industriestadt Riga und das geistige Zentrum-
des Baltikums, die Universitätsstadt Dorpat, gelegen sind. Überhaupt aber ist-


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Die baltische Frage und die russische Revolution

Zeugnis militärischer Autoritäten belegt. Im übrigen sind hier nicht nur die
Kenner des Landkrieges, sondern auch die Fachleute der Marine zu hören.
Und für diese ist noch klarer, daß eine deutsche Seegeltung in der Ostsee nach
althanseatischer Überlieferung nicht möglich ist, wenn die Hälfte des Rigaschen
Meerbusens in russischem Hoheitsbereich bleibt. Dabei ist noch gar nicht einmal
mit der Tatsache gerechnet, daß es dem rücksichtslosen englischen Machtwillen
bei der Schwäche des revolutionierten Rußland gelingen könnte, sich doch noch
auf den Ostseeinseln und in den nördlichen baltischen Provinzen einzunisten.
Welche Bedrohung allen übrigen Ostseestaaten dies englische Geschwür am
Körper Europas bedeuten müßte, ist wohl selbst dem Harmlosesten offensichtlich.

Soweit der strategische Gesichtspunkt. An zweite Stelle tritt der national¬
politische. Bekanntlich wird das baltische Land zur Hälfte von einer lettischen.
Zur Hälfte von einer chemischen Urbevölkerung und sozialen Unterschicht bewohnt.
Die Sprachgrenze geht mitten durch Livland, würde also lediglich Kurland
dem Deutschen Reich einverleibt, so wäre mit einem Male eine lettische Jrredenta
geschaffen, die als Ferment einer fortdauernden Gärung wirken würde. In
Kurland sind gegenwärtig selbst die einheimischen deutschen Kreise erstaunt,
wieviele Letten jetzt mit einem Male deutsch können, die diese Kenntnis in den
letzten Jahrzehnten hartnäckig verleugnet haben. Ebenso sind unsere zum Teil
feldgrauen Lehrer überrascht, mit welcher Leichtigkeit in den neueröffneten
deutschen Volksschulen die Lettenkinder die deutsche Sprache erlernen. Diese
Erfahrungen geben guten Grund zur Hoffnung, daß der deutschen Sprache die
völlige Herrschaft im Lande schnell wiedergewonnen und ihre Geltung bald
dadurch noch erweitert werden kann, böß durch deutsche Einwanderung
(Kolonisten aus dem inneren Rußland und Krieger) das deutsche Element auch
rein zahlenmäßig zur Übermacht erhoben wird. Als günstiger Umstand kommt
dem entgegen, daß ein namhafter Prozentsatz der Letten mit den zurückflutenden
russischen Truppen geflohen ist.

Alle diese Hoffnungen einer gedeihlichen Entwicklung würden durchkreuzt,
wenn dicht vor den Toren der zurückgewonnenen deutschen Kolonie im lettischen
Teil Livlands eine Absplitterung des lettischen Stammes sich dem deutschen
Einfluß entziehen und so vom Russentum zur ständigen Beunruhigung des
Deutschtums auch in Kurland benutzt werden könnte. Das muß unbedingt
vermieden werden, und deshalb ist eine Angliederung des gesamten baltischen
Landes vom nationalpolitischen Gesichtspunkt entschieden zu fordern. Diese
Einstellung weist aber noch weiter. Auch das baltische Deutschtum selber kommt
für eine solche Betrachtung in Frage. Dieses hat sich vom Ursprungsort der
Kolonisation. Riga, strahlenförmig im Land ausgedehnt. Deshalb bedeutet
Livland, das den Kern des Baltikums bildet, nicht nur geographisch, sondern
auch kulturell und ökonomisch insofern den Mittelpunkt des Landes, als dorß
die bedeutendste Handels- und Industriestadt Riga und das geistige Zentrum-
des Baltikums, die Universitätsstadt Dorpat, gelegen sind. Überhaupt aber ist-


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[0144] Die baltische Frage und die russische Revolution Zeugnis militärischer Autoritäten belegt. Im übrigen sind hier nicht nur die Kenner des Landkrieges, sondern auch die Fachleute der Marine zu hören. Und für diese ist noch klarer, daß eine deutsche Seegeltung in der Ostsee nach althanseatischer Überlieferung nicht möglich ist, wenn die Hälfte des Rigaschen Meerbusens in russischem Hoheitsbereich bleibt. Dabei ist noch gar nicht einmal mit der Tatsache gerechnet, daß es dem rücksichtslosen englischen Machtwillen bei der Schwäche des revolutionierten Rußland gelingen könnte, sich doch noch auf den Ostseeinseln und in den nördlichen baltischen Provinzen einzunisten. Welche Bedrohung allen übrigen Ostseestaaten dies englische Geschwür am Körper Europas bedeuten müßte, ist wohl selbst dem Harmlosesten offensichtlich. Soweit der strategische Gesichtspunkt. An zweite Stelle tritt der national¬ politische. Bekanntlich wird das baltische Land zur Hälfte von einer lettischen. Zur Hälfte von einer chemischen Urbevölkerung und sozialen Unterschicht bewohnt. Die Sprachgrenze geht mitten durch Livland, würde also lediglich Kurland dem Deutschen Reich einverleibt, so wäre mit einem Male eine lettische Jrredenta geschaffen, die als Ferment einer fortdauernden Gärung wirken würde. In Kurland sind gegenwärtig selbst die einheimischen deutschen Kreise erstaunt, wieviele Letten jetzt mit einem Male deutsch können, die diese Kenntnis in den letzten Jahrzehnten hartnäckig verleugnet haben. Ebenso sind unsere zum Teil feldgrauen Lehrer überrascht, mit welcher Leichtigkeit in den neueröffneten deutschen Volksschulen die Lettenkinder die deutsche Sprache erlernen. Diese Erfahrungen geben guten Grund zur Hoffnung, daß der deutschen Sprache die völlige Herrschaft im Lande schnell wiedergewonnen und ihre Geltung bald dadurch noch erweitert werden kann, böß durch deutsche Einwanderung (Kolonisten aus dem inneren Rußland und Krieger) das deutsche Element auch rein zahlenmäßig zur Übermacht erhoben wird. Als günstiger Umstand kommt dem entgegen, daß ein namhafter Prozentsatz der Letten mit den zurückflutenden russischen Truppen geflohen ist. Alle diese Hoffnungen einer gedeihlichen Entwicklung würden durchkreuzt, wenn dicht vor den Toren der zurückgewonnenen deutschen Kolonie im lettischen Teil Livlands eine Absplitterung des lettischen Stammes sich dem deutschen Einfluß entziehen und so vom Russentum zur ständigen Beunruhigung des Deutschtums auch in Kurland benutzt werden könnte. Das muß unbedingt vermieden werden, und deshalb ist eine Angliederung des gesamten baltischen Landes vom nationalpolitischen Gesichtspunkt entschieden zu fordern. Diese Einstellung weist aber noch weiter. Auch das baltische Deutschtum selber kommt für eine solche Betrachtung in Frage. Dieses hat sich vom Ursprungsort der Kolonisation. Riga, strahlenförmig im Land ausgedehnt. Deshalb bedeutet Livland, das den Kern des Baltikums bildet, nicht nur geographisch, sondern auch kulturell und ökonomisch insofern den Mittelpunkt des Landes, als dorß die bedeutendste Handels- und Industriestadt Riga und das geistige Zentrum- des Baltikums, die Universitätsstadt Dorpat, gelegen sind. Überhaupt aber ist- 9«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/144>, abgerufen am 12.01.2025.